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Zoff im heiligen Stall

Es gibt riesengroße Krippen. Ich hörte von einer Krippe in Südamerika, deren Figuren über 40 Meter groß sein sollen. Auch soll es irgendwo eine Krippenlandschaft geben, deren Fläche 25 000 Quadratmeter umfasst.

Die Krippe der Peter-und-Paul-Kirche in Niederauerbach ist nicht so groß. Aber offensichtlich sehr arbeitsintensiv. Zumindest behauptet das der Herr Küster, der Hausmeister dieser beschaulichen alten Kirche. Er sagt, dass die Wochen zwischen dem Ewigkeitssonntag und dem Dreikönigstag die schlimmsten des ganzen Jahres sind. Nach diesen Wochen fühlt er sich jedesmal vollkommen ausgelaugt und überarbeitet. Und jedes Jahr jammert er seiner Frau die Ohren voll. Die zeigt sich stets verständnisvoll, denn die Krippenfiguren der Peter-und-Paul-Kirche in Niederauerbach sind tatsächlich ein wenig unhandlich. Sie sind aus massivem Erlenholz geschnitzt, tragen edle Gewänder aus schweren Stoffen und sind fast so groß wie erwachsene Menschen. Außer natürlich das Jesuskind. Das ist so groß wie ein Baby.

Jedes Jahr lässt der Küster die Figuren einzeln mit Hilfe eines Flaschenzugs an der Außenwand des Glockenturms hinab. Unten zerrt er sie nacheinander auf eine Sackkarre und schiebt sie in den Altarraum. Auch wenn das anstrengend ist und der Herr Küster jedes Mal vom Auf- und Abbau einen gewaltigen Muskelkater am ganzen Körper bekommt, ist diese Arbeit an einem Tag erledigt. Aber das ist nicht der Grund, warum er immer so fertig ist.

Was dem armen Herrn Küster jedes Jahr aufs Neue zu schaffen macht, ist der Umstand, dass die Figuren nicht dort bleiben, wo er sie abstellt. Jeden Morgen stehen ein paar von ihnen ein wenig anders als am Abend zuvor. Auch der Ausdruck ihrer Gesichter scheint sich zu verändern. Da der Küster aber nicht für verrückt gehalten werden will, sagt er niemandem etwas von seinen verstörenden Beobachtungen. Auch nicht seiner lieben Frau.

Als der Küster noch ein paar Jahre jünger war, hatte er versucht herauszufinden, was die Figuren nachts so trieben. Aber immer, wenn er sich ins Kirchenschiff schlich oder von außen durch eines der bunten Fenster spähte, taten die Figuren nichts. Rein gar nichts.

Wenn der Herr Küster über die bei Menschen absolut nicht vorhandene Gabe verfügt hätte, sich unsichtbar zu machen, hätte er sofort herausgefunden, was die Figuren nachts taten; sie schliefen nicht. Schlafen taten sie immer vom Dreikönigsfest im Januar bis zum Ewigkeitssonntag Ende November, wenn sie in Stroh verpackt, im Raum direkt unter den Kirchenglocken, auf ihren nächsten Einsatz warteten. Selbst das regelmäßige Glockengebimmel konnte sie dann nicht wecken. In den langen Nächten der Advents- und Weihnachtszeit hingegen, wenn kein Mensch sich mehr im Inneren der Kirche aufhielt, taten sie alles andere als schlafen.

Eines Nachts, der vierte Advent war bereits vergangen, geschah Folgendes:

Maria, eine zarte Frauengestalt mit edlen Gesichtszügen, die andächtig mit gefalteten Händen vor der Krippe kniete, ließ den Kopf kreisen, um ihren steifen Nacken zu lockern. Dabei sagte sie mit einer sanften Stimme: „Verflixt, meine Knie, mein Rücken, alles tut weh.“

„Jammer nicht!“, sagte Josef daraufhin.

„Ja, du kannst zufrieden sein mit deiner entspannten Pose. Du darfst schließlich stehen“, schimpfte Maria.

„Ich muss die ganze Zeit diese blöde Laterne hoch halten, weißt du, wie das in die Arme geht?“, fragte Josef vorwurfsvoll.

„Hast du sie deshalb heute Morgen in die andere Hand genommen?“, fragte das Jesuskind.

„Ja!“, sagte Josef.

