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1. Kapitel

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Das Jahr 1897 hat für den Deutschen, ja für den Zentral-Europäer, eine weit mehr charakteristische Bedeutung, als das gebräuchliche Wort »fin de siècle« einschließt. Es stellt den Zenith der sogenannten »wilhelminischen Epoche« dar, eine Zeit höchster bürgerlicher Saturiertheit, wirtschaftlich allerorten blühend oder die Früchte tragend, die gewonnene Kriege damals noch zur Reife bringen konnten. Das »Deutschland über alles« hatte damals weniger imperialistischen Sinn, den man diesem Lied später unterschob, sondern spiegelte den Stolz einer geeinten Nation, welche sich dank ihrer in voller Blüte sich entfaltenden Industrie und Wissenschaft mitführend unter den Völkerfamilien nennen durfte. Und niemand ahnte, dass die Kaiserhymne, deren Melodie bezeichnenderweise die gleiche der englischen Nationalhymne war, durch das Byzantinische ihrer Textierung keine zwanzig Jahre später nicht nur die Nation, sondern eine ganze Welt dank einer progressiven Megalomanie in das blutige Geschehen des I. Weltkrieges führen sollte, in die Zeit der sozialen Probleme, der Revolutionen, neuer Kriege und einer neuen Völkerwanderung mit allen Erscheinungsformen, die die erste Hälfte des XX. Jahrhunderts kennzeichnen.

Ich – am 10. Oktober 1897 in Berlin geboren – erinnere mich sehr wohl des Zeitbildes meiner frühen Kindheit, aus der sich das erste Telefon, das Automobil, die Entwicklung des Überseetelegramms, die immer schneller und größer gebauten Luxusschiffe, der Übergang von der Gasbeleuchtung zum elektrischen Licht (die ersten Nernst-Lampen), die Erfindung der Röntgenstrahlen, der schmerzlosen Zahnbehandlung, die Erfindung des Fahrrades mit zwei gleichgroßen Rädern und seines Vorgängers, des Velozipeds, das ein riesengroßes und ein kleines Rad hatte, wobei der Fahrer hoch über dem Boden als eine Art Akrobat das Gleichgewicht halten musste, und noch manch andre Dinge abheben.

Ich erinnere mich noch gut der Pferdebahnen, der schnaufenden Eisenbahnlokomotiven mit trichterförmigen Schornsteinen, der in Berlin auftauchenden Hochbahn und später »Untergrundbahn«, der Schwebebahn in Elberfeld-Barmen, der die Straßen füllenden Droschken und Pferdefuhrwerke, insbesondere des »Coupés« unseres Hausarztes, des Dr. – alias Sanitätsrats – Dr. Altmann, mit dem er seine Krankenbesuche absolvierte, erinnere mich an die hochrädrigen Kinderwagen im Schöneberger Stadtpark, von hochbusigen Ammen in der malerischen Tracht ihrer Heimat, des Spreewaldes, geschoben, habe vor Augen das prunkvolle Bild militärischer Paraden, sehe die blauen Polizisten mit Pickelhaubenwarzenhelm, mit ihren Einheitsschnurrbärten, deren Mode der des »allerhöchsten Landesherren« nachgeäfft war, deren Pflege eine Männerwissenschaft und deren beim Kuss kitzelnde Endspitzen das Entzücken der Damenwelt waren; erinnere mich der mannigfaltigen Formen von Vollbärten, vom gewöhnlichen »Fuß-Sack« über den »Kaiser Franz Josephs-Bart« bis zum »Henri IV«, der elegantesten Form des Bärtigen, der Wespentaillen festkorsettierter Damen, ihrer weit fallenden, fast den Boden berührenden Röcke, ihrer nahezu wagenradgroßen Hüte oder der jugendlichen »Florentiner«, weiche Strohhüte mit Schleifen oder künstlichen Blumen überreich garniert, mit langen Hutnadeln im Haar festgehalten, der üppigen Frisuren, unterstützt durch »Unterlagen« oder den »Willem«, wie der Berliner den künstlichen Zopf nannte, und – abseits solcher Umwelt – meines Elternhauses sehr wohl.

Bis zu meinem achten oder neunten Lebensjahr wohnten wir in Berlin selbst, im Stadtteil von Schöneberg, gegenüber dem Botanischen Garten, in einem jener monströsen Mietshäuser aus der »Gründerzeit[1]«, überladen mit Stuck und Türmchen, verschnörkelten Gittertüren, einem »Eingang für Herrschaften«, wo sich am Eisenportal eine große Messingschale befand, in der ein Glockenzug angebracht war, während der »Eingang für Dienstboten und Lieferanten« durch den Hof ging. In diesem vier- oder fünfstöckigen Gebäude, dessen erster Stock die »Beletage« genannt wurde, gab es einen Fahrstuhl, damals »Lift« genannt, eine Art von Vogelkäfig, der noch nicht durch Elektrizität betrieben wurde, sondern durch den Portier mittels eines Strickes in Bewegung gesetzt wurde, dessen Gegengewicht nach primitiven mechanischen Gesetzen das Vehikel nach oben oder unten trieb. Dieses Beförderungsmittel ist mir deshalb lebendig in Erinnerung, weil ich, wenn ich etwas ausgefressen oder später in der Schule schlecht abgeschnitten hatte, mich nachhause kommend des Fahrstuhls bediente und durch die »Vordertür« (aus reichverziertem Eichenholz gedrechselt) die Wohnung betrat, während ich, wenn alles gut war, die »Hintertreppe« benützte. Die Gründe für dieses Vorgehen sind mir allerdings weder bekannt noch erklärlich. Ich weiß aber mit Bestimmtheit, dass es so war, denn die Geographie dieser Wohnung ist mir noch immer sehr gut im Gedächtnis.

Sie unterschied sich wahrscheinlich kaum von anderen »hochherrschaftlichen« Behausungen Berlins. Kam ich durch die Vordertür, fand ich mich in einem ziemlich großen Vestibül, in welchem einige Stühle, ein Tischchen mit einer Zinnschale voller Visitenkarten, ein Schirm- und Kleiderständer und vielleicht noch anderes standen, alles im sogenannten »altdeutschen« Stil. Diese Möbel waren mehr oder weniger reich geschnitzt und mit Blechknöpfen anmutig beschlagen, die Stühle wiesen in der Rückenlehne eine herzförmige Aussparung auf und waren aus schwerem Eichenholz. Es scheint, dass diese ein Teil des »Herrenzimmers« meines Vaters waren, denn mir sind lebhaft der Schreibtisch und ein Rauch- und Likörschränkchen meines Vaters in Erinnerung, die den gleichen Stil aufwiesen, ebenso wie das große Bücherspind mit Glasscheiben, die von innen durch grüne Seidengardinen gegen neugierige Blicke geschützt waren.

