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Geleitwort: Wenn du das Virus aushalten willst, richte dich auf den Widerstand ein – ein philosophischer Kommentar Olivier Del Fabbro

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1910, im Antlitz des 1. Weltkrieges, schreibt der US-amerikanische Philosoph, Psychologe und Arzt William James einen Aufsatz mit dem Titel The Moral Equivalent of War – Das moralische Äquivalent des Krieges (James 1987). James behauptet hier, dass die Geschichte ein Blutbad ist – »History is a bath of blood« (James 1987, S. 1282). Die Aussage bezieht sich auf die brutale und grausame Menschheitsgeschichte, die zahlreichen Kriege, Revolutionen und bewaffneten Kämpfe jeglicher Art.

James’ Essay will dem Krieg den Krieg erklären. Doch auch wenn James sich als Pazifist sieht, ist er nicht ›naiv‹, wie er selbst zugibt. Er weiß nur zu gut, dass Kriegsbefürworter sich nicht von Friedensrhetorik überzeugen lassen. Patriotismus oder Skepsis am ›Gutmenschentum‹, wie man heute sagt, sind zu tief im Idealismus solcher Kriegsbefürworter verankert. Wie aber sollen letztere überzeugt werden?

James sieht zwei Möglichkeiten. Erstens muss man in den kriegerischen Tugenden, wie zum Beispiel der Furchtlosigkeit und dem Gehorsam von Befehlen, Werte sehen, die es auch heute noch zu verteidigen gilt. Und zweitens lassen sich diese Werte ohne Probleme auf den zivilen Alltag übertragen. Das Leben, so James, ist hart. Menschen schuften und erleiden alltäglich Schmerzen. Heroisch wird deswegen nicht mehr nur gegen eine gegnerische Armee gekämpft, sondern ganz allgemein gegen die Natur. Fensterputzer und Tellerwäscher, Minenarbeiter und Straßenbauer, sie alle, so James weiter, bezahlen ihre Blutsteuer im alltäglichen Kampf gegen die Natur.

Seit Beginn des Jahres 2020 wurde dies wieder besonders deutlich. Bereits kurz nach dem Ausbruch der Pandemie wurde kriegsmetaphorisch gesprochen: Macron, Trump und sogar der Papst äußerten sich über die Pandemie als Kriegssituation und bezeichneten das Virus als Gegner, den es zu bekämpfen gilt, wobei Ärzte und Pflegekräfte die Soldaten sind, die an der Front kämpfen (Del Fabbro 2020, S. 16 f.). Doch mittlerweile kämpfen, nach den vielen Restriktionen und unzähligen Ausgangssperren, nicht mehr nur Ärzte und Pflegekräfte an der Front, auch der Alltagsbürger und die Bevölkerung selbst befinden sich im Krieg. Die deutsche und die südkoreanische Regierung zum Beispiel versuchen mit Videokampagnen die Bürger ihres Landes, mal ironisch mit Witz und sarkastisch als Faulpelz auf der Couch (Bundesregierung 2020), mal als heldenhafte Kämpfer begleitet von dramatischer Musik (KCIS 2020), zu stilisieren und anzusprechen. Ersteres tritt wohl jenen zu Nahe, die an der Isolation, aus welchen Gründen auch immer, leiden. »Nichts tun«, wie es im Video heißt, ist nicht immer lustig. Das südkoreanische Video erscheint eher wie ein Propaganda-Video, das versucht, Leid und Elend angesichts der alltäglichen hochstilisierten Helden unter den Teppich zu kehren. Zur Propaganda dient auch die seit Winter 2020 installierte Ausstellung in Wuhan, die die Bekämpfung des Virus seitens der kommunistischen Partei Chinas glorifizierend darstellt (Wurzel 2020).

Doch wer in den Krieg zieht, benötigt realistisch betrachtet weit mehr als nur Ideologie, kriegerische Tugenden oder Witz. Es benötigt auch Handfestes wie logistische Organisation, Strategie, Material, heute wie immer schon die jeweils verfügbaren hochtechnologischen Waffen, gut ausgebildete Soldaten. Die Kriegsgeschichte lehrt uns, dass derjenige mit den besseren Waffen und der schlaueren Strategie gewinnt und nicht Moral oder Ideologie (Morris 2015). Doch wie schützen Menschen sich gegen die sie bedrohende Natur? Wie passen sie sich dieser Bedrohung an? Welche Strategie entwickeln sie?

