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Kurt Pätzold „Mir kamen stets die Historiker lächerlich vor, die sich über Geschichte beschweren.“ - Kurt Pätzold, geboren 1930

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Der ,Erziehungsdiktator‘ – so nennt der Historiker Kurt Pätzold sich selbst in seinen Erinnerungen. 1 Pätzold schlug nach 1989 viel Feindschaft entgegen. An der Berliner Humboldt-Universität wurde er wegen seiner Beteiligung an so genannten Relegationen zwischen 1968 und 1976 heftig angegriffen.

Damals waren junge Menschen wegen ihrer Sympathien mit dem ,Prager Frühling‘ von der Universität geworfen worden. Pätzold hatte jedoch nicht ihren Rauswurf, sondern mit „studienverschärfenden Sondermaßnahmen“ ein fachlich anspruchsvolleres Studium gefordert. Pätzold war stets umstritten – schon während seiner Studentenzeit in Jena. Das Schicksal des Jenenser Historikers Karl Griewank in den 1950er Jahren sorgt bis heute für den Vorwurf, dessen kommunistische Studenten hätten ihn geradezu in den Selbstmord getrieben. 2 Nach 1989 bot Pätzold zahlreiche Angriffsflächen, denn er war nicht nur ein akribischer Wissenschaftler, sondern seit seiner Jugend auch ein scharfzüngiger politischer Agitator. Zudem ging er nach dem Systemwechsel nicht in Deckung, sondern entschuldigte und verteidigte sich beredsam.

Pätzold, ein marxistischer Hardliner? Als Historiker ist Pätzolds Spezialgebiet die Zeit zwischen 1933 und 1945 in Deutschland, die Zeit des Faschismus‘. Hier erforschte er insbesondere die Vorgeschichte der Morde an den europäischen Juden. Er versuchte, den Zusammenhang zwischen dem kühlen, imperialistischen Interesse der kapitalistischen Gesellschaft und der wahnhaften Verfolgung und Vernichtung der Juden nachzuweisen. Auch einige westdeutsche, britische und amerikanische Historiker setzten sich mit seiner marxistischen Deutung auseinander, sodass es bei der Deutung des Holocaust zu erstaunlichen Annäherungen zwischen Ost und West kam.

Kurt Pätzold erwies sich als liebenswürdiger, auskunftsfreudiger älterer Herr, der sich bei einer Tasse Kaffee gern lange und intensiv befragen ließ. Schon in seiner Autobiografie hat mich die Bereitschaft beeindruckt, auch Rechenschaft über menschliche Fehler und politische Irrtümer abzulegen – selbst wenn mich angesichts seiner ungebrochenen Freude an provokativen Formulierungen wieder Unbehagen beschlich: Was würden die wütenden Studenten von damals dazu sagen? Da ich mir bewußt war, in dem Gespräch nicht die Wahrheit über diese Vorgänge ermitteln zu können, wollte ich vor allem wissen: Wie wurde man nach 1945 ausgerechnet Kommunist und politischer Kämpfer für eine Partei wie die SED? Und warum wurde Pätzold letztlich doch nicht Politiker, sondern Historiker? – Wir sitzen am Fenster eines Berliner Altbaus, in einem Raum mit Tisch und Stühlen, einem Bett und der unvermeidlichen Menge an Büchern.

„Von Anfang an wurde mir bedeutet: Das ist nicht unser Krieg.“

Drei Jahre nach Ihrer Geburt kamen die Nationalsozialisten an die Macht, als Sie neun Jahre alt waren begann der Zweite Weltkrieg. Was hat Sie in dieser Zeit geprägt?

Am stärksten das Familienumfeld in Breslau. Mein Vater, ein Maschinenschlosser, war vor 1933 in der Sozialistischen Arbeiterpartei. 3 Meine Eltern waren keine Widerstandskämpfer, aber sie haben in diesen Jahren versucht, mit Anstand zu leben und diesem Regime keine Konzessionen zu machen. Durch sie erhielt ich einen begrenzten Einblick in die Arbeitswelt jener dreißiger Jahre. Mein Vater arbeitete in einem Betrieb für Schwermaschinenbau, meine Mutter als Aufräumfrau – in Berlin nannte man das wohl ,Putze‘.

Inwiefern haben sich die damaligen Verhältnisse auf Ihren Alltag ausgewirkt?

Innerhalb der Familie herrschte eine gewisse Arbeitsordnung und -teilung. Wenn ,große Wäsche‘ war, hatte ich mich zwei Nachmittage im Waschhaus einzufinden. Es war auch selbstverständlich, dass ich meiner Mutter an ihren Arbeitsstellen die Kohleeimer hoch schleppte und in unserem Haushalt half. Mein Vater – ein aufgeklärter Mann – sagte: „Wenn deine Mutter die ganze Woche bei anderen Leuten den Dreck wegräumt, muss sie das am Wochenende nicht auch noch bei uns in der Wohnung machen. Jetzt sind wir dran!“ – So gewann ich ein Verhältnis zu praktischer Arbeit, wenn ich auch nie ein geschickter Handwerker geworden bin. Ich habe es über Fahrradreparieren, Tapezieren und Gartenarbeiten hinaus nicht zu sehr viel gebracht. Aber es gab eben klare Forderungen, woran ich mich zu beteiligen habe. Gleichzeitig genoss ich die größten Freiheiten. Ich konnte aufs Fahrrad steigen und mich mit einem Freund irgendwo in der Umgebung der Stadt im Grünen rumtreiben, Unsinn machen. Meine Welt waren Schwimmbäder und Fahrradtouren. Außerdem habe ich viel gelesen. Unter dem Strich: Die Geschichte meiner Privilegien beginnt mit der Atmosphäre in meiner Familie in diesen Zeiten.

Sie haben gerne gelesen. Woher bekamen Sie die Bücher?

Die Stadtteilbibliothek war ziemlich gut bestückt, unsere eigene hingegen lächerlich gering. Mein Vater hatte seine linke Literatur 1933 auf dem Gelände eines Schrebergartens vergraben. Sie verdarb jedoch. Zu meinem eigenen Bücherbestand, der auf einem Bord Platz gehabt hätte, gehörte Don Quijote, den ich wieder und wieder gelesen habe, außerdem deutsche Sagen, die irgendwie ins Haus gekommen waren. Und schließlich eine Lektüre, die nicht für mich gedacht war: Ehe man Ehemann wird – ein Aufklärungsbuch, in dem ich heimlich las.