Rechts neben dem Eingang lag mein Kinderzimmer, an dessen Aussehen ich nicht mehr die geringste Erinnerung habe. Dagegen weiß ich noch, dass neben dem »Herrenzimmer« auf der einen Seite das Arbeitszimmer meiner Mutter lag, möbliert mit dunkelgrün gebeizten Möbeln im damals so modernen »Jugendstil«, ein Stil, der – glaube ich – von der halbintellektuellen, halbmondänen illustrierten Zeitschrift »Die Jugend« kreiert wurde, eine Zeitschrift, die viele Maler, speziell den mondänen Reznicek berühmt gemacht hatte, dessen gewagte erotisierende Halbnacktheiten sich mit den ersten erotischen Eindrücken meiner Kindheit vermischen. Was dieses Zimmer enthielt, kann ich nicht mehr sagen, denn ich weiß, dass ich es selten betreten durfte.

Auf der anderen Seite führte eine Schiebetür ins Speisezimmer, die zur Hälfte mit geschliffenen Milchglasscheiben ausgerüstet war, da das typische »Berliner Zimmer« (das Esszimmer) stets etwas dunkel war, weil es nur ein einziges Fenster zum Hof des Hinterhauses hatte. Während im Vestibül eine Lampe hing, deren vielfarbige Butzenscheiben keine Helle, sondern nur Halbdunkel verbreiteten, hing über dem großen und schweren Esstisch, der, wenn nicht gegessen wurde, mit einem Teppich in ausgezeichneter Perser-Imitation bedeckt war, ein »Kronleuchter« mit vielen stehenden Flammen und einem grünen Seidenschirm, der die Petroleumlampe und dann später die Gasflamme kunstvoll verbarg. An den Wänden gab es viele »Bauernteller« aus bemaltem Ton oder Porzellan, und auf dem Buffet, einem Monstrum an Größe, mit vielen Aufsätzen, Nischen und Säulen und, als Clou, eine Art Grotte mit einem großen hängenden Delphin aus Zinn, aus dessen Maul Wasser laufen konnte (falls man es durch den Schwanz des Fisches eingefüllt hatte), mit einem Muschelbecken darunter zum Händewaschen, standen eine Menge von großen, mittleren und kleinen Zinntellern auf Drahtständern, wie auch Krüge aus dem gleichen Metall und aus Kupfer, wobei mir ein Literkrug, mit sinnigen Bildern aus der deutschen Sage in Hochrelief verziert, besonders lebhaft in Erinnerung ist, weil sein dicker ziselierter Zinndeckel einen hockenden Zwerg darstellte.

Vom Speisezimmer führte dann der lange Korridor zur Küche, nachdem er vorher am Schlafzimmer meiner Eltern, möbliert ebenfalls in reichgedrechseltem Eichenholz, und am Badezimmer vorbeilief. Die Küche meines Kindheits-Elternhauses ist mir noch erinnerlich durch die Person des Bräutigams der Köchin, eines Feldwebels, dessen Name mir leider entfallen ist – und durch das Singen der »Dienstboten«, durch Lieder wie »Die Bank am Elterngrab« (der schönste Platz, den ich auf Erden hab’, das ist die Rasenbank am Elterngrab), das prä-antisemitische Lied »Hab’n se nich den kleinen Cohn gesehn«, die Moritat »Sabinchen war ein Frauenzimmer, gar hold und tugendhaft«, »Du hast Diamanten und Perlen«, »Lampenputzer ist mein Vater am Berliner Stadttheater« und ähnliche mehr.

Dies war meine erste Berührung mit Musik. Trotzdem meine Mutter musikalisch war, entsinne ich mich nicht, dass ein Klavier oder anderes Musikinstrument im Elternhaus existierte. Tatsächlich (difficile est satiram non scribere) dürfte – neben einigen Wiegen-, Kinder- und Volksliedern sowie Chorälen der protestantischen Kirche – meine erste aktive Berührung mit der Musik der Gasse das Lied »Hab’n se nich den kleinen Cohn gesehn« gewesen sein. Ehe ich die Tragikomik einer speziellen Situation hinsichtlich dieses dummen Liedes berühre, muss ich noch etwas verweilen beim äußeren Aspekt meines Elternhauses, als Sinnbild der Zeit und ihres Geschmackes. Bekanntlich sind Bilder und Bücher in einer Wohnung weit mehr der Spiegel ihrer Bewohner als die Möbel. Nicht an alle Bilder und Kunstgegenstände erinnere ich mich, doch blieb eine Heliogravüre von Böcklins »Toteninsel« durch lange Jahre ein wesentlicher Wandschmuck. Im Arbeitszimmer meiner Mutter hing die Reproduktion eines Christuskopfes mit der Dornenkrone (wenn ich mich nicht irre, von Uhde), eine Reproduktion der Raffael’schen »Madonna della Sedia« in rundem Rahmen und eine Fotografie-Vergrößerung eines Bildes meines Großvaters mütterlicherseits, ein ausnehmend schönes und durchgeistigtes Gesicht darstellend. Das wunderschöne Jugendbild meiner Großmutter, Original eines Düsseldorfer Malers, ebenso wie kleinere Gemälde der Vorfahren väterlicherseits, das Bild des Großvaters meiner Mutter und einige romantische Bilder in Spitzweg-Manier (ein Heuwagen mit Bauern und einem weißen Spitz) vervollständigen die Erinnerung an jene Zeit. Später änderte sich das Bild, oder besser die Auswahl der Bilder. Ich werde später davon erzählen. Zu erwähnen ist noch, dass der Hang meines Vaters zur Klassik sich in Gipsreproduktionen pompejanischer Hochreliefs kundtat und in einer Reproduktion der goldhaarigen Venus anadyomene des Botticelli, zum Schmucke seines Arbeitsraumes.

Die immer wachsende Bibliothek meiner Eltern – Vater hatte die seine und Mutter die ihre – wurde für mich erst viel später Objekt lebendigen Interesses, als wir schon im Villenvorort Zehlendorf wohnten, wo Vater ein Haus erwarb. Doch ich will nicht vorgreifen, sondern nur von diesen ersten acht oder zehn Jahren meiner Kindheit berichten, der ersten Epoche meines Lebens, in welcher ich noch nicht eigentlich Subjekt war, sondern Objekt in einer Welt, die mir – wie es mir heute scheint – immer fremd blieb und nur wie eine Introduktion meiner Lebenssymphonie ist. Inwieweit eine solche Einleitung das thematische Material für die später immer verzwickter werdende Polyphonie lieferte, kann ich selbst kaum beurteilen und will dies auch nicht versuchen, zumal ich anfänglich beschloss, kommentarlos zu bleiben, die Analyse dem Leser überlassend.

