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Verlorene Zeiten? - Vorwort
ОглавлениеDDR-Lebensgeschichten im Rückblick
Kaum jemand weinte dem SED-Regime eine Träne nach, als es 1989/90 sang- und klanglos unterging. Mit der DDR verschwand jedoch auch die Alltagsund Lebenswelt von über 16 Millionen Menschen – der soziale und normative Bezugsrahmen also, in dem ihre bisherige Biografie ,Sinn gehabt‘ hatte.
Erscheint das vergangene Leben in der DDR rückblickend manchmal als verlorene Zeit? Diese Frage haben wir einstigen DDR-Bürger_innen am Ende der biografischen Interviews gestellt, die in diesem Buch versammelt sind. Unabhängig von ihrer jeweiligen Einstellung zum SED-Regime haben fast alle diese Frage entschieden, manchmal sogar empört verneint: Die DDR habe sie geprägt und sei elementarer Bestandteil ihres Lebens gewesen. Bemerkenswerterweise erschien dennoch niemand überrascht von unserer Frage – spielte sie doch selbstverständlich‘ auf eine Erfahrung an, die viele Ostdeutsche im Zuge des Systemwechsels gemacht haben: sich völlig neu orientieren zu müssen und im Zuge dessen festzustellen, dass die eigene Sozialisation in der bundesrepublikanischen Lebenswelt defizitär erscheint.
Bereits in der alten Bundesrepublik hatte man trotz aller Sonntagsreden offenbar kein besonderes Interesse daran, etwas über den Alltag ,drüben‘ zu erfahren. Darauf jedenfalls deuten zahlreiche Reiseführer hin, in denen Westdeutsche ausdrücklich zu Offenheit und Unvoreingenommenheit gegenüber DDR-Bürger_innen angehalten wurden. So gab etwa ein „Leitfaden für Studienreisen in die DDR“ zu bedenken: „Der Alltag in der DDR sieht anders aus als bei uns. […] Es gibt zahllose Unterschiede, die von uns Reisenden am Standard der Bundesrepublik gemessen werden. Dabei läuft der Bundesbürger Gefahr, eine überhebliche Position einzunehmen und damit die Menschen, denen er begegnet, zu verletzen, sie zu kränken mit oberflächlichen Bemerkungen.“ 1 Andernorts wurden bereits „Zehn Gebote zum Umgang mit den anderen Deutschen“ aufgestellt, wobei nachdrücklich dazu aufgefordert wurde, zwischen unterschiedlichen Kontakten in der DDR zu differenzieren und im Zweifelsfall lieber einmal bei Einheimischen nachzufragen, anstatt immer schon alles zu ,wissen‘. 2 Wer sich allerdings entsprechend bescheiden und interessiert verhalte, versprach ,Anders Reisen DDR‘, werde mit ,überraschenden‘ Einsichten belohnt: „Auch hier versetzt die Vielfalt der Ansichten, der Charaktere, der Lebensstile, der Träume jeden Westler in Erstaunen.“ 3
Diese eigentlich wenig erstaunliche Vielfalt von möglichen Lebenswegen und subjektiven Positionierungen innerhalb der DDR-Gesellschaft hat im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik auch heute noch zu wenig Platz – in dieser Hinsicht kann vielleicht tatsächlich von ,verlorenen‘ Zeiten gesprochen werden: Zwischen generalisierenden Reizworten wie ,Unrechtsstaat‘ oder ,Ostalgie‘ geht Widersprüchliches und Uneindeutiges immer wieder verloren. So bleibt wenig Raum für Erklären und Verstehen (was nicht mit Gutheißen oder Rechtfertigen zu verwechseln ist). Das viel beschworene ,Lernen aus der Geschichte‘ hieße allerdings, sich ein komplexeres Bild davon machen zu wollen, wie sich SED-Regime und DDR-Gesellschaft über einen Zeitraum von 40 Jahren Tag für Tag reproduzierten. Dazu wiederum müsste man neben Ideologie und (Macht-)Strukturen auch die in der DDR-Gesellschaft lebenden und handelnden Menschen und ihre jeweiligen Erfahrungen in den Blick nehmen.