„Das war blöd“, stellte der kleine Jesus fest. „Sie hat mir den ganzen Tag direkt in die Augen gestrahlt.“

„Ab und zu muss ich mal wechseln“, beharrte Josef, „es sieht ziemlich peinlich aus, wenn der rechte Arm aussieht wie der eines Gewichthebers und der linke wie der eines Schwächlings. Immerhin verkörpere ich einen Zimmermann.“

Maria zog sich ächzend am Rand der Krippe hoch, rieb ihre Knie und schüttelte ihre Arme und Beine. Der Hirte nahm das Lämmchen, welches er tagsüber ununterbrochen auf seinen Schultern trug, herunter, und es flitzte blökend durch das Kirchenschiff. Und auch die drei Weisen aus dem Morgenlande legten die Geschenke für das Jesuskind aus den Händen, lockerten die steifen Glieder und machten es sich auf der vordersten Kirchenbank bequem.

Jesus hatte den Kopf gehoben und sah streng in die Runde.

„Morgen früh muss das ein bisschen besser klappen mit euren Posen. Der Herr Küster ist heute ganz blass um die Nase geworden, als er uns gesehen hat. Das gilt besonders für dich, Gabriel!“

„Pfff“, machte Gabriel, der Verkündigungsengel, der, im Gegensatz zu seinem Verhalten, sehr würdevoll aussah.

„Was heißt hier, Pfff’“, schimpfte Jesus. „Wir sind nicht hier, um die Menschen in den Wahnsinn zu treiben!“

„Warum spielst ausgerechnet du Baby dich hier so auf?“, fragte Gabriel. „Sei still, wenn erwachsene Figuren reden!“

„Ich bin hier die Hauptfigur und deshalb bin ich auch nicht still“, quakte das Jesuskind.

Das machte Gabriel sauer. „Im Gegensatz zu mir liegst du Tag und Nacht bequem im Stroh. Ich steh mir die Beine in den Bauch. Meine Arme brechen fast ab, und dann muss ich auch noch gucken, als wenn die Menschheit meine allergrößte Freude wäre“, meckerte Gabriel. „Ich hab echt die Schnauze voll davon!“ Und er ging zur Krippe und nahm das Jesuskind hoch.

„He, aufpassen!“, rief Maria.

„Gabriel, lass das sein“, sagte Joseph. Aber Gabriel legte Jesus kurzerhand auf den Boden. Dann versuchte er, es sich in der Krippe bequem zu machen. Seine Beine und Arme hingen über den Rand.

„Na“, fragte Jesus, „zufrieden?“

„Besser als stehen!“, beharrte Gabriel.

„Die Krippe ist zu klein für dich. Das sieht albern aus!“, gluckste einer der Weisen.

„Merkst du, wie dir das Stroh in den Rücken piekst?“, fragte Jesus, „und die Kirchendecke ist auch nicht der Kracher, oder?“

Gabriel starrte die weiße Decke an und sagte nichts.

„Andere Kirchen haben wenigstens Deckenmalereien. Aber hier ist nichts. Nichts als schmuddeliges Weiß“, sagte Jesus lächelnd.

„Mir egal!“, fauchte Gabriel. „Lieber die Decke als die verpennten Gesichter am Sonntagmorgen.“

„Also das ist doch …“, ereiferte sich Maria.

„Nee, nee, lass mal“, meinte Joseph, „da hat der Gabriel nicht ganz unrecht.“

„Ja“, mischte sich jetzt der Hirte ein, „habt ihr den Typen bemerkt, der letzten Sonntag eingeschlafen ist? Während der Predigt? Der hat voll laut geschnarcht.“

„Ja, den hab ich auch gehört“, sagte das Jesuskind, „aber nicht gesehen. Denn … ich sehe Tag und Nacht nur die Decke!“

„Das sagtest du bereits“, knurrte Gabriel. Er zog die Beine an und wälzte sich von rechts nach links und wieder zurück. Schließlich seufzte er schwer und setzte sich auf.

„Ach, schon keine Lust mehr zu liegen?“, höhnte das hölzerne Baby.

Maria stöhnte genervt.

„Wenn wir uns benehmen würden wie unsere historischen Vorbilder, wären wir viel freundlicher miteinander“, murmelte sie und schickte sich an, das Kirchenschiff zu durchqueren.

„Wenn du dich benehmen würdest wie die echte Maria, müsstest du gar nicht pausenlos knien. Die hat gelegen und geschlafen, nachdem sie Jesus geboren hat. Darauf verwette ich meine Laterne!“, sagte Joseph.

„Apropos Joseph, du bist heute dran mit Wache schieben“, meldete sich Jesus wieder zu Wort.