Ehe ich zum Bericht der Aktionen unter den Gestalten meiner Kindheit komme, sei mir gestattet, ein wenig Familiengeschichtliches einzuflechten, zumal dies der stets gleich bleibende Prospekt der Szene meines Lebensdramas ist, trotzdem vor ihm die Akteure in bunter Fülle wechseln, und die Zeiten und Orte gleichermaßen.

Ich entstamme einer Mischehe im rassischen Sinne. Mein Vater war Volljude und hatte den Namen Fritz Theodor Cohn. Auch seine Mutter war eine geborene Cohn, er entstammte also ältestem jüdischen Adel. Seine Vorfahren kamen aus Spanien in die Niederlande, wanderten den Rhein herauf und müssen sich wohl in Boppard niedergelassen haben, denn die (allerdings dürftigen) Familienforschungen, die mein Vater einmal betrieb, zeigten, dass Teile der Familie »Boppard« hießen. Die eigentliche Geschichte der Familie Cohn ist aber an Berlin gebunden. Sie war eine jener Gemeinschaften, wie sie Georg Hermann in seinem Berliner Roman »Jettchen Gebert« schilderte (einer der größten Bucherfolge des späteren Verlages meines Vaters). Mein Großvater, den ich ebenso wenig kannte wie den mütterlicherseits, war Chemiker und hatte in der alten Berliner Vorstadt Martinikenfelde eine chemische Fabrik. Was eigentlich er dort fabrizierte, habe ich nie erkunden können, und es scheint, dass auch mein Vater es selbst nicht recht wusste. Vaters Mutter, eine engelhaft schöne Frau, ohne jeden Zug jüdischen Ausdrucks im lieblichen Gesicht, starb mit dreißig Jahren an dem, was man damals »galoppierende Schwindsucht« nannte, und hinterließ drei Kinder, zwei Knaben und ein Mädchen. Der ältere Bruder meines Vaters, Ernst, wurde Frauenarzt und hatte eine Tochter, Ernesta, die einen Belgier namens de Goy heiratete, welcher Ehe zwei Kinder, René und Suzanne, entstammten. Onkel Ernst selbst scheint ein »Ladykiller« gewesen zu sein, und ich nehme an, dass Ernesta ein sogenanntes »Kind der Liebe« war, für damalige Begriffe den Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft bedeutend. So hörte ich von diesem Bruder meines Vaters, den ich auch nie gesehen habe, nur sehr Spärliches. Die Schwester meines Vaters, meine Tante Käte, war eine prächtige Frau, schwer zu ertragen für längere Stunden, aber von der gleichen tiefen menschlichen Güte erfüllt, die meinem Vater eignete, ihm in ihren Lebensäußerungen sehr ähnlich, ohne allerdings die profunde Bildung und das hohe Niveau ihres Bruders zu besitzen. Sie und ihre Familie sind später in den verschiedensten Formen der Mordlust der Nazis zum Opfer geworden.

Der Großvater Cohn heiratete ein zweites Mal, diesmal eine Anna Redlich, Jüdin aus Odessa, die Vaters Stiefmutter wurde. An diese Großmutter habe ich nicht nur ihres gütigen und tiefmütterlichen Wesens halber eine frohe Erinnerung, sondern besonders deshalb, weil die erste Automobilfahrt meines Lebens mit ihr in einem elektrischen Automobil, ein Chauffeur mit weißer Lackmütze hoch oben am Steuer thronend, stattfand. Vater wollte ihr, die entfernt von unserer Wohnung in Charlottenburg wohnte, einen Sonntagsbesuch machen und nahm sein einziges Kind, das Ernstchen, mit. Ein heftiger Regen überraschte uns, als wir nach Hause wollten, und so traten wir den Rückzug just in jenem ganz modernen Vehikel an. Ich gestehe, dass dies das Erlebnis eines der stärksten meiner frühen Kindheit war und damit die Person dieser Stief-Großmutter in meine Erinnerungen gerettet hat. Später, als ich schon anfing, mich mit Musik zu beschäftigen, erfuhr ich, dass Großmutter Anna Cohn großen Künstlern, wie u. a. dem Cellisten Piatigorsky und dem Geiger Joseph Wolfsthal, Obdach, Essen und jederart Hilfe angedeihen ließ, ebenso wie »Tante Berta« (eine Tante meines Vaters, ein verhutzeltes altes Weibchen) die Wahlmutter Mischa Elmans war, als er aus dem Osten nach Berlin kam, um seine Studien dort zu beenden. So ist also scheinbar das Interesse für Musik auf der väterlichen Seite hauptsächlich bei diesen alten Damen gewesen. Meines Vaters Neigung war die Literatur. Er hatte in Hamburg die kaufmännische Lehre durchgemacht bei seinem Onkel Richard – durch dessen Prostataleiden ich bei meinem späteren ersten Besuch Hamburgs, auf der Durchreise zu einer der Nordseeinseln, mit etwa vierzehn Jahren die sämtlichen Bedürfnisanstalten dieser Stadt kennen lernte, denn er eilte von der einen zur andern –, hatte das Cholerajahr in Hamburg miterlebt, war dann Reisender für Wachstuch und dergleichen in Dänemark und Schweden. Vater ging dann für einige Zeit nach New York (»wie töricht, dass ich nicht dort blieb«, sagte er später oft, »es war die Zeit des rasenden wirtschaftlichen Aufstiegs der Staaten; aber das Heimweh trieb mich zurück.«) und drehte dann nach seiner Rückkehr dem nüchternen Kaufmannsberuf den Rücken, vereinigte sich – ich weiß nicht mehr durch welche Umstände veranlasst – mit einem der Söhne Theodor Fontanes und gründete den »Drei Ähren Verlag – Fontane & Co.« und wurde zuerst in der Lützowstraße in Berlin sesshaft. Vom alten Fontane existiert ein Gedicht über seinen siebzigsten Geburtstag, in welchem er die Namen des preußischen und besonders märkischen Schwertadels, die zur Huldigung des großen Schriftstellers, Dichters und Menschen kamen, aufzählt und die Dekadenz und oberflächliche Minderwertigkeit dieser Kaste glossiert, schließlich sich empfehlend den Arm des jungen Buchverlegers nimmt und das Gedicht mit den Worten beschließt: »Kommen Sie, Cohn.« Und hierbei erinnere ich mich an eine schöne Fotografie des greisen Fontane mit schlohweißen langen Haaren mit einer handschriftlichen Widmung an meinen Vater, die gerahmt stets im Arbeitszimmer meines Vaters hing.

