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Als der Weihnachtsbaum explodierte

Weihnachten ist bekanntlich das Fest des Friedens und der Harmonie. Warum bei uns im letzten Jahr der Weihnachtsbaum explodierte? Ich kann es erklären:

Das Ganze begann in Wirklichkeit schon ein Jahr vorher damit, dass mein Vater meinem Bruder Thomas nicht erlaubte, Raketen und Böller zu zünden. Knallfrösche ja, Raketen und Böller nein. So einfach war das.

Thomas fand das nicht gerecht, denn nach seiner Aussage durften alle Jungen in seiner Klasse Raketen zünden, ganz egal, was da nun draufstand. Aber mein Vater ist eigen in so etwas. Wir dürfen auch keine Filme gucken, die ab 18 sind.

Mein Bruder war, wie gesagt, ziemlich sauer, und hat ein paar von den Böllern beiseitegeschafft. Wie kleine, rote Päckchen sahen sie aus, und er holte sie aus einer Riesen-Feuerwerkspackung heraus, die mein Opa für Silvester mitgebracht hatte. Natürlich bekam meine Mutter mit, dass Thomas an den Feuerwerkssachen war – sie bekommt unnatürlich viel mit. Thomas ließ die kleinen, roten Päckchen schnell in einem kleinen Karton verschwinden, der im Keller gerade so herumstand, als er meine Mutter die Treppe herunterkommen hörte. Und als sie den Raum betrat, blinzelte er sie unschuldig an.

Meine Mutter lächelte, als sie ihn bei den Feuerwerkskörpern sah. „So faszinierend?“

Thomas nickte.

„Na, komm mal wieder mit hoch. Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen.“

Und das tat sie. Mein Vater inspizierte daraufhin alle Raketen einzeln, hielt meinem Bruder einen einstündigen Vortrag über den richtigen Umgang mit Feuerwerkskörpern, und einige, von meinem Vater hierfür geeignet befunden, durfte Thomas danach auch zünden.

Mein Bruder war sehr stolz, als seine erste Rakete in die Luft flog und dort in glitzernden Funken zersprühte.

Den kleinen Pappkarton im Keller vergaß er.

Als meine Mutter später den Tannenbaumschmuck im Keller verstaute, landete das Schächtelchen mit den Böllern zwischen Lichterketten und Silberkugeln, Strohsternen und Glitzerengeln.

Der Winter ging, der Frühling kam und verging wieder, Sommer und Herbst gingen vorüber, und Weihnachten nahte.

Weihnachten feiern wir sonst immer ganz ruhig, mit Gottesdienst und Andacht als das Fest von Jesu Geburt. Diesmal jedoch war alles anders: Meine Großeltern hatten sich gewünscht, Weihnachten mit der ganzen Familie, ihrer gesamten Nachkommenschaft sozusagen, zu feiern.

Alle hatten gesagt, sie fänden den Wunsch toll, und überhaupt sei es doch nett, wenn einmal alle wie früher zusammen feiern würden.

Dass es nicht wie früher wurde, hätte einem der Verstand sagen können: Immerhin gibt es mittlerweile drei Ehepartner und vier Kinder mehr als damals.

Das erste kleine Problem wurde die Örtlichkeit, an der die Feier stattfinden sollte. Tante Edith meinte, unser Haus sei so wunderbar geeignet, weil es über ein großes Wohnzimmer verfüge. Mein Vater brachte daraufhin Tante Ediths große Wohnung ins Spiel, die immerhin über zwei Gästezimmer verfügt. Edith fand, Onkel Bernds Haus liege viel besser. Und Onkel Bernd wiederum vertrat die Ansicht, wir wohnten am zentralsten.

Nun, meine Eltern wehrten sich wohl zu wenig, jedenfalls fand die Veranstaltung bei uns statt.

Meine Mutter begann bereits eine Woche vorher zu putzen und lamentierend herumzurennen. Am 22. kamen meine Großeltern und brachten alles noch mehr durcheinander. Meine Eltern zogen in mein Zimmer um, ich übernachtete bei meinem Bruder auf dem Fußboden, sodass Oma und Opa das Schlafzimmer für sich hatten.