Wie standen Sie zum Nationalsozialismus?

Da war eine Distanz. Zuhause haben wir in den Kriegsjahren BBC gehört. Jeden Abend hockte ich mit meinem Vater mit einer Decke über dem Kopf vor dem Radio, bis Mutter dann sagte: „Wann kommt ihr denn endlich essen?“ Von Anfang an wurde mir bedeutet: Das ist nicht unser Krieg. Ich erinnere mich noch, dass mein Vater 1941 unmittelbar nach dem Überfall auf die Sowjetunion mit mir in das Gasthaus ging, das seine Mutter betrieb. Es war schon vor 1933 ein Nazi-Treffpunkt gewesen. Ich vermag nicht zu sagen, was Vater da geritten hat. Möglicherweise hat er sich gesagt: „Na, da wollen wir uns die Nazis mal angucken, wie sie darauf reagieren – das ist ja der Anfang ihres Endes.“ Die waren jedoch schon alkoholisiert und feierten die Sondermeldungen. Als mein Vater nicht mitmachte, sagte sein Schwager zu ihm: „Dich bringen wir auch noch da hin, wo du hingehörst.“ Darauf verließen wir das Lokal. Glücklicherweise blieb die Episode folgenlos.

Konnten Sie diese Distanz zum Nationalsozialismus auch in der Schule halten?

Zu meinen Klassenkameraden gehörte einer, mit dem ich mich ein wenig befreundete. Er war der einzige, der nicht dem Jungvolk angehörte, weil er eine medizinische Bescheinigung besaß, dass er ,den Dienst‘ nicht machen könne. Mit dem habe ich mittags schon mal englischen Rundfunk gehört. In der Schule konnte man sich dem Mitmachen kaum entziehen, noch dazu, wenn man einigermaßen reden konnte. Einmal musste ich in der Schule einen Vortrag halten, anlässlich des Jahrestags der NSDAP-Gründung oder eines ähnlichen Jubiläums. Als ich mich wieder in die Bank setzte, fragte mich dieser Freund: „Haste was geglaubt von dem, was du da gerade erzählt hast?“ Da haben Sie in einzelnen Bildern ein wenig von der Atmosphäre, in der ich aufwuchs. Das hatte nichts mit Widerstand zu tun, überhaupt nicht. Aber es war diese Distanz zum Regime da.

Dennoch waren Sie in der Hitler-Jugend und sind als Sanitäter auch HJ-Führer geworden.

Ja, diese Sanitätseinheit war vorwiegend auf das Fachliche ausgerichtet. Wir sind dort auch geschliffen‘ worden, wie man damals sagte. Aber insgesamt waren diese Nachmittage am Mittwoch und Samstag ausgefüllt mit ernsthaften Unterweisungen. Die Armee brauchte Sanitäter, wir wurden dafür zu so genannten Feldscheren vorgebildet. Ich bin 1944 drei Wochen zu einem Lehrgang für Feldscher-Führer geschickt worden, in dessen Verlauf auch Ärzte unsere Ausbildung bestritten. Das war etwas anderes als das ewige Marschieren und Exerzieren in den regionalen HJ-Organisationen, lief aber auf die gleichen Zwecke und Ziele hinaus.

„Heute gruselt es mich vor Auffassungen, die ich damals vertreten habe.“

Sie wurden nicht im Krieg eingesetzt und waren bei Kriegsende 15 Jahre alt. Mit Ihrer Mutter sind Sie aus Breslau ins heutige Sachsen-Anhalt geflüchtet und später nach Weimar gekommen. Wie standen Sie als Jugendlicher zum Kommunismus?

Also, ,Kommunismus‘ wäre für mich damals ein Fremdwort gewesen. Mein Vater tauchte im August 1945 überraschend wieder auf – bis dahin wussten wir nicht, ob er in der sogenannten ,Festung Breslau‘ überlebt hatte. Er sagte zu mir: „Weißt du, die Arbeiterparteien müssen zusammengehen.“ Er selbst ging in die KPD, und damit es auch in der SPD ein paar Leute gibt, die diese Notwendigkeit begreifen, sollte ich in die SPD eintreten. Die haben dann in Staßfurt auch einen 15-jährigen aufgenommen.

Sie sind in der SPD geblieben?

In Weimar habe ich mich bei der SPD gemeldet, die machten mir aber eher einen trüben Eindruck. Also schloss ich mich der Antifa-Jugend 4 an. Dort lernte ich Leute kennen, die mehrheitlich Kommunisten waren. Aber die Frage ,Kommunismus‘ stellte sich auch dort in diesen Tagen nicht. Über die Antifa bekam ich eine Einladung zu einem Internatslehrgang für junge Kommunisten und Sozialdemokraten. Die Schulung in Camburg galt im Wesentlichen Fragen wie: Was war nach 1933 in Deutschland geschehen? Und was ist Antifaschismus? Prägend wurde für mich damals in Weimar vor allem anderen die Begegnung mit ehemaligen Häftlingen, die das KZ Buchenwald überlebt hatten: Kurt Goldstein, Stefan Heymann, Ernst Busse, Walter Wolf. 5 Die Fixierung auf Personen trat später mehr und mehr in den Hintergrund. Die Überzeugungskraft der Theorie besetzte einen höheren Platz. Das ist der Gang der Dinge.

Sie meinen, mit der Zeit stieg der intellektuelle Anspruch?

Ja, aber ich habe Schwierigkeiten, mich an den Übergang zum Marxismus-Leninismus zu erinnern. Das geschah wohl erst an der Universität, die ich 1948 bezog. Vorher haben wir diese broschürten Ausgaben von Marx-Engels-Schriften gelesen, die der Dietz- Verlag herausgab: ,Lohn, Preis und Profit‘, Lohnarbeit und Kapital‘, vielleicht auch schon die ,Deutschen Zustände‘ von Engels. Ich meine, dass ich während meiner Schuljahre von Stalin nur den Sammelband mit seinen Reden ,Über den Großen Vaterländischen Krieg‘ las. 6 An der Universität studierten wir dann im Parteilehrjahr den ,Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU (B)‘, 7 der war gerade in der deutschen Übersetzung erschienen.