Großvater Cohn hatte mit Anna Cohn, geb. Redlich, noch einen Sohn gezeugt: meinen Onkel Franz, der sich schon frühzeitig in Colmers umtaufen ließ und eine große Chirurgenkarriere machte, Geheimrat und Leibarzt verschiedener gekrönter Häupter wurde, um sich schließlich als einstmaliges Mitglied des Preußischen Herren-Clubs, die Brust bestückt mit den Orden und Verdienstkreuzen vieler Länder, 1933 nach den USA abzusetzen, wo er in der Park Avenue eine Praxis eröffnete. Er dürfte heute längst ins Emigranten-Walhall abberufen sein.

Meine Kindheit war bevölkert von den großen Namen jener Zeit, in der die »Junge Freie Volksbühne« die führende Avantgarde der Literatur und des Theaters war: Gerhart Hauptmann, Herbert Eulenberg, Cäsar Flaischlen, Georg von Ompteda (der großartige Maupassant-Übersetzer), Fedor von Zobeltitz, Max Osborn, Richard Huch, Börries von Münchhausen, Ina Seidel, Georg Hermann, Heinrich Zille und noch viele andere waren der Freundeskreis meiner Eltern. Das Haus meiner Eltern war eines der am meisten der Literatur verhafteten in Berlin, zumal meine Mutter damals zu den ganz großen Hoffnungen und Erfüllungen der deutschen Roman-Literatur gehörte.

Mutter war, wenn auch ganz anders als Vater, ebenfalls bürgerlicher Herkunft. Für beide Teile bedeutete ihre Heirat zunächst eine Mesalliance, da die Familien der beiden Liebenden aus religiösen, nicht rassischen Gründen dagegen waren und es harte Kämpfe gab. Da aber meine Mutter bereits sechsunddreißig und mein Vater zweiunddreißig Jahre alt waren, so halfen alle Widersetzlichkeiten der Familien nichts, zumal mein Vater freudig gerade und überzeugt zum evangelischen Glauben konvertierte. Und es muss zum Lob meiner Großmutter und aller Familienangehörigen mütterlicherseits gesagt werden, dass – so lange ich denken kann – niemals auch nur der Schimmer einer antisemitischen Einstellung bei ihnen zu finden war, und dass mein Vater seiner Schwiegermutter ein rührend guter Sohn war und die Zuneigung der alten Dame, die mit zweiundachtzig Jahren starb (ich erinnere mich sehr gut an sie) bis zuletzt besaß. Nicht ganz so auf Seiten der Familie meines Vaters. Meine Mutter fühlte sich stets als Eindringling, und nur die Tatsache ihres berühmten Schriftstellernamens ließ die Verwandtschaft schweigen.

Meine Mutter ist in der Stadt Trier im Schatten der Porta Nigra geboren als letztes von drei Kindern des Oberregierungsrates Ernst Viebig und der Clara Langner. Von ihren Geschwistern kannte sie nur ihren achtzehn Jahre älteren Bruder Ferdinand, der trotz seines dringenden Wunsches, Kapellmeister zu werden, die Staatsbeamtenkarriere einschlagen musste und schließlich Oberstaatsanwalt der Provinz Hessen wurde. Er war verheiratet mit Henriette Göring, einer Tante des nachmalig unrühmlichst bekannten Reichsmarschalls Hermann Göring, wobei gleich gesagt sein soll, dass diese großartige Frau, die später eine bedeutende Rolle in dem protestantischen Orden der Herrnhuter spielte, niemals irgendwelche Neigung für den Nazismus zeigte. Immerhin zeigt durch sie mein Familienbild die Groteske auf, dass ich auf diese Weise durch Tante Henriette ein Schwippvetter des Reichsjägermeisters wurde: meine Tante, seine Tante! Der älteste Bruder meiner Mutter, ebenfalls Ernst heißend, war ein belastetes unglückliches Kind. Er war Epileptiker und starb glücklicher Weise als junger Mann im Hause des schwäbischen Pfarrers Holzbaur, dessen eine Tochter später im Hause meiner Eltern eine wichtige Rolle spielen sollte.

Alle diese Beziehungen beweisen die starke Bindung der Viebigschen Familie zum Protestantismus. Die Mutter meiner Mutter war eine enge Freundin des Pastors von Bodelschwingh, des Begründers der Stiftung für Epileptiker »Bethel«. Nun meine Mutter im erzkatholischen Trier und später, als der Großvater stellvertretender Regierungspräsident in Düsseldorf wurde, dort aufwuchs, erklärt sich die Stärke ihres protestantischen Glaubens dadurch, dass sie, als profunde Kennerin katholischen Dogmas und katholischer Bräuche, niemals daran dachte, zum Katholizismus zu konvertieren, sondern lebenslang durch ihr schriftstellerisches Werk in dichterischer Form Kritik am Katholizismus übte. Großvater Viebig und Großmutter Langner stammten aus dem Osten, der Provinz Posen. Meine Mutter lernte schon als junges Mädchen, zu Besuch bei ihrem (ich glaube) Patenonkel Matthieu im katholischen Trier, welcher dort Untersuchungsrichter war, die Eifel und, durch Besuche bei ihren Verwandten in der preußischen Provinz Posen, das östliche Deutschland – wieder stark katholisch – kennen und die Versuche des Preußentums, die polnische Irredenta aufzusaugen. Die Polenfrage, die damals die Gemüter der preußischen Intelligenz und des Junkertums bewegte, fand seinen Niederschlag in Mutters Roman »Das schlafende Heer«, in welchem sie das Wiedererwachen Polens seherisch voraussagte. Diese Art Gegensätze des Osten und des Westens und der Glaubensbekenntnisse haben aus meiner Mutter eine begeisterte Preußin gemacht, zumal sie als Kind die Preußisierung des Rheinlandes und die Einigung des Reiches unter der Kaiserkrone 1871 (sie war damals elf Jahre alt) bereits bewusst miterlebte. Ihr Roman »Die Wacht am Rhein« ist der – allerdings liebenswürdigere – Gegensatz zum schlafenden Heer. Berühmt wurde meine Mutter allerdings schon durch eines ihrer ersten Bücher, »Das Weiberdorf«. Und ich werde noch, ohne die Absicht, mich biografisch oder literarisch in das Lebenswerk meiner Mutter zu vertiefen, im Verlauf meiner eigenen Lebensgeschichte gelegentlich auf dieses und jenes Werk ihrer Feder zurückkommen.