Tagsüber aber liefen sie durch das Haus und verursachten Chaos. Mein Großvater saß Kaffee trinkend herum und gab allen gute Ratschläge. Meine Großmutter fing überall neue Arbeiten an. Sie putzte eines der Wohnzimmerfenster, um dann festzustellen, dass ihr Rücken das nicht aushielt – worauf meine Mutter weiterputzen musste.

Sie machte Teig für Kokosmakronen, dann wurde ihr schwindelig – und meine Mutter musste die Makronen backen, wodurch wir beinahe nicht zur Krippenspielprobe kamen. Opa fuhr uns auf den letzten Drücker noch hin. Auf dem Rückweg erzählte er uns, Weihnachten sei sonst viel ruhiger und erholsamer, was uns auch nicht gerade glücklich machte.

Der Heiligabend kam. Mutti kochte und kochte und versuchte gleichzeitig noch zu putzen und aufzuräumen.

Vati war mit einer ellenlangen Einkaufsliste losgeschickt worden und rief alle paar Minuten auf dem Handy an, um herauszufinden, welche Sorte Kaffee er kaufen sollte und was „Trüffelöl“ sei.

Meine Großmutter dekorierte. Sie war aufgeregter als wir Kinder zusammen, forderte in einem Moment unsere Hilfe und schickte uns im nächsten wieder fort, damit „der weihnachtliche Zauber“ für uns nicht zerstört würde.

Mein Bruder Thomas kam schließlich auf die Idee, seinen Freund Roman zu besuchen. Roman hat vier jüngere Geschwister, und seine Mutter meinte, auf zwei Kinder mehr oder weniger komme es dann auch nicht an.

Was an Heiligabend vormittags bei uns los gewesen ist, kann ich also nur rekonstruieren: Irgendwann rief Onkel Bernd an und erklärte, er käme leider etwas später. Dann rief Tante Edith an und erklärte, ihr Mann sei krank und sie müsse leider, leider mit den Kindern etwas früher kommen, um ihn zu schonen. Und schließlich kam ein weiterer Anruf von Tante Edith, sie stehe jetzt mit den Kindern am Bahnhof, und warum niemand da sei, um sie abzuholen.

Mein Vater setzte sich schimpfend in den Wagen und fuhr los. Meine Mutter drückte meiner Großmutter den Karton mit dem Tannenbaumschmuck in die Hand, schob sie ins Wohnzimmer und erklärte, sie dürfe erst wieder herauskommen, wenn der Baum fertig geschmückt sei.

Worauf sich die Oma an die Arbeit machte. Vermutlich wunderte sie sich über die kleinen, roten Päckchen etwas. Aber sie fand, glaube ich, auch unsere Glitzerengel nicht wirklich schön. Und da sie merkte, was für ein Durcheinander bereits herrschte, hängte sie brav die Teile an den Tannenbaum, gleichmäßig verteilt.

Nach und nach kam der Besuch. Mutter kochte, Tante Käthe erklärte mit hochgezogenen Augenbrauen, sie finde es so toll, dass Mutti sich so eine Mühe gebe.

Mutti biss sich auf die Zähne.

Unsere Cousinen Nicole und Andrea begannen, im Zimmer meines Bruders dessen Carrera-Bahn auseinanderzunehmen. Mein Vater fuhr dazwischen – schließlich hatte die Bahn ein Heidengeld gekostet und war außerdem das Lieblingsspielzeug meines Bruders.

Tante Edith fragte meinen Vater, ob er Kinder hasse.

Meine Mutter rief bei Roman an, wir sollten nach Hause kommen.

Wir kehrten also heim und fanden eine Stimmung vor, die kurz vor dem Explodieren stand.

Onkel Bernd und mein Vater musterten sich schweigend, in der Küche roch es angebrannt, die Carrera-Bahn lag in Einzelteilen, mein Bruder brüllte los.