Was hat Sie an einem Text wie dem ,Kurzen Lehrgang‘, mit seiner Rhetorik der Gewalt, der Einfachheit und Schlichtheit der Gedanken beeindruckt?

Diese Frage bringt mich absolut in Verlegenheit. Weil es mir schwer fällt, mich in meine damalige gedankliche wie emotionale Situation zurückzuversetzen. Das alles Überwölbende war für uns damals die Rolle der Sowjetunion und ihrer Armee im Krieg. Ihr Sieg bildete die Vorraussetzung, bei allen auch persönlichen Verlusten – wie den der schlesischen Heimat –, für einen Neubeginn des eigenen Lebens. Und zwar für einen Neubeginn, zu dem man ,Ja!‘ sagen konnte. Das ergab die Grundstimmung. Wie es um die Urteilskraft stand, das habe ich mich wieder gefragt, als mir vor drei oder vier Jahren in einem Bücherregal in unserem Garten zufällig diese kurze Stalin-Biografie in die Hände fiel. Wie man das über die erste Seite hinaus lesen konnte! Ist mir absolut schleierhaft! Eine dermaßen märchenhafte, im Stil unsägliche Darstellung. Und dann waren und blieben wir in meinen Studienjahren schlicht ahnungslos, was den aktuellen Zustand der Sowjetunion und ihre Geschichte anging. Unsere Verehrung Stalins rührte aus einer falschen Vorstellung von seinen Verdiensten als oberster Feldherr. Was die Geschichte der KPdSU anlangte, zumindest wie sie im ,Kurzen Lehrgang‘ beschrieben wurde, so ist vielleicht das Nachteiligste, was man davon aufnahm, die absolut dogmatisierte, verfälschte Darstellung der inneren Auseinandersetzungen in der Sowjetunion.

Welche ,Auseinandersetzungen‘ in der Sowjetunion meinen Sie?

Die Auseinandersetzungen der 1920er Jahre. Wer da alles um des richtigen Weges willen gesäubert werden musste, wer da überwunden werden musste! Diese These, die Partei wachse durch harte innere Kämpfe, diese würden geradezu eine Gesetzmäßigkeit ihrer Höherentwicklung bilden usw. Ich glaube, das hat verheerend gewirkt. Ein kritisches Verhältnis zur sowjetischen Geschichte, ganz zu schweigen vom stalinistischen Terror in der Partei und Gesellschaft, war so nicht zu gewinnen. Warum aber haben wir zu dieser Darstellung der innerparteilichen Kämpfe, nicht nur denen in der KPdSU, nicht wenigstens ein misstrauisches Verhältnis gewonnen? Manche von diesen Kämpfen besaßen ja eine erkennbare Substanz. Sie waren ebenso notwendig wie die Auseinandersetzungen zwischen Revisionismus und Revolutionarismus. 8 Wie sie jeweils geführt wurden und ausgingen, das war eine zweite Frage. Heute gruselt es mich, denke ich an Auffassungen, die ich damals vertreten habe. Allerdings ließen sich manche der seinerzeit bezogenen Standpunkte vollständig erst erklären, nicht rechtfertigen, wenn nicht außer Acht gelassen wird, dass wir in der ganzen großen Auseinandersetzung zwischen Ost und West ja stets die Schwächeren waren.

„Wir wollten die bürgerlichen Professoren mitnehmen …“

Warum haben Sie sich für ein Geschichtsstudium entschieden?

Ich wollte Lehrer werden, Deutsch und Geschichte. Eine Vorstellung davon, was mir im Einzelnen da an Ausbildung bevorstehen werde, besaß ich nicht. Wie ich darauf verfiel? Ich habe sicher den mehr sagen- und märchenhaften Geschichtsdarbietungen in der Schule gerne zugehört. Doch zunächst waren Geschichtsbücher nicht meine bevorzugte Kindheitsund Jugendlektüre, die bildeten Bücher über geografische Entdeckungen, Abenteuer von Seefahrern und ähnliche. Auf irgendeine Weise hat die Herausforderung des Umbruchs nach 1945 mein Interesse für Geschichte geweckt und entscheidend zu meinem Studien- und Berufswunsch beigetragen.

Sie sind sehr jung Parteisekretär der Universität Jena geworden, nämlich mit 19 Jahren.

Ja, das war ein Abenteuer. Naja, meine Genossen an vergleichbaren Plätzen waren auch nicht viel älter als ich. Ach, großer Gott, ich kam an die Universität, wurde Leiter einer Zehnergruppe von SED-Studenten im ersten Studienjahr, hatte vorneweg drei Wochen SED-Lehrgang. So ging das auf einer Tippel-Tappel-Tour zu mehr Verantwortung und Arbeit. Da wurde eine oder einer gebraucht, von dem man meinte, der könnte den Versuch mittragen, geistigen Einfluss auf die Mehrheit der Studenten zu gewinnen, der wir damals nicht viel zu sagen hatten.

Die ideologischen Grabenkämpfe an der Jenaer Universität haben sich damals vor allem um den Historiker Karl Griewank gedreht, der sich schließlich das Leben genommen hat.

Kurz bevor ich nach Jena kam, gab es die Auseinandersetzung mit dem Philosophieprofessor Leisegang, 9 der daraufhin rausgeschmissen wurde. Das war aber ein Sonderfall. Wir ,Neuen‘ haben die bürgerlichen Professoren wegen ihres Wissens bewundert und auch verehrt. Ich sagte mir ohnehin: „Das geistige Niveau, das diese Wissenschaftler besitzen, wirst du sowieso nie erreichen – dazu hast du zu spät angefangen.“ Die haben als Kinder schon Sprachen gelernt, sind in bürgerlichen Haushalten zwischen Büchern aufgewachsen. Aber gleichzeitig ließ man sich mit denen auf ein intellektuelles Kräftemessen ein.

Und nun zu Griewank. Es existieren zwei Quellen, die radikale Positionen bezeugen und über eine streitbare Diskussion hinausgehen: Ein Historikerstudent hat auf einer Parteisitzung gesagt: „Griewank muss weg!“ Und ähnlich lautete eine Äußerung des Universitätsrektors. Beides steht aber nicht für die vorherrschende Meinung. Denn schon auf pragmatischer Ebene war zu fragen: Wer soll denn dann den ,Laden‘ weiterführen? Hochschullehrer, wie beispielsweise der Historiker Hugo Preller, 10 bewegten sich in einer anderen Klasse und einem niedrigeren inhaltlichen Angebot.