Wichtig ist für mein Leben, dass meine Eltern spät heirateten. Ich wurde geboren, als meine Mutter bereits siebenunddreißig und mein Vater dreiunddreißig Jahre alt waren, und ich blieb das einzige Kind dieser relativ alten Eltern. Die Erinnerung meiner Kindheit kennt eine überaus schöne Frau, hochgewachsen und etwas heroisch, und einen zierlich gewachsenen, geistvollen und witzigen Vater, der ein etwas ungeduldiges und heftiges Temperament hatte. Die Eltern lernten sich dadurch kennen, dass die junge Clara Viebig zu dem Verleger Fritz Th. Cohn, Sozius des Fontane-Verlages, kam, nachdem sie mit ihrer Mutter nach Großvaters Tod nach Berlin verzogen war, um an der Hochschule für Musik Gesang zu studieren, aber nebenbei zu schreiben begann und damals die Erstlinge ihres Schriftstellertalentes meinem Vater zur Beurteilung vorlegte. Es mag wohl 1895 gewesen sein, als beide sich zuerst trafen. Aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich das erste Urteil meines Vaters über das, was sie ihm vorlegte. Er sagte: »Mein liebes Kind – das ist schlecht – aber sie haben Talent.« Und nun begann der Verleger die junge Autorin zu leiten, ihr Rat und Erklärungen zu geben. Das geistige Band wurde geschlossen, dem das einer tiefen Liebe bald folgte. Bis an das Ende seiner Tage hat meine Mutter in ihrem Mann den besten Kritiker gefunden, der sie beraten hat.

Als Kind und Knabe führte ich den Doppelnamen Cohn-Viebig, bis mein Vater die Löschung des Namens »Cohn« durch kaiserliche Kabinettsorder für mich erwirkte und ich seitdem den Namen »Viebig« legaliter allein führe.

Ich kehre zurück zu meiner Kindheit nach dieser notwendigen flüchtigen Abschweifung ins Familiengeschichtliche.

Eine dunkle Erinnerung, wahrscheinlich unterstützt durch Erzählungen meiner Mutter, die später manchmal sagte: »Ernst war ein so liebes Kind«, führt mich in jenes Kinderzimmer gleich rechts neben der Vordertür jener Wohnung, von der ich schon sprach: ein Zimmer, dessen Fenster nach einem halbdunklen Hof hinausging. Ich sehe mich in einem Stühlchen sitzen, in dessen Sitz ein Töpfchen eingelassen war und vor welchem ein Spieltisch das Kind am Herausfallen hinderte. Dieser Tisch hatte rechts und links zwei Reihen bunter Kugeln auf ein Drahtgestell aufgereiht und in der Mitte ein Bild mit vielen Tieren in grellen Farben. Ich sehe mich stundenlang eingepfercht in dieses Stuhltischchen – ganz allein. Und dieses Alleinsein ist mir als wesentlich in Erinnerung geblieben. Ich hatte keine Geschwister, keine Gespielen als Kleinkind, nur das Mädchen Ida (war es die, deren Bräutigam der Feldwebel war, oder eine andere – ich weiß es nicht mehr). Meine Mutter arbeitete, war in der ersten Periode ihres schriftstellerischen Aufstieges. Zwei große Romane, Novellen und anderes waren die »Jahresproduktion«. Sie schrieb alles mit der Hand, erst ins »Unreine« und dann nochmals in »Reinschrift«, diabolische Qual der Arbeit in einer Zeit, da es die Schreibmaschine noch nicht gab. Als sie mit mir im siebenten oder achten Monat schwanger ging, wurde in Frankfurt am Main ihr Einakterzyklus »Der Kampf um den Mann« (in naturalistischem Ibsen- und Hauptmannstil, befruchtet von ihrem Meister Zola) uraufgeführt, ein Stück, in welchem der später so berühmte Victor Barnowsky debütierte und dank seiner und meiner Mutter mäßigen Leistung einen Theaterskandal verursachte. Mutter behauptete stets, dass meine Tendenz zum Dramatischen im Leben und Schaffen jenem Theaterskandal zu verdanken sei. Ihre unglückliche Liebe war das Theater. Da ihr der Theatererfolg nicht beschieden war, trotz der großen Rosa Bertens, die mit der »Bäuerin« triumphale Tourneen durch Deutschland machte, haben Mutter und Sohn, ohne Zweifel, diese Theaterinstinkte weitestgehend ins praktische Leben verdrängt. Erst späte Reife sollte das ändern.

Das Kinderzimmer wurde später, als ich sechs Jahre alt war, durch eine Art von Katheder bereichert, an dem ich unter eines Herrn Borkenhagens Leitung das Lesen, Schreiben und Rechnen lernte. Aus einem mir unbegreiflichen Grunde gab man mir einen Hauslehrer, anstatt mich in den normalen Schulgang einzureihen. Es war gewiss nicht »Protzerei« meiner Eltern, eine hässliche Eigenschaft, die beide nie hatten und damals schon gewiss nicht, denn sie waren keineswegs reiche Leute, sondern kämpften sich durch. Vater hatte seinen Fontane-Verlag inzwischen umgewandelt in den Verlag Egon Fleischel & Co., in dem Fleischel der Geldmann und Vater der gestaltende Kopf war, und Mutter verkaufte die Vorabdrucke ihrer Arbeiten an »Velhagen & Klasing«, »Über Land und Meer« – also Familienblätter, bis schließlich die »Berliner Illustrierte« fünfzigtausend Goldmark für den Vorabdruck eines ihrer Bücher zahlte. Aber das war viele Jahre später.

Dieser Herr Borkenhagen, ich habe ihn dunkel in Erinnerung, ein armer Kerl, der von meiner Mutter mit dem albernen Vers bedacht wurde: Herr Borkenhagen, darf ich’s wagen, Sie zu fragen, wie viel Kragen Sie getragen etc. – war gewiss keine Leuchte unter den Pädagogen. Auch glaube ich, dass ich von Anbeginn ein sehr schlechter Lerner war, eine Plage meiner Lehrer. Meine Schulzeit ist mir in Erinnerung als die schrecklichste Epoche meines Lebens, zweifellos für alle, die mit mir zutun hatten, gleichermaßen. Das kleine Einmaleins habe ich bis zum heutigen Tage nicht gelernt. Acht mal sieben, fünf mal neun, sechs mal acht und ähnliches sind heute noch für mich Aufgaben, die ich nur mit Hilfe von »Umdenken« lösen kann. Wie das möglich ist, bleibt mir ein Rätsel, denn das logische Denken habe ich frühzeitig erfasst dank der Belehrung durch meinen Vater und der Beschäftigung mit Philosophie und Klassik. Aber das Einmaleins blieb mir allzeit Hekuba.