Zwanzig Jahre nach dem Untergang der DDR will der vorliegende Text- und Bildband solchen subjektiven Erfahrungsgeschichten 4 beispielhaft nachspüren. Er versammelt Biographien, die schon in sich selber, vor allem aber in der Kombination miteinander, sehr viel weniger eindeutig ausfallen als die verabsolutierenden Schlagwörter in der öffentlichen Debatte. Zu Wort kommen dabei Männer und Frauen aus unterschiedlichen Generationen, neben ganz normalen Bürger_innen wie der Altenpflegerin Heike Zech oder dem Modellbauer Peter Kaiser auch prominentere Stimmen wie der SED-Funktionär Hans Modrow und André Herzberg, Sänger der Rockband Pankow. Ähnlich heterogen ist das politisch-ideologische Spektrum, in dem sich unsere Protagonist_innen zu DDR-Zeiten verortet haben: Es reicht von Aktivisten und Parteifunktionären der ersten Stunde über die ,unauffällige Mehrheit‘ bis hin zu (damals) jugendlichen ,Rebellen‘, Oppositionellen und einem Republikflüchtling. Dabei greifen derartige Kategorisierungen insofern zu kurz, als sich auch innerhalb einzelner Biografien immer wieder politische Brüche oder Lernprozesse auffinden lassen. Die Interviewpartner_innen wurden von den Autor_innen gemeinsam ausgewählt. Wichtigstes Kriterium war dabei zunächst einmal unsere persönliche Neugier auf bestimmte Menschen, deren Sicht auf die DDR uns besonders interessierte: weil sie einen außergewöhnlichen Aspekt der DDR-Geschichte zu ,verkörpern schienen‘, weil uns ihre Biografie besonders ,ungewöhnlich‘ oder besonders ,typisch‘ erschien.
In den daraufhin geführten Interviews ging es nicht darum, irgendeine ,objektive‘ Wahrheit über die betreffenden Personen und ihre Rolle in der DDR herauszufinden. Ebenso wenig stellten wir uns vor, ein längst vergangenes Alltagsleben authentisch rekonstruieren zu können. Vielmehr haben wir ganz bewusst Lebensgeschichten erfragt: Wir wollten wissen, wie unsere Interviewpartner_innen ihre DDR-Erfahrung aus heutiger Sicht darstellen und reflektieren, welche Bedeutung sie der DDR innerhalb der eigenen Biografie zuweisen. Dabei waren wir an kontroversen Sichtweisen interessiert, nicht aber an Repräsentativität. Denn die Frage nach dem jeweiligen „Eigensinn nimmt die Fährte in die Unübersichtlichkeiten der Verhaltensweisen der Einzelnen auf – jenseits aller Fixierung auf eine umfassende Logik ,der‘ Geschichte […]“ 5 . In diesem Sinne ging es uns um subjektive Perspektiven auf die DDR und auch darum, welchen Sinn unsere Gesprächspartner_innen ,ihrer‘ DDR-Geschichte über den Systemwechsel hinaus verleihen. Nicht zuletzt wollten wir von ihnen erfahren, wie sie ,Wende‘ und ,Wiedervereinigung‘ erlebt haben, wie ihr Leben im neuen Land weitergegangen ist.
„Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ 6 – mit diesem viel zitierten Satz verwies Karl Marx auf die Wechselwirkung zwischen den jeweils bestehenden historischen Strukturen und subjektiven bzw. kollektiven Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten. Letztlich war es dieses Spannungsfeld, das wir gemeinsam mit unseren Gesprächspartner_innen ausgelotet haben: Welches war die Situation, die unsere Interviewpartner_innen zunächst vorgefunden haben – nicht nur historisch, sondern auch familiär? Welche frühen Erfahrungen und Prägungen wurden für sie bedeutsam? Wie wurden sie sozialisiert und welche privaten, beruflichen und dezidiert politischen Entscheidungen haben sie getroffen? Welche Handlungsspielräume gab es, welche konnten sie sich (nicht) eröffnen? Haben sie sich den jeweils vorgefundenen historischen und gesellschaftlichen Konstellationen mehr oder weniger passiv ausgesetzt gefühlt, oder sind sie auch ihrerseits politisch und/ oder gesellschaftlich aktiv geworden? Wie haben sie den Systemwechsel 1989/90 erfahren und bewältigt?
Die Interviews wurden anhand eines einheitlichen Leitfadens zu Kindheit und familiärem Hintergrund, früher Sozialisation und Erwachsenenleben in der DDR und zu ,Wende‘- und ,Nachwende‘-Erfahrung geführt. Dabei blieb den Interviewer_innen jedoch Raum für thematische Schwerpunktsetzungen. Die Gespräche dauerten in der Regel zwei bis vier Stunden und wurden anschließend gekürzt und redaktionell bearbeitet. Am Ende wurden sie von den jeweiligen Gesprächspartner_innen gegengelesen und autorisiert. Als eigene Form der ,Befragung‘ sind die Porträtfotografien von Monique Ullrich zu verstehen: Die Fotografin traf sich mit den Protagonist_innen und machte vor Ort ihre künstlerischen Beobachtungen. Im vorliegenden Buch stehen 18 lebensgeschichtliche Porträts, Momentaufnahmen in Wort und Bild, unvermittelt nebeneinander – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Zusammen gelesen treten sie in einen spannungsreichen Austausch, sie scheinen sich zu ergänzen und zu widersprechen, zu konterkarieren und zu relativieren. Das Urteilen überlassen wir bewusst den Leser_innen – unsere Aufgabe sehen wir nicht darin, Lebensgeschichten zu bewerten, sondern Lebensgeschichten zunächst einmal zu generieren und nachvollziehbar zu machen.
Wir möchten allen danken, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben: Zunächst natürlich unseren Interviewpartner_innen für ihre Zeit und das Vertrauen, das sie uns entgegen gebracht haben; außerdem unseren Mitautor_innen für ihr Engagement und ihre Geduld im Redaktionspro- zess. Besonderen Dank schulden wir Claudia Beier, Stefanie Borgmann, Steffi Kühnel, Martha Krüger und James McSpadden für die Transkription der Interviews. Uwe Sonnenberg half mit Rat, Tat und weiterführenden Kontakten. Schließlich gilt unser Dank der Hans-Böckler-Stiftung, die eine der Her- ausgeber_innen mit einem dreimonatigen Stipendium unterstützte.
Cornelia Siebeck, Alexander Thomas,
Alexander Schug
1 Hans Rau: Vorbereitung von Studienreisen in die DDR, in: Materialien zur Politischen Bildung. Analysen, Berichte, Dokumente 1 (1985), S. 85.
2 Zehn Gebote zum Umgang mit den anderen Deutschen, in: Werner Filmer/Heribert Schwan: Alltag im anderen Deutschland, Düsseldorf 1985, S. 325-330.
3 Per Ketmann/Andreas Wissmach: Anders Reisen DDR. Ein Reisebuch in den Alltag, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 15 ff.
4 Zur ,Erfahrungsgeschichte‘ und deren Verhältnis zur Sozial- und Ereignisgeschichte vgl. klassischerweise Lutz Niethammer: Fragen – Antworten – Fragen, in: „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern. Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930-1960, Bd. 3, Berlin/Bonn 1985, S. 392-445.
5 Alf Lüdtke: Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 139-153, hier S. 146.
6 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Ders./Friedrich Engels: Gesammelte Werke, Bd. 8, Berlin (Ost) 1960), S-111-207, hier S. 115.