Worum ging es Ihrer Ansicht nach bei diesen Auseinandersetzungen?

Es ging letzten Endes um unseren totalen Anspruch: Geschichtswissenschaft beginnt mit dem Historischen Materialismus, mit der Wertung der großen Kämpfe der Vergangenheit als Klassenkämpfe. Heute diskutieren wir: Was fehlt im Marxismus? Was bedarf der Ergänzung oder der Korrektur? Derlei Fragen waren uns damals fremd. Und: Wir wollten die bürgerlichen Professoren mitnehmen nach dem Motto: Wenn die Arbeiter den Sozialismus begreifen können, müssten ja diese klugen Leute ihn auch begreifen können und von ihm zu überzeugen sein. Griewank wehrte sich gegen unseren Absolutheitsanspruch aus seiner religiösen Überzeugung heraus und auch mit stichhaltigen Argumenten. Doch er stellte sich der Diskussion mit Leuten, deren Art und Weise, sich in ihre Studien zu stürzen, er auch schätzte. Er wie andere bürgerliche Lehrer – so fern wir ihren und sie unseren Lebenserfahrungen waren – blieben nicht unbeeindruckt von der Intensität und Ernsthaftigkeit von uns ,Neuen‘. Selbst wenn unsere Attacken ungerecht waren und Griewank sie so empfinden musste, hat er sie nie vergolten.

Wie haben Sie auf die Nachricht von Griewanks Selbstmord reagiert, der ja von manchen durchaus mit dem politischen Druck der SED und einiger Studenten in Verbindung gebracht wurde? 11

Ich entsinne mich, wann ich die Nachricht erhielt, Griewank habe sich das Leben genommen. Sofort begann das Rätselraten über die Ursachen seiner Tat. Den Gerüchten, die Sie meinen, trat auch seine Familie entgegen, die sich gegen die Politisierung seines Todes wehrte. Ich erinnere mich keiner Auseinandersetzung mit einem der Professoren während der fünfziger Jahre, die mit einer Vertreibungsabsicht erfolgt wäre. Auch wenn der gute Vorsatz und seine Ausführung mitunter auseinander fielen: Ziel und Stil unseres Auftretens waren darauf gerichtet, Menschen zu gewinnen, ob sie Studenten oder Professoren waren! Und wir waren von unserer Anziehungskraft sehr und manchmal zu sehr überzeugt!

Für Griewank hat es wahrscheinlich so ausgesehen, dass hinter den Angriffen der Studenten die mächtige SED stand. Insofern hatte er dann mit Ihren Polemiken auch für seine Person größere Befürchtungen zu verknüpfen?

Ich bin mit Kollegen, mit denen ich mich gelegentlich über Vergangenes unterhalte, der Meinung: Karl Griewank wäre nicht in der DDR geblieben. Das ist eine Vermutung, für die vieles spricht. Die Festlegung auf den Historischen Materialismus empfand er als eine geistige Einschränkung, wenn nicht Vergewaltigung. Aber dass er in diesem ,Kalten Krieg‘ und seinen ideologischen Auseinandersetzungen zerrieben worden ist, wie es später dargestellt wurde, das abstrahiert von sehr persönlichen und privaten Gründen seines Endes. Später erst wurde bekannt, dass Griewank in jungen Jahren schwer erkrankt war und an Depressionen litt. Ich bewahre ihm mehr als ein bloßes Andenken. Mit Walter Schmidt, meinem Kollegen und Freund, bin ich im Jahr 2000 zu Griewanks Ehrung in dessen Geburtsort Bützow in Mecklenburg gefahren, als dort seines 100. Geburtstages gedacht wurde. 12 Sein Gutachten für meine Abschlussarbeit, das ich erst vor Jahren lesen konnte, war fair und wohlwollend! Das war lange nach unseren Diskussionen geschrieben und in seiner Kritik wohlfundiert. Ich habe hoffentlich meine späteren Studenten genauso für voll genommen wie er mich …

„Die Judenverfolgung war nicht nur Produkt eines irrationalen Wahns.“

Als Historiker haben Sie sich seit Mitte der 1960er Jahre auf Faschismusforschung spezialisiert. Wie kam es zu diesem Forschungsinteresse?

Die Spezialisierung ist relativ zufällig vor sich gegangen. Ich ging in das Deutsche Zentralarchiv in Potsdam. Dort begann ich, mich mit den Überlieferungen für die Jahre 1933/34 bekannt zu machen. Da ging mir auf, dass in meinen eigenen Vorstellungen und wohl auch in den bis dahin verbreiteten Darstellungen die Rolle des Antisemitismus für die Judenverfolgung, jedenfalls für diese Frühphase der Diktatur, unterbewertet oder gar nicht belichtet wurde. Es war zunächst einfach Neugierde, die ja jeder als Historiker mitbringt, und das Gespür, auf eine Fährte geraten zu sein.

Antisemitismus und Judenverfolgung als eigenständige historische Themen spielten in der Diskussion um den Faschismus nicht gerade eine zentrale Rolle.

Man kann streiten, ob das Thema Juden‘ damals im Geschichtsdenken den angemessenen Platz besetzte. Übrigens nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD und in anderen Ländern. Zweifelsfrei ist jedoch, auf wie vielen Ebenen von Kunst und Literatur das Thema in der DDR ,lebte‘ – bald wird darüber endlich eine bibliografische Übersicht erscheinen. Mein Interesse wurde damals gefördert durch das Zusammentreffen mit Juden, vorwiegend Kommunisten, denen ich in jungen Jahren Orientierung verdankte. Das gilt insbesondere für Stefan Heymann und dessen früh erschienene Abhandlung. 13 Filme wie ,Ehe im Schatten‘, ,Die Buntkarierten‘ und andere haben das Schicksal der Juden ins Bewusstsein vieler gerückt. 14 Heute wird davon kaum Notiz genommen. Jedenfalls war ich Mitte der sechziger Jahre, als ich mich mit der Judenverfolgung forschend zu befassen begann, nicht in der Situation, dass ich irgendeinen Durchbruch hätte erzielen müssen.