Aus jener frühesten Kindheit ist mir ein Erlebnis stets gegenwärtig geblieben: Die erste erotische Sensation. Nicht bewusst, aber sie blieb im Unterbewusstsein: ein Kindermädchen, das mich nachts in ihr Bett nahm und an mir – wie man sagt – »unzüchtige Handlungen« vornahm, mir ihre Brüste zeigte, mich daran saugen ließ und sinnliche »Spiele« mit mir trieb. Ob ich, der ich mit dem »Soxhlet«, also mit der Flasche aufgezogen wurde, triebhaft handelte, und ob diese Tatsache für mich eine psychologische Zukunftsbelastung darstellte, kann ich nicht entscheiden. Ich erinnere mich aber der Tatsache lebendig. So lebendig, dass vor ihr viele andere Erinnerungen an die frühe Kindheit verblassen. Später – ich besaß schon viele Spielsachen, wie Unmengen von Zinnsoldaten, Ritterburgen mit Zugbrücken, Stofftiere und sogar eine Eisenbahn mit einer Lokomotive zum Aufziehen, ein Kasperletheater mit den Figuren des Teufels, des Krokodils, dem Kasper mit einer Zipfelmütze und anderen; und als schönstes eine Arche Noah, die einen wahren Zoo an Tieren enthielt – hatte ich einen ersten Spielkameraden, den Sohn eines damals sehr berühmten Magenspezialisten, Gerhard Kuttner, der ein Stockwerk über oder unter uns wohnte, gleichermaßen ein verhätschelter »Judenjunge«. Wesentlich ist mir nur der Name in Erinnerung, der Junge nicht. Viel lebendiger aber blieb mir die Erinnerung an unsern Portierssohn, dessen Name mir allerdings nicht mehr gewärtig ist. Dieser Junge war halbblöde, und ich liebte ihn sehr. Er war älter, und ich schaute zu ihm auf, wie später meine Landsleute zu ihrem »Führer«. Er durfte gewiss nicht in unsere Wohnung kommen, dieser schlecht angezogene, zwergenhafte Bursche mit dem Wasserkopf und den Basedowaugen, körperlich verfettet durch Drüsenstörungen, mit schwerer Zunge, aber ich fand genug Gelegenheit, mit ihm zusammen zu sein.

Meine Großmutter, Mutters Mutter, wohnte ein paar Häuser von uns entfernt, und ich durfte, so etwa mit vier Jahren, morgens allein zur »Omama« gehen, da ich den Fahrdamm nicht zu überschreiten hatte. Dort waren auch Portierskinder, von denen ein kleines Mädchen eine Nähmaschine mit Handbetrieb hatte – man stelle sich vor, welch ein Monstrum das 1901 oder 1902 gewesen sein mag. Da Großmutter ja nun, damals schon weit über siebzig Jahre alt, nicht allzu viel mit ihrem Enkelsohn anzufangen wusste, war es verständlich, dass die Portierskinder mit mir spielten. Der halbblöde Junge aus unserem Haus schleppte mich aber eines Tages mit sich unter den »Bülow-Bogen«, die Kreuzung der Bülow- und Potsdamerstraße, wo für damalige Verhältnisse ein lebensgefährlicher Wagen- und Straßenbahnverkehr herrschte, um mitten auf der Straße, zwischen den Wagen stehend, die Straßenbahnschaffner um leere Billetblocks anzubetteln: »Ha’m se ’n leeren Block?« Das Abenteuer endete damit, dass Großmutter und Eltern die Polizei alarmierten und ich samt meinem »Führer« heil ins Elternhaus geschafft wurde. Die Kontrolle wurde verschärft, und es blieb nur der Weg zur Großmutter am Morgen, wohin ich jeden Tag marschierte, mit Stentorstimme den Schlager des Tages singend: Hab’n se nich den kleinen Cohn gesehn?

Ich wurde sieben Jahre und sollte in die Schule, das »Hohenzollern-Gymnasium[2]«, hatte also nach einem Jahr Privatunterricht die »Reife« für die damalige zweite Vorschulklasse. Von dieser Schule weiß ich nur, dass sie ein großes Gebäude aus rotem Backstein war und dass ich dort wenig reüssierte. Denn aus jener Zeit stammt meine Erinnerung des Hinter- und Vordereingangs, den ich im Anfang meiner Erzählung als bezeichnend für meine wissenschaftlichen Fortschritte erwähnte. Mein Vater, der herzensgütigste Mensch meines ganzen Lebens, war ein jähzorniger Mann. Er sah in seinem Sohn sein Idol, wünschte ihn vollkommen, musterhaft und untadelig. Ach, was wurde der arme Mann enttäuscht! Erst Jahrzehnte später (1936), als ich den jähen Tod meines Vaters durch Telegramm »Vater sanft entschlafen« in Brasilien erfuhr, lernte ich, was er war, wer er war und wie er war. Ich weinte wohl die echtesten und bittersten Tränen meines Lebens, und niemals wieder war der Begriff des »Mea culpa, mea maxima culpa« so lebendig in mir wie damals.

Doch ich greife wieder vor, die Gedanken tragen mich fort, und ich muss sie zügeln, um bei der Sache zu bleiben. Vater schlug mich oft in seiner Heftigkeit, oft wegen wenig belangvoller Dinge. Er schlug mich nicht ins Gesicht, verlangte von mir, dass ich in mein Zimmer ginge, um die Hosen auszuziehen. Dann kam er und schlug mich mit der Rute und später mit einem Rohrstock (die Rute hing irgendwo an der Wand in meinem Zimmer, sie hatte ein rotes Band, welches die Reiser zusammenhielt) kräftig auf meine Sitzfläche. Es liegt mir ferne, durch diese Erzählung das Andenken meines Vaters herabzusetzen, denn die körperliche Züchtigung war ja zu jener Zeit durchaus nichts Ungewöhnliches, sondern gang und gäbe in Elternhaus und Schule (Erbe preußischer »Zucht«, durch die sich der sogenannte »Alte Fritz« so unsterblich gemacht hat), doch muss ich dieses Faktum besonders eingehend behandeln, denn lange Jahre hindurch währte diese törichte Form der Erziehung in mein Leben, deren Folgen für mich und für meine Eltern katastrophal werden sollten. Ein selbstquälerischer Zug meines Wesens und eine gewisse Form von Sado-Masochismus hat ohne Zweifel seine Wurzeln im Nährboden dieser für unsere heutigen Begriffe sinnlosen Form der Erziehung, die mir bei einem Vater hoher Kultur und echter Herzensgüte einfach unfassbar ist.