„Das ist auch so was“, meckerte Gabriel gleich wieder los. „Wir müssen alle Wache schieben, aber du nicht. Das nervt mich.“

„Nun mach aber mal´n Punkt!“, rief Maria. „Er kann nicht stehen, nicht laufen und ist gerade mal 60 Zentimeter groß. Wie soll er da Wache schieben! Er reicht ja noch nicht mal ans Fensterbrett heran.“

„Dann soll er mal nicht so ’ne große Klappe haben“, sagte Gabriel.

Joseph postierte sich am Fenster und sah über den Kirchhof hinüber zum Haus des Küsters.

„Ist ja schon ’ne Weile her, dass der Küster hier nachts um die Kirche geschlichen ist. Hätte uns fast erwischt, damals.“

„Stell dir mal vor, er hätte uns erwischt …“, sagte Maria und blätterte halbherzig in einem Traktat über den Stern von Bethlehem.

„Och, dann wären wir jetzt vielleicht mit dem Küster befreundet und könnten die Kirche auch mal verlassen. Mal rübergehen zu ihm, bisschen fernsehen oder so“, meinte Joseph.

„Quatsch“, sagte Gabriel, „wenn der Herr Küster uns erwischt hätte, hätte er sicher geglaubt, er sei wahnsinnig. Dann würde er bestimmt nicht mehr hier arbeiten.“ Alle schwiegen, und weil Gabriel selten erlebte, dass alle ihm zuhörten, fuhr er schnell fort: „So sind die Menschen. Alles, was sie nicht erklären können, finden sie unheimlich. Sie sagen sich, das kann nicht sein, oder das kann es ja gar nicht geben …“

Währenddessen trat, etwas früher als gewöhnlich, der Herr Küster aus seinem Häuschen. Tief sog er die kalte Morgenluft ein und machte sich dann auf den Weg zur Kirche.

„ … die Menschen haben die Wunder direkt vor der Nase. Aber sie wollen sie nicht sehen“, dozierte Gabriel fröhlich weiter, „sie sehen Sonnenaufgänge und Sternschnuppen. Sie hören jeden Sonntag in den Predigten von den Wundern, die Jesus so vollbracht hat … falls sie nicht gerade schlafen. Sie sehen, wie Kranke gesund werden und wie ihr Getreide auf den Feldern wächst. Und wenn sie nur ein bisschen genauer hinsehen würden, hätte nicht nur der Herr Küster bemerkt, dass mit uns was nicht stimmt.“

„Was soll denn bitte mit mir nicht stimmen?“, fragte Maria säuerlich.

„Ich meine, dass wir leben und eben nicht tot sind, wie sie vermuten“, versuchte Gabriel es noch mal.

„Du bezeichnest dich also ernsthaft als ein Wunder?“, kiekste das Jesuskind. Gabriel sprang aus der Krippe und beugte sich drohend über Jesus.

„Du kleiner, unnötiger Holzkopf …“

„Er kommt!“, schrie Josef und löste damit eine Hektik aus, die man Holzfiguren gar nicht zugetraut hätte. Der Hirte jagte hinter seinem Lämmchen her, das keine Lust hatte, wieder einen Tag auf seinen Schultern zu verbringen.

„Wir reden heute Abend weiter!“, zischte Gabriel Jesus zu und eilte zu seinem Platz. Maria stellte hastig das Traktat zurück und flitzte zum Altarraum, als der Küster den Kirchhof bereits halb überquert hatte.

„Hey“, quiekte Jesus, „würde mich bitte jemand zurück in die Krippe legen?“

Die drei Weisen stolperten über die Säume ihrer Gewänder, rempelten sich gegenseitig an und stritten darum, wer welches Gefäß in die Hände nehmen musste, als der Küster den Schlüssel im Schloss drehte. Gabriel versuchte sich zu erinnern, wie er seine Arme zu halten hatte. Josef nahm widerwillig seinen Platz ein und seine Laterne auf. Und gerade, als der Küster das schwere Portal der Kirche öffnete, ließ Maria sich auf die Knie nieder.

Der Herr Küster schritt langsam das Kirchenschiff hinunter und sah eine Weile die heilige Familie an. Er nahm das Jesuskind hoch und bettete es sanft in der Krippe. Dann strich er über Marias absolut starre, unbewegliche, hölzerne rechte Hand, die gestern noch so ehrfürchtig gefaltet gewesen war, nun aber auf dem Rand der Krippe ruhte.

Noch knappe drei Wochen, dachte er müde, dann stecke ich sie alle wieder ins Stroh!

HEIKE BINDER


Winterwundernacht

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