Ihnen ging es damals auch darum, die Auffassungen eines Kollegen zu widerlegen …

Sie sprechen von Rudi Goguel. 15 Wir kannten einander flüchtig. Ich respektierte ihn nicht nur wegen der Art, in der er seine Sache vertrat, sondern ebenso wegen seiner Biografie – er war als Widerstandskämpfer im KZ gewesen. Unsere fachliche Meinungsverschiedenheit lässt sich knapp so charakterisieren: Er reduzierte das Motiv für die Judenverfolgung auf die faschistische Ideologie. Ich war zwar auch der Meinung: Ohne Ideologie, also ohne den Rassismus und Antisemitismus, lässt sich vom Geschehenen mit Sicherheit nichts erklären! Aber in dem Prozess, in dem sich diese Ideologie in Massenverbrechen umsetzte, wirkten eine ganze Reihe anderer Motive mit. Und zwar politische, wirtschaftliche und taktische Kalküle: zum Beispiel das Interesse an der Bereicherung am Eigentum der vertriebenen und ermordeten Juden! Und dann im Kriege das reale Interesse, alte imperialistische Eroberungsziele zu erreichen. Die hatten in der deutschen Außenpolitik schon vorher eine Rolle gespielt, waren nun aber nationalsozialistisch geprägt. Nichtsdestoweniger sind Historiker dabei geblieben, in der Vernichtung der Juden den Beweis zu erblicken, dass hier ,reine‘ Ideologie regiert habe und nicht imperialistische Interessenpolitik. Da sei nur noch Wahn, nur noch Hass, und da höre dann das Kalkül auf. Und da gehe ich nicht mit. Diese Abtrennung des Holocaust vom Krieg und seinen Zielen scheint mir verfehlt. Die Judenverfolgung war nicht nur Produkt eines irrationalen Wahns.

Wie stehen Sie heute zur berühmten ,Dimitroff-Formel‘, die das Finanzkapital‘ für den Faschismus verantwortlich macht? 16

Die Tatsache, dass diese faschistische Diktatur, ob in Italien oder Deutschland, auf der Basis der kapitalistischen Gesellschaft entstanden war, ist nicht zu bestreiten. Dann stellt sich die Frage: War das ein Zufall oder eine mögliche Ausprägung dieser Gesellschaft, die sie unter bestimmten Umständen annimmt. Wir haben uns in den internen Diskussionen unter marxistischen Historikern in den 1960er Jahren von der Auffassung getrennt, dass Faschismus ein gesetzmäßiges, zwangsläufiges Produkt der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung sei. Nur: Der Versuch, die Herrschaft des Kapitals von der Verantwortung für die Entstehung faschistischer Diktaturen freizusprechen‘, dauert fort, obwohl er auf Quellen nicht gestützt werden kann. Er ist – sehen Sie heute in die Schulbücher! – gleichsam verordnet. Der Lernprozess ist auf diesem Felde bisher etwas einseitig verlaufen.

In der Bundesrepublik wurde zum Nationalsozialismus oft auch in gesellschaftskritischer Absicht geforscht. Es ging darum, die Mitverantwortung weiter Bevölkerungsteile zu demonstrieren oder auch Kontinuitäten aufzuzeigen. Hatten Sie ähnliche Intentionen?

Na, da war ich doch in einer anderen Situation als die Historiker in der Bundesrepublik. Die Auseinandersetzung um die Frage ,Was haben die Deutschen angerichtet?‘ war in der DDR gesellschaftlich von Anfang an viel breiter angelegt, unabhängig von aller später einsetzenden Forschung. 1950 hat die DDR die Oder-Neiße-Grenze anerkannt, das machte schmerzlich bewusst, was da im Osten angerichtet worden war. Gleiches taten auch die Reparationen, die an die Sowjetunion zu leisten waren. Heute ist kaum noch richtig vorstellbar, was das bedeutet hat! Wenn tausende von Arbeitern Dinge herstellen, die sie selbst nötig und gut gebrauchen können, und wissen: Das geht alles in Waggons und die fahren Richtung Moskau. Damit war die Vergangenheit gegenwärtig. Es gab einen Zwang zu erklären, warum hier eine Rechnung beglichen werden musste. Damit ist die aufklärerische Leistung der frühen Antifaschisten und der später beteiligten Geschichtswissenschaft nicht ignoriert. Diese Leute waren und blieben zwar eine Minderheit. Doch bestimmte diese Minderheit das gesellschaftliche Klima zunehmend.

„In der DDR gingen alle Geschichtsabsolventen in den Staatsdienst.“

Seit 1965 waren Sie Hochschullehrer an der Humboldt-Universität in Berlin und haben dort auch politische Maßnahmen gegen Studenten unterstützt. Sehen Sie da eine Linie zum Parteisekretär Kurt Pätzold, der damals an der Jenaer Universität aufgetreten war?

Die Kontinuität besteht darin, dass ich von der Überzeugung geleitet blieb, an diesem Platze kannst du Menschen für eine gute und gerechte Sache gewinnen. Nun ist seit 1990 davon ein Bild entworfen worden, demzufolge das mit Mitteln des ideologischen und sonstigen Drucks geschehen sei. Zum Beweis dafür werden politische Auseinandersetzungen angeführt, die damit endeten, dass Studenten gezwungen wurden, sich die ,Welt DDR‘ zeitweilig nicht aus der Perspektive der Hörsaalbank, sondern aus der eines Produktionsbetriebes, von einer Werkbank aus anzusehen. Wir reden in meinem Fall von fünf Studenten, was die Sache nicht besser macht, aber bestimmte, absichtlich übertriebene Vorstellungen korrigiert. Das war ein harter Eingriff in die Biografie junger Menschen. Später habe ich mich gefragt: „Wie sähe ich die Sache an, wenn einer der Betroffenen sich einen Strick genommen hätte?“ Das habe ich damals nicht bedacht.

Warum haben Sie so eine mögliche Entwicklung nicht bedacht?

Wir hatten uns selber eine Falle gestellt: In der DDR gingen alle Geschichtsabsolventen in den Staatsdienst: In Schulen, Museen, Gedenkstätten und andere Einrichtungen, die sämtlich pädagogische Aufträge erfüllten. Das war an ideologische Voraussetzungen geknüpft. Die Kommissionen für die Berufslenkung‘ unserer Absolventen konnten am Ende eines Studiums nicht sagen: „Wir haben Sie fachlich gut ausgebildet, nur leider genügen sie unseren politischen Anforderungen nicht.“ Zu der gerade geschilderten Methode, das zu vermeiden, habe ich heute ein kritischeres Verhältnis. Dass mit ihr auch Opportunisten erzogen werden, die sich einfach an die ideologischen Anforderungen anpassten, wusste ich damals schon. Aber ihre negative Folge war vor allem die Rückwirkung in die gesamte Atmosphäre an der Universität.