Andererseits wurde ich ebenso ohne vernünftiges Maß verwöhnt. Jedoch – ich kann das heute rückschauend wohl beurteilen – in einer Form, die ich als Kind, namentlich etwas später, als ich ein Urteil über die Dinge im Allgemeinen bekam, einfach nicht verstehen konnte, weil meine Eltern ihre Wohltaten an mir, ihre Güte und Liebe von ihrem eigenen und nicht von meinem Kinderstandpunkt aus betrachteten, und oft unglücklich waren oder mich gar »undankbar« nannten, weil ich das mir Gebotene nicht gebührend schätzte oder mich sogar dagegen zur Wehr setzte. Mir ist eine typische Geschichte in Erinnerung, die klar und eindeutig diese permanent durch meine Jugend gehende Situation aufzeigt. Ich mag wohl sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, da reisten meine Eltern mit mir in die Schweiz und versprachen sich davon, dass der Anblick der Viertausender-Gipfel mit dem ewigen Schnee auf mich einen gewaltigen Eindruck machen müsste. Vorauszuschicken ist, dass die damalige »Mode-Ernährung« (kein rohes Obst, sondern alles gekocht und ähnlicher Unsinn) unter anderm auch den Genuss von Käse als zu schwer für den Kindermagen betrachtete. Ich erinnere mich, dass wir in Bern ankamen und in einem der schönen Schweizer Hotels abstiegen (das Kindermädchen war natürlich mit), und dass meine Mutter mir die weißen im Abendsonnenglanz ruhenden Schneegipfel der Berner Alpen, besonders die Jungfrau, die von unserm Hotel aus prächtig zu sehen war, zeigte. Wir gingen zur Table d’hôte, um das Diner einzunehmen, welches selbstverständlich mit der köstlichen »Beurre et fromage«-Platte schloss. Und es geschah das Wunder, dass meine Eltern das große Risiko auf sich nahmen, mir etwas Gervais-Käse zu gestatten. Kurzum – nachdem ich ins Bett gebracht worden war, kam meine Mutter zum Gutenacht-Kuss und zum Beten, und ich brach schließlich in den Ruf aus: »Ach Mutti, ich bin ja so glücklich!« Meine Mutter, gerührt über den gewaltigen Eindruck, den die herrliche Landschaft auf das zarte Kindergemüt gemacht hatte, antwortete denn auch natürlich: »Ja, mein Jungchen, es ist wirklich ein Erlebnis, zum ersten Mal die Schneeberge, die Jungfrau, gesehen zu haben.« Aber mein damals noch ehrliches Kinderherz enttäuschte sie arg, denn ich schüttelte den Kopf: »Nein nicht deswegen, Mutti, nein, weil ich Käse bekommen habe!«

Diese kleine lustige Episode war bezeichnend für die Art, wie man mich behandelte, ich könnte zahllose ähnliche Fälle meiner Kinderjahre aufzählen. Die Deduktion würde stets die gleiche bleiben.

Gleichermaßen bemühte man sich, mir eine Sonderstellung zu schaffen. Außer den erwähnten kennt meine frühe Kindheit keine Gefährten gleichen Alters. Ich wuchs auf zwischen – im Verhältnis zu meinen Jahren – uralten Leuten, glaube aber nicht, dass ich ein typisch altkluges Kind war. Das einzig Schöne, dessen ich mich erinnere, waren meine Krankheiten, Kinderkrankheiten, wie sie alle Kinder haben, die damals, da es noch keine modernen pharmazeutischen Mittel gab, meist in üblicher altväterischer Weise mit Prießnitzumschlägen, kalten und warmen Wickeln, heißer Milch mit Honig, »Emser Kränchen« und ähnlichem behandelt wurden. Eine Mandel- und Nasenwucherung-Operation bleibt mir eine blutig-grausige Erinnerung, so sehr, dass ich mich des Namens des Arztes, eines Dr. Schoetz, noch erinnere, ebenso wie an die ganze abscheuliche Prozedur. Solche Krankheiten aber sind mir gewärtig, weil dies die eigentlich einzige Zeit war, während der meine Mutter mir gehörte. Sie saß dann stundenlang an meinem Bett und las mir vor. Sie war eine bewundernswerte Leserin. Ihre Stimme und Art machten die Figuren der Märchen und Sagen unsterblich lebendig in mir. Die Märchen von Bechstein und Andersen, die »Träumereien an französischen Kaminen«, die Sagen der deutschen, griechischen und römischen Geschichte, Defoes Robinson, Coopers Lederstrumpf grub sie unverlöschbar bis zum heutigen Tag in meine Seele und meinen Geist. Grimms Märchensammlung las ich erst später. Mutter hielt Grimms für »zu roh«, dagegen las sie mir etwas später E. T. A. Hoffmann und den Scheffel’schen Ekkehard vor, und Frau Hadwig und die schöne Praxedis bevölkerten meine Phantasie. Auf einer verregneten Schweizer Sommerreise las Vater uns »Hermann und Dorothea« vor (ich war damals wohl acht bis zehn Jahre alt), und so pflanzten mir – um dies wenige zu nennen – meine Eltern in den Garten meiner Kindheit die prächtigsten Blüten und Bäume der deutschen klassischen und besonders romantischen Literatur. Schundheftchen wie »Die Gartenlaube«, »Sherlock Holmes« und andere, heute als »comic strips« die Jugend verpestend, sowie der »verlogene« Karl May kamen nie in unser Haus, und ich habe nicht bemerkt, dass die Unkenntnis solcher Machwerke mir je gefehlt hätte.

Um das Jahr 1905 herum – ich war also damals acht Jahre alt – zogen wir aus der eigentlichen Stadt Berlin in den Villenvorort Zehlendorf, der bis zu meiner Auswanderung nach Brasilien 1934, also fast dreißig Jahre lang, meine eigentliche Heimat wurde.