Solche Probleme werden heute nicht individuell, sondern strukturell, d. h. institutionell angegangen. Von Ministerien oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis hin zu Krankenhäusern und Altenheimen. Egal, wie diese Institutionen konkret organisiert sind, sie alle haben eine duale Machtstruktur, die sich von der Makrostruktur der Entscheidungsträger bis zur Mikrostruktur der einzelnen vor Ort operierenden Akteure durchzieht. Je mehr eine Institution auf ihre auf dem Feld Operierenden hört, weil diese am meisten Einblick in die Sachlage haben, desto pragmatischer, will heißen: anpassungsfähiger an neue Problemlagen ist sie (Ansell 2011). Es geht also nicht darum, Hierarchien aufzulösen, sondern Entscheidungsträger, d. h. Manager, Generäle und Politiker davon zu überzeugen, dass der einzelne Soldat, Arzt, Pfleger auf dem Schlachtfeld keine passive Marionette, sondern ein aktiver Bestandteil des funktionierenden Apparates ist.

Als Institution ist die WHO damit unmittelbar an die Erfahrungen und Berichte der Ärzte und Pfleger vor Ort gebunden, und genau das ist auch beim Auftauchen des Virus in Wuhan passiert. Nur hat die chinesische Regierung als Vermittlerin zwischen Ärzten und WHO hier zunächst die Ansteckungsgefahr von Corona heruntergespielt und vertuscht – trotz Warnung der Ärzte – und im wahrsten Sinne des Wortes nichts getan (Mitchell et al. 2020). Donald Trump, der die Chinesen in allen möglichen Aspekten angreift, tritt diesbezüglich in das genau gleiche Fettnäpfchen: Auf der einen Seite die öffentliche Diskreditierung der eigenen wissenschaftlichen Beratergruppe rund um den mittlerweile bekannten Arzt und Immunologen Anthony Fauci und die Wissenschaft per se (Viglione 2020). Auf der anderen Seite das Ignorieren derselben Berater und die Unterminierung ihrer Partizipation in Sachen Entscheidungen durch Trumps Corona-Task-Force-Koordinatorin Deborah Birx (Piller 2020).

Doch während Politiker und hohe Beamte ihre Machtkämpfe unter sich austragen, sendet CNN mehrfach Berichte von in Tränen aufgelösten Ärzten und Pflegern, die sich entweder selbst infiziert und dadurch im Krankenhaus isoliert seit Monaten ihre Familie nicht mehr gesehen haben oder die von ihren Erfahrungen mit allein sterbenden Personen berichten (CNN New Day 2020a; CNN New Day 2020b; CNN News 2020). In Europa scheinen Politiker im Vergleich zu den USA und China mehr auf die Wissenschaftler zu hören. Dennoch hat es auch in der norditalienischen Lombardei, dem ersten Krisenherd in Europa, an Allgemeinmedizinern vor Ort gefehlt, die Krankenhäuser hätten vorwarnen können (Johnson und Ghiglione 2020). Zudem tauchen immer mehr Berichterstattungen des müden und überstrapazierten Pflegepersonals auf (Brotz 2020). Sollte beispielweise die Situation in Belgien eintreten, dass das Gesundheitssystem überfordert sein wird und nicht mehr alle Patienten aufgenommen werden können, so eine belgische Pflegerin schluchzend, muss über Leben und Tod entschieden werden (Matthaei und Wellenzohn 2020). Wie im ›richtigen‹ Krieg also. Wie soll man mit einer solchen Entscheidung leben können, fragt die Pflegerin mit Tränen in den Augen: »Je ne sais pas« – »Ich weiß es nicht«, so ihre Antwort …

Ärzte und Pflegekräfte am Anschlag, in Isolation Alleinsterbende, Wissenschaftlern misstrauende Politiker und so weiter und so fort – ist die Welt aus den Fugen? Befinden wir uns im Chaos?