Im Unterschied zu manch’ anderen Professoren haben Sie sich diese politische Aufgabe aktiv zu Eigen gemacht. In Ihrer Autobiografie bezeichnen Sie sich ironisch als ,Erziehungsdiktator‘…

Die Verwendung des Begriffs erschöpft sich nicht in Ironie.

1976 wurde ein Geschichtsstudent wegen seiner Sympathien für Wolf Biermann für ein Jahr von der Universität geworfen …

Damals war ich Direktor der Sektion Geschichte. Das Verfahren war das gleiche wie vorher. Ich vermied diesmal lediglich ein Disziplinarverfahren. Wir vereinbarten, dass der Student während seiner Arbeit in einem Berliner Industriebetrieb die Verbindung mit einem unserer Professoren halten konnte. Das geschah. Später kehrte er, wie die 1968 aus der Universität Verwiesenen, zum Studium zurück. Er ist dann auch Mitglied der SED geworden und dies nach meinem Eindruck ohne einen Anflug von Anpassung. So viel zur Erziehungsdiktatur – mit und ohne Anführungszeichen.

„… dass es Schwierigkeiten zu meistern gibt, aber kein Zurück zum Kapitalismus.“

Wie haben Sie die Zeit vor der so genannten ,Wende‘ erlebt?

Ich hatte zu jener Zeit keine Parteifunktion. Aber ich hatte wohl unter meinen gleichaltrigen und jüngeren Kollegen und natürlich auf die Studenten, die sich bei mir fachlich spezialisierten, einen gewissen Einfluss. Ich wusste, dass es an der Universität Genossen gab, die sich mit Reformprojekten beschäftigten, Dieter Klein und andere, die haben mir auch eine ihrer Ausarbeitungen geschickt. 17 Ich war mit meiner Forschung beschäftigt, und ich habe mir von derlei Schreibübungen nicht sehr viel versprochen. Heute erscheint mir auch vieles, was ich 1989 in Parteiversammlungen kritisch gesagt habe, nur als die Bewegung von Luft. Über die Mitglieder im Politbüro ließ sich in der späten DDR eigentlich nur noch sagen: „Geht mit Gott, aber geht“. Das habe ich getan. Es blieb folgenlos für mich, aber ebenso folgenlos in der Sache.

Spätestens als die Ausreisewelle im Mai 1989 via Ungarn einsetzte, hätte die Staatsführung eine grundsätzliche Verständigung mit der Bevölkerung über Weg und Ziel suchen müssen. Die wäre aber nur mit einem Offenbarungseid über die desolate Lage zu eröffnen gewesen. Damit wären immerhin Millionen Parteimitglieder erreicht und davon sicher viele mobilisiert worden. Das hätte die DDR schwerlich vor dem Ende bewahrt, ihr Untergang hätte sich aber anders und mit anderen Folgen vollzogen.

Sie haben diesen Staat von Anfang an mit aufgebaut. Doch wenn er untergeht, wird nicht mehr gekämpft?

Dass der Untergang der DDR bevorsteht, war mir nicht bewusst. Wir waren Sklaven und am Ende Opfer der Vorstellung, dass es zwar noch viele Schwierigkeiten zu meistern gibt, aber kein Zurück zum Kapitalismus. Das lag jenseits unserer Vorstellungen. Die Vorbereitungen auf den 40. Jahrestag der DDR knallten mit der Wirklichkeit zusammen und waren mir zuwider. Meine Reaktion darauf war indessen nicht sonderlich ruhmvoll. Ich bin im Herbst 1989 zu einer Konferenz nach Oldenburg in den Westen gefahren, dann zu meinem guten Bekannten, einem Pfarrer in Bremen. Wir besuchten abends am 7. Oktober eine Aufführung von ,Cosi fan tutte‘. Danach sahen wir im Fernsehen, was sich in Berlin abgespielt hatte. 18 Am nächsten Morgen ging ich mit einer mir gut bekannten Kollegin die Weser entlang und habe sie gefragt: „Soll ich an der Universität weiter machen oder in die Politik gehen“. Ich erhielt zur Antwort: „Lass da mal die Jüngeren ’ran.“ Ich blieb ihr für diesen Rat bis heute dankbar. Anschließend fuhr ich nach Wien zu einer Konferenz und arbeitete danach dort in einem Archiv. Ein Wissenschaftler, wenn er an seiner Profession hängt, hat immer die Möglichkeit zu solcherlei Flucht.

Nach der ,Wende‘ gab es an der HU große Konflikte. Insbesondere wegen ihrer Staatsnähe sollte die Sektion Geschichte vollständig abgewickelt werden.

Die Abwicklung ist formal gescheitert, aber dann auf anderem Wege doch durchgesetzt worden. Lassen wir die vorgetäuschten und die wirklichen Gründe für unsere Abwicklung einen Moment beiseite. Zunächst überfiel der noch amtierende Direktor die Kollegen in einer öffentlichen Versammlung mit einer kritischen Betrachtung zur Geschichte der Sektion, an der dieser selbst lange gearbeitet hatte. Das war der Auftakt einer Selbstbefragung, von der später behauptet worden ist, es habe sie nicht gegeben oder sie wäre nur unter Zwang zustande gekommen. Ich sprach in der Debatte über meine Verantwortung für jene Maßnahmen gegen Studenten, von denen wir schon redeten. Darüber erschien dann aus der Feder eines Journalisten, der selbst gar nicht anwesend war, ein Bericht in einer Westzeitung. 19

Sie waren sofort einer derjenigen, die im Zentrum der Kritik standen?