Das Elternhaus meiner Jugend, meiner Freuden und Leiden, das Haus, in dem sich der größte Teil meines Lebens als heranwachsender Knabe, als Jüngling und junger Mann abspielte, war dort im Haus Nr. 3 der Königstraße, die darum so hieß, weil weiland der Weg von Potsdam nach Berlin durch diese Straße führte und der »große König« von Sanssouci dort entlang kutschierte durch die Felder und Waldungen des großen Rittergutes Düppel, von dem nur noch ein kleiner Rest erhalten war, als wir dorthin zogen. Zehlendorf war damals weit abgelegen und nur in fünfundzwanzig Minuten Bahnfahrt mit der »Wannseebahn«, die in der Nähe des Potsdamer Platzes endete, zu erreichen. Vaters Verlag lag jedoch eine Minute vom Bahnhof entfernt und unser Haus sieben oder acht Minuten Fußweg von der Bahnstation, so dass die Entfernung kein Problem darstellte. Die Bewohner des Vorortes waren fast durchweg wohlsituierte Leute, Kaufleute, höhere Beamte, Offizierswitwen mit Pension, einige Ärzte, kurz: ein gehobener Mittelstand, leicht aufgeputzt durch einige Millionäre wie den bekannten Optiker Ruhnke, den Nachbarn in unserer Straße, Herrn Engel (ein alter Wucherer), dessen Grundstück an das unsere stieß, und noch ein paar andere.

Unser Haus, ein schon mindestens zwanzig Jahre altes Gebäude im einigermaßen verworrenen Stil der Gründerzeit, aber doch noch Landhauscharakter tragend, lag inmitten eines herrlichen großen Gartens. Eine hundertjährige Linde beherrschte den Vordergarten, in Blüte alles in der Runde mit ihrem lieblichen Duft erfüllend. Diese Linde bleibt in meiner Erinnerung der schönste Baum meines Lebens, ihre Äste breiteten sich zehn bis fünfzehn Meter in der Runde, und der stärkste Regen drang nicht so leicht durch ihr Blätterdach. Leute standen am Gartenzaun auf der Straße, die Schönheit dieses Baumes zu bewundern. Der Garten war überreich mit Fliederbüschen, weiße und lila Dolden, mit etwa sechzig alten schönen Obstbäumen, Sträuchern und Blumen aller Art gefüllt: das ganze, vielleicht wirklichste Glück meiner Eltern, die beide die Natur über alle Maßen liebten. Vater widmete sich der Rosenveredlung, züchtete die köstlichsten Artischocken, eine Seltenheit im nordischen Bereich Deutschlands, ließ Mistbeete anlegen, wo ich weiß nicht was alles gezüchtet wurde, und freute sich an jeder reifenden Frucht, während meine Mutter in der sogenannten »Einmachzeit« nicht mehr Schriftstellerin war, sondern ganz deutsche Hausfrau, Hunderte von Gläsern köstliches Eingemachte selbst zubereitend (zuerst in traditioneller Form, später mit dem »modernen« Weck-Apparat). Nie habe ich in meinem Leben mehr so gute Äpfel und Birnen, nie schmackhaftere Kirschen oder Pflaumen gegessen wie die aus dem elterlichen Garten, nie so duftende Pfirsiche vom Spalier und nie bessere Hasel- und Walnüsse.

Das Haus selbst war geräumig und wurde, ehe wir es bezogen, etwas umgebaut, aus einem Riesenatelier im obersten Geschoss wurden die Angestelltenräume. Für meine Großmutter gab es zwei Räume, die nach ihrem Tode die Arbeitszimmer Vaters und Mutters wurden, vieles wurde modernisiert, so dass das Ganze zwar keinen geradezu »modernen«, aber doch recht geschmackvollen und sehr persönlichen Charakter erhielt. Besonders die Einrichtung eines »Wintergartens«, der eigentlich mehr eine Art »Treibhaus« war, lag meiner Mutter am Herzen. Sie züchtete dort Kakteen, Palmen und tropische Pflanzen, und sogar eine Passionsblume (Passiflora), wie ich sie dreißig Jahre später in Brasilien in freier Natur finden sollte.

Der schriftstellerische Ruhm meiner Mutter stieg gewaltig schnell. Die Fotografen drängten sich, Maler, Bildhauer, Journalisten baten um Interviews und Sitzungen, die Post brachte täglich eine Flut von Bitten um Autogramme oder um geldliche Unterstützung. Eine Korrespondenz mit einem jungen Grafen von der Goltz, der aus Oran, dem Hauptquartier der Fremdenlegion, an sie schrieb und sie bat, ihn zu retten, regte Mutter ungemein auf; sie setzte sich mit der Familie von der Goltz in Verbindung, die natürlich leugnete, einen Angehörigen der alten Adelssippe in der Legion zu wissen. Sie schrieb, Vater sandte Geld und Lebensmittel. Ich erinnere mich, wie Mutter bitter weinte über die Verzweiflungsrufe dieses Menschen, und es hätte gewiss nicht viel gefehlt, dass sie nach Afrika gefahren wäre, um den Unglücklichen zu befreien. Schließlich aber – so scheint es mir – endete die Sache damit, dass die Geschichte als Chantage aufgedeckt wurde. Da der Nachlass meiner Mutter wohl nicht mehr existiert oder in unberufene Hände fiel, wird diese Korrespondenz mit dem Fremdenlegionär von der Goltz wohl nie mehr auftauchen.

So war Mutter überlastet in jeder Weise und wehrte sich gegen alle Art von gesellschaftlichem Leben, zum Ärger meines Vaters. Ich übernahm von ihr unbewusst diese Abneigung, denn – ein so guter Gesellschafter ich auch sein kann – ich habe bis heute stets ein sogenanntes »Society Life« verabscheut und mich darum gedrückt, wann immer ich es konnte.

Meines Vaters Verlag florierte, er war einer der führenden Verleger Deutschlands und wurde »Vorsitzender des Vereins der schönwissenschaftlichen Verleger Deutschlands«, Handelsrichter und später Handelsgerichtsrat. Bis 1918, resp. bis zur alles zerschmetternden Inflation waren meine Eltern finanziell glänzend gestellt, hatten ihre Reitpferde, machten Erholungsreisen in die Schweiz, nach Tirol, Italien, an die Mosel in Mutters engere Heimat, hatten ein beneidenswertes Leben, arbeitsam und fruchtbringend, wenn der Götter Neid ihnen nicht einen Sohn beschert hätte, der der stete Kummer ihres Lebens geblieben ist.

Kehren wir also zu mir, diesem Sohne, zurück, der stets wie eine gewitterdrohende Wolke am blauen Zenith ihrer bürgerlichen Saturiertheit drohte.

Mit der Übersiedlung nach Zehlendorf beginnt recht eigentlich die Geschichte meines Lebens.

[1] Anm.: Elssholzstraße 13 II vgl. Irene Fritsch: »Wo Clara Viebig in Berlin wohnte …« in Clara Viebig - Ein langes Leben für die Literatur, Zell/Mosel 2010, S. 125f

[2] Anm.: Berlin-Schöneberg, Belzigerstr. 48/52. Vgl. Pharus-Plan Berlin, Berlin 1902

Ernst Viebig - Die unvollendete Symphonie meines Lebens

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