Der Krieg gegen die Natur, so Bruno Latour in Face à Gaïa, bleibt nur dann ein Naturzustand im Hobbesschen Sinn, wenn kein Gesellschaftsvertrag mit der Natur abgeschlossen wird (Latour 2015). Mit anderen Worten: Nicht-menschliche Akteure, wie das neuartige Coronavirus, müssen einen repräsentativen Platz in unserer politischen und juristischen Landschaft erhalten – ein sogenanntes Parlament der Dinge – und zum Teil haben sie diesen Platz auch. Wenn die in der Öffentlichkeit stehenden Virologen und Immunologen à la Anthony Fauci, Christian Drosten, Hendrik Streeck, Anders Tegnell, Pflegekräfte und Ärzte, Patienten und Infizierte, sich momentan zu Wort melden, dann sprechen sie im Namen des Virus, was es angerichtet hat und wie es zukünftig wahrscheinlich handeln wird und sie informieren die Öffentlichkeit – die res publica – darüber, was Fakten und mögliche Szenarien sind. Politik, Gesellschaft und das soziale Leben an sich geraten dort in Gefahr, wo dieser Dialog zwischen Mikro- und Makrostruktur nicht mehr möglich ist, der Zugang zur öffentlichen Debatte versperrt wird und politische Entscheidungen damit nur noch einer Handvoll Akteuren überlassen wird.

Der Kriegsveteran Karl Marlantes, der seine Erfahrungen aus dem Vietnamkrieg in What it is like to go to war festgehalten hat, plädiert für einen aufgeklärten Umgang mit dem Krieg (Marlantes 2011). Zwischen Krieg, Liebe, Sex, Frieden und Gerechtigkeit herrscht die Harmonie, die eine Vermittlerposition zwischen all diesen Aspekten einnimmt. Vielleicht hilft diese Perspektive auch in Zukunft als Vorbereitung für einen aufgeklärten Umgang im Krieg gegen die Natur. Natürliche Agenten werden im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Mächten immer brutaler, angriffslustiger, wandlungsfähiger und gnadenloser (Gill 2020). Vielleicht sollte der Mensch darüber nachdenken, wie er seinen natürlichen Gegnern in Zukunft überlegter, besonnener und das bedeutet in der aktuellen Lage des Klimawandels wohl auch friedlicher entgegentreten kann. Ein Anfang würde darin bestehen, seine eignen Reihen so zu organisieren, dass die Kriegsführung agiler, anpassungsfähiger, weniger sklerotisch, weniger grausam und damit schließlich auch gerechter zugeht.

Wenn wir heute glauben, im Krieg mit der Natur als ganzer zu sein, weil Corona ausgebrochen ist, dann lehrt uns James’ Essay auch, dass wir eigentlich immer schon im Krieg mit den natürlichen Agenten waren und es eben wohl auch immer sein werden. Nicht nur der Corona-Infizierte und die Pflegekraft auf der Intensivstation, sondern auch der Krebskranke und der Grundschullehrer ›kämpfen‹ und leisten Widerstand. Damit wird eigentlich jeder alltägliche Atemzug zu einem Kampf, der, so Arthur Schopenhauer, den »beständig eindringenden Tod« abwehrt (Schopenhauer 1986, S. 427). Letztlich aber, so Schopenhauer weiter, weiß jeder zur Reflexion fähige Mensch, dass der Tod über das Leben siegen wird: »[…] er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie verschlingt.« (Schopenhauer 1986, S. 427) Schopenhauers Pessimismus ist kaum zu übertreffen, doch lässt sich mit Sigmund Freud, im Angesicht des lauernden Todes, der Gewalt und schlussendlich auch des Krieges, Schopenhauers Pessimismus ummünzen. Da für Freud das Leben zu ertragen die Pflicht aller Lebenden ist, schlägt er vor, das lateinische Sprichwort »Si vis pacem, para bellum – Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Kriege« umzuändern in »Si vis vitam, para mortem – Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein« (Freud 1974, S. 60).

Vielleicht ist in der jetzigen Zeit eine weitere Umformulierung vonnöten: Wenn du das Virus aushalten willst, richte dich auf den Widerstand ein.

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