Es gab zunächst eine Kommission aus Angehörigen unserer Sektion, die über die Zukunft der Sektion Geschichte beriet. Die verfiel auf die Vorstellung, wenn wir das Boot erleichtern, schwimmt es weiter. Ich galt als solcher Ballast. Im Grunde wurde da im vorauseilenden Gehorsam gegenüber den zu erwartenden neuen Herren gehandelt. Die traten alsbald selbst in Aktion. Geht ein Staat unter, sei es im Ergebnis einer Revolution oder einer Konterrevolution, haben die ihn prägenden Personen ihre Plätze zu räumen. Sie gelten mindestens als unbrauchbar. Das ist das Normalste in der Geschichte. Mir kamen stets die Historiker lächerlich vor, die sich über Geschichte beschweren. Und ich habe die guten Freunde und Bekannten bestaunt, die im Hinblick auf das ihnen Bevorstehende Illusionen hatten und wundere mich bis heute über die dabei zutage getretene Naivität. Meine Entlassung Ende 1992 hat mich nicht überrascht. Allenfalls, dass sie relativ spät erfolgte. Zunächst hatten die Verantwortlichen wohl gehofft, dass sich meine Kündigung mit Hilfe von Stasi-Unterlagen bewerkstelligen ließe, die mich belasten würden. Dann musste für meine Entlassung doch eine andere Begründung verfertigt werden, die vor dem Arbeitsgericht standhält. Das war angesichts der politischen Orientierung der Arbeitsrichter aber keine allzu schwierige Aufgabe.

„Die Idee des Aufbruchs in eine Gesellschaft ohne Krieg, ohne Ausbeutung …“

Sie sind dann arbeitslos geworden und in den Vorruhestand gegangen.

Ich wollte zu der Beerdigung eines Kollegen nach Leipzig fahren und sollte, um mich aus der Stadt entfernen zu dürfen, dies beim Arbeitsamt beantragen! Darauf habe ich mit einem anderen Antrag reagiert, nämlich dem auf Einritt in den Vorruhestand. Materielle Konsequenzen hatte das auch deshalb nicht, weil meine Frau als Historikerin vor allem in der Forschung weiter arbeitete. Die Härte der Abwicklung betraf auf Jahre hinaus und bis heute vor allem meine jüngeren Kollegen, von denen manche unter den Segnungen von Hartz IV leben und dabei forschen und zu publizieren suchen. Das tue ich unter den vergleichsweise privilegierten Bedingungen eines Rentners nach Osttarif. Manches ist dabei zum Druck gelangt. Ein früherer Student hat mir bei einer zufälligen Begegnung gesagt: „Wenn man Sie nicht rausgeschmissen hätte, hätten sie sicher nicht so viel geschrieben.“ Punkt.

Die 40 Jahre in der DDR – waren die für Sie verlorene Zeiten‘?

Für mich, wie für viele andere meiner Herkunft, gilt, dass sich uns 1945 Möglichkeiten eröffnet haben, die sich eben nur durch diesen Weg in die DDR und dann in ihr eröffneten – Wege in die Wissenschaft, ein Tor zur Kultur, Arbeitsfelder, die uns lohnend schienen und es waren. Eine Ökonomin, einstige Jenaer Kommilitonin, sagte mir das mit dem Blick auf ihre Biografie so: „Ohne dieses ‘45 wäre ich wie meine Vorfahren Näherin in einer Textilfabrik in Gera geworden und geblieben.“

Und dann rührt aus diesen Jahren noch etwas anderes her: Die menschlichen Beziehungen, die sich zu Zeiten der DDR entwickelt haben. Diese Idee des Aufbruchs in eine Gesellschaft ohne Krieg, ohne Ausbeutung, mit einem auskömmlichen und allmählich reicher werdenden Leben für alle, hat in Jahren und Jahrzehnten Bindungen geschaffen – auch wenn sie am Ende gescheitert ist! Wenn ich jemandem aus längst vergangenen Zeiten per Telefon anrufe und er spricht mit mir, als hätten wir gestern ein Bier miteinander getrunken und am Ende nur vergessen, uns noch etwas zu erzählen … Da lebt etwas fort von dem in der DDR praktizierten Verhältnis, in das individuelle und überindividuelle Interessen zueinander gesetzt waren. Jeder besaß seine eigenen Lebensvorstellungen, seine Vorlieben und Abneigungen. Aber darüber stand noch etwas anderes: eine Vorstellung von einer Welt, die gemeinsam gestaltet werden sollte, ein Optimismus, der zunächst trug und fruchtbar gemacht werden konnte, sich dann aber und endlich als ungerechtfertigt erwies. Die sozialistische Menschengemeinschaft war ein Traumbild. Doch warum sagen Menschen aus der DDR, dass sie in ihren neuen Verhältnissen, bei allen materiellen Gewinnen der ,Wende‘, manchmal unter der Kälte leiden? So viel zu den ,verlorenen Zeiten‘. Und dann – Gewonnenes hin, Verlorenes her – gibt es für mich noch eine moralische Befindlichkeit. Wie zufrieden lässt es sich leben, wenn man für Weltzustände mitverantwortlich ist, in denen es so vielen Menschen einfach dreckig geht, deren Denken bis zur nächsten Mahlzeit reicht, die ihr blankes Überleben sichert?

Das Gespräch führte Alexander Thomas

1 Kurt Pätzold: Die Geschichte kennt kein Pardon! Erinnerungen eines ostdeutschen Historikers, Leipzig 2008. Zu den Vorgängen an der Humboldt-Universität und Pätzolds damalige Forderungen: vgl. den Aufsatz von Rainer Eckert u. a.: ”Klassengegner gelungen einzudringen …“ Fallstudie zur Anatomie politischer Verfolgungskampagnen am Beispiel der Sektion Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin in den Jahren 1968 bis 1972, JHK (1993), 197–225, das folgende Zitat ebd. S. 224.

2 So Ilko-Sascha Kowalczuk: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945-1961, Berlin 1997, S. 206.

3 Mit der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD, auch SAP) spalteten sich linke Sozialdemokraten in Deutschland 1931 von der SPD ab. Nach 1945 löste sich die Partei de facto auf.

4 Nach 1945 entstanden (nicht nur) in der Sowjetisch Besetzten Zone vielfältige antifaschistische Zirkel, meist im Umfeld von Mitgliedern der Arbeiterbewegung aus der SPD oder der KPD, die die NS-Zeit in Deutschland überlebt hatten. In ihrem Programm waren sie parteipolitisch nicht festgelegt; sie wurden später durch die Machtpolitik der SED unter Führung der aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten Kommunisten marginalisiert.