Meine Mutter flehte mich an, die Cousinen zu beschäftigen. Ich setzte mich mit ihnen vor den Computer und wir spielten Autorennen. Damit waren sie erst einmal beschäftigt.

Mein Bruder reparierte seine Bahn, mein Vater fragte Tante Edith nach ihrer Haftpflichtversicherung. Nach dem schweigend eingenommenen Essen las Tante Edith ihren Töchtern Weihnachtsgeschichten vor, in denen viel vom lieben Weihnachtsmann die Rede war; mein Vater verdrehte die Augen.

Dann fuhren alle gemeinsam zum Weihnachtsgottesdienst, aber außer der Tatsache, dass Tante Edith bemerkte, ihre Kinder spielten immer die Hauptrolle und nicht nur lausige Hirten, lief alles halbwegs friedlich ab.

Wir kehrten nach Hause zurück, meine Mutter kochte schon wieder Kaffee.

Meine Cousinen hüpften aufgeregt umher, aber sie vergriffen sich nicht an unseren Sachen, und außer einer dekorativen Elchfigur ging nichts zu Bruch.

Dann war es endlich so weit. Mein Großvater schaltete die Lichterkette ein, und meine Großmutter ließ es sich nicht nehmen, persönlich das Glöckchen zu läuten.

Alle marschierten im Gänsemarsch ins Wohnzimmer. Jeder suchte sich irgendwo einen Sitzplatz.

Wir sangen zusammen „Ihr Kinderlein kommet“. Großvater las mit brüchiger Stimme die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vor. Wir Kinder taxierten die Geschenkestapel.

„Und jetzt die Geschenke!“, rief Nicole.

Onkel Bernd erhob sich und erklärte, an Weihnachten komme es nicht auf die Geschenke an, sondern auf Werte wie Frieden und Harmonie. Er stellte sich vor den Tannenbaum und zündete sich eine Zigarette an, wobei er, vermutlich um das Licht der Lichterkette zu nutzen, mit dem Feuerzeug nahe an den Tannenbaum heranging. Zu nahe.

Eine der kleinen Zündschnüre eines der kleinen Päckchen fing Feuer, glomm, mehr oder weniger unsichtbar.

Onkel Bernd erklärte, die Familie sei so unheimlich wichtig, und darum seien wir ja hier zusammen, in Eintracht und …

Da zischte es kurz, es gab einen kleinen Funkenregen und knallte: Das Päckchen, welches er gezündet hatte. Und dieses eine kleine Päckchen rief eine ungeheure Kettenreaktion hervor. Innerhalb kürzester Zeit zischte und knallte und funkte es am ganzen Baum, er schien regelrecht zu explodieren.

Onkel Bernd sprang zur Seite, die Tanten kreischten, meine Oma schrie nach Wasser.

Mein Vater raste los und kam mit einem Wassereimer wieder, den er über dem Tannenbaum ausleerte. Es gab einen Knall, dann war es dunkel im Haus.

„Oh“, machte meine Mutter.

„Kurzschluss“, knurrte Onkel Bernd. „Die elektrische Lichterkette.“

Dann holte er seinen Autoschlüssel hervor, an dem er eine kleine Taschenlampe hatte, und leuchtete meinem Vater den Weg zum Sicherungskasten. Bald war der Schaden behoben. Die Frauen trockneten den Boden unterm Tannenbaum, wir Kinder sahen mit großen Augen zu.

Na ja, das Fest ging eigentlich ganz nett weiter. Mein Vater meinte, Onkel Bernd sei zwar ein Ekel, aber man könne mit ihm auskommen. Tante Käthe erklärte, wir Kinder seien zwar ungezogen, aber eigentlich lieb.


Wir zankten uns ein bisschen, packten unsere Geschenke aus und vertrugen uns wieder.

Aber am Abend, da hörte ich meine Oma zu meinem Opa sagen, das nächste Mal feierten sie Weihnachten wieder alleine. In Ruhe und Frieden. Und das will ich auch hoffen.

INKEN WEIAND


Winterwundernacht

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