5 Kurt Goldstein (1914-2007) und Stefan Heymann (1896-1967) waren jüdische Kommunisten, die im KZ Buchenwald beide dem von deutschen Kommunisten dominierten Lagerwiderstand angehörten. Nach 1945 machten sie in der DDR Karrieren als Kulturfunktionäre. Heymann tat sich nach 1945 als Zensor von Veröffentlichungen über das KZ Buchenwalds hervor, insbesondere von Schilderungen unpolitischen‘ (jüdischen) Leides. Der KPD-Politiker Ernst Busse (1897-1952), Angehöriger des Buchenwalder Widerstands in leitender Funktion, geriet nach 1946 in die Machtkämpfe zwischen Moskau-Emigranten und ,Altkommunisten‘, die die NS-Zeit in Deutschland überlebt hatten. Als ehemaliger Funktionshäftling im KZ-Buchenwald wurde er der ,Kollaboration‘ mit der SS bezichtigt, 1950 vom sowjetischen Geheimdienst verschleppt, 1951 als Kriegsverbrecher‘ verurteilt. Er kam in einem sowjetischen Straflager (GULag) in Workuta ums Leben. Walter Wolf (1907-1977) war als Kommunist in Buchenwald inhaftiert und arbeitete dort ab 1944 in einem ,Volksfrontkomitee‘ an schulpolitischen Sofortmaßnahmen nach der Befreiung. In der DDR wirkte er als Bildungspolitiker, später als Pädagogikprofessor.

6 Josef W. Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion, Moskau 1946.

7 Der ,Kurze Lehrgang‘ (B steht für Bolschewiki) ist ein Propagandatext der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU), der während der Zeit des stalinistischen Terrors entstand und 1938 das erste Mal in der Sowjetunion erschien. Nach 1945 wurde er innerhalb der KPD/SED offiziell für die politische Schulung der Parteimitglieder und –funktionäre eingesetzt.

8 Pätzold bezieht sich auf Auseinandersetzungen, die nach den 1890er Jahren innerhalb der deutschen, aber auch der internationalen Arbeiterbewegung ausgetragen wurden. Dabei ging es um die Frage, ob der Sozialismus mittels Klassenkampf und revolutionärem Umsturz der bürgerlichen Gesellschaft (Revolutionismus) oder durch langfristige Reformen zu erreichen sei. Der Reformflügel unterzog die Grundschriften des Marxismus einer Neuinterpretation und wurde daher Revisionismus genannt.

9 Hans Leisegang (1890-1951) war Philosoph und Physiker. Er wurde 1948 wegen kritischer Äußerungen gegen die kommunistische Hochschulpolitik aus seiner Professur für Philosophie an der Universität Jena entlassen. Leisegang übernahm danach ein Ordinariat für Philosophie an der neu gegründeten Freien Universität in der amerikanischen Besatzungszone in Berlin.

10 Hugo Preller (1886-1968), Historiker, hatte während des Nationalsozialismus politische Schwierigkeiten und wurde sogar zwangsweise in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht. In der DDR war er bis zu seiner Emeritierung 1952 als Professor an der Universität Jena tätig.

11 Vgl. zuletzt Lothar Mertens: Lexikon der DDR-Historiker, Biographien und Bibliographien zu den Geschichtswissenschaftlern aus der Deutschen Demokratischen Republik, München 2006, S. 44. Tobias Kaiser führt den Selbstmord dagegen auf eine depressive Grunderkrankung zurück, an der Griewank schon seit seiner Jugend hin und wieder gelitten habe (vgl. Tobias Kaiser: Karl Griewank. Ein Historiker im ,Zeitalter der Extreme‘, Stuttgart 2006; S. 27; präsentiert aber auch zahlreiche Belege für das Vorgehen der Vertreter der SED (vgl. S. 244f.; 263).

12 Walter Schmidt (*1930) studierte ebenfalls bei Karl Griewank. Er arbeitete vor 1989 zuletzt an der Akademie der Wissenschaften der DDR und war u. a. als Direktor des dortigen Zentralinstituts für Geschichte einer der einflussreichsten Historiker der DDR.

13 Stefan Heymann argumentierte in seiner Schrift Marxismus und Rassenfrage‘ (Berlin 1948) dafür, den Kampf gegen Judenverfolgung und Antisemitismus als Teil des marxistischen Klassenkampfes zu betrachten.

14 Beide Filme entstanden unter der Regie von Kurt Maetzig. ,Ehe im Schatten‘ (1947) handelt von der Ehe eines jungen Schauspielers mit einer während des Nationalsozialismus als Jüdin verfolgten Frau. ,Die Buntkarierten‘ (1949) portraitiert am Beispiel der Lebensgeschichte eines Dienstmädchens den aufkommenden Antifaschismus im Arbeitermilieu.

15 Rudi Goguel (1908-1976) war als Funktionär der KPD zwischen 1934 und 1945 mehrfach in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert. Nach 1945 arbeitete er u. a. als Historiker an der Berliner Humboldt-Universität. Er gab 1973 den Sammelband Juden unterm Hakenkreuz‘. heraus, dessen Interpretation der Judenverfolgung sich deutlich von der gängigen Deutung in der DDR unterschied.

16 Der Faschismus, die „offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“. Mit dieser Formel deutete der bulgarische Kommunist Georgi Dimitroff 1935 den Zusammenhang zwischen Faschismus und kapitalistischer Gesellschaft. Sie erhielt danach auch für die marxistische Geschichtswissenschaft der DDR einen großen Einfluss auf die Interpretation des Faschismus.

17 An der Berliner Humboldt-Universität hatte sich Ende der 1980er Jahre ein Kreis von Gesellschaftswissenschaftlern gebildet, die der SED angehörten und nach Möglichkeiten für eine Reform des sozialistischen Staates suchten.

18 Am 7. Oktober 1989 fanden offizielle Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR statt. Parallel kam es zu zahlreichen Protestaktionen der Opposition, denen mit massiver Polizeigewalt begegnet wurde. Einige Ereignisse in Berlin konnten von Korrespondenten der ARD gefilmt werden.

19 Götz Aly: Deutschstunde: Opfer so weit das Auge reicht. Historiker der Humboldt-Universität rücken die eigene Geschichte zurecht/ Disziplinierte Ex-Studenten wurden geschnitten, abgedruckt in: Rainer Eckert u. a. (Hg.): Hure oder Muse? Klio in der DDR. Dokumente des Unabhängigen Historiker-Verbandes, Berlin 1994, 325-327.

Verlorene Zeiten?

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