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Vorwort


Ein deutscher Kritiker charakterisierte den Cyberpunk als die »Poesie des Verfalls«. Einer von William Gibsons meist zitierten Sätzen, »the street finds its own uses for things«, hat den Grundton angeschlagen für eine postmoderne Science Fiction, in der die Ideale des Golden Age, der Traum von einer utopischen Transformation der Menschheit durch Wissenschaft und Technik, in der Gosse gelandet sind. Von sterilen Laboren, in denen weißbekittelte mad scientists die neuzeitlichen Büchsen der Pandora öffnen, hat der Cyberpunk die Schauplätze der SF in die Hightech-Slums der nahen Zukunft verlagert. Er schildert das Leben in den Substraten einer Welt, die in Auflösung begriffen ist – zerrieben zwischen anonymen kommerziellen Mächten und politischer Willkür; zersplittert in Subkulturen, für die der Unterschied zwischen legal und illegal unbedeutend ist, irreal geworden durch die Übersättigung des Alltags mit Medien, Netzwerken, Drogen, virtueller Realität.

Dennoch hat der Cyberpunk die Berührung mit einem der klassischen Topoi der SF, dem Weltraum als Flucht- und Zielpunkt aller Zukunftsträume, nicht ganz verloren und ihn auf seine Art interpretiert. Schon in William Gibsons Epitom Neuromancer finden sich gegenüber den klassischen Vorbildern zweckentfremdete Weltraumhabitate, darunter eine Kolonie von Rastafaris, die den Traum von der Eroberung des Alls zu einer manifestierten Hippie-Phantasie umfunktioniert hat. In Ridley Scotts Filmklassiker Blade Runner, ebenfalls eine der bahnbrechenden stilistischen Leistungen des Cyberpunks, ist die Werbung für das Leben in offworld-Kolonien eine ständige Verlockung im Hintergrund, die durch die tragische, hoffnungslose Auflehnung der Replikanten, künstlichen Arbeitssklaven für die Expansion des Menschen ins All, konterkariert wird. Schon vorher, in seinem ersten SF-Film Alien, hat Scott einen Grundzug des Cyberpunks in den Weltraum getragen und damit stilprägend gewirkt: Es ist die Aura einer schmutzigen Zukunft, die zwar gegenüber unserer Welt technisch weit fortgeschritten ist, aber zugleich etwas zutiefst Verschlissenes und Verbrauchtes ausstrahlt. Die Mannschaft des Frachters Nostromo in Alien hat die Mentalität von Truckern, agiert nur in etwas größerem Maßstab. Die Weltraumfahrer haben hier nichts mehr Zukunftsweisendes, Heroisches außer dem nackten Überlebensinstinkt an sich. Man mag darüber streiten, ob sich so etwas wie Space-Cyberpunk als eigenes Subgenre in der SF identifizieren lässt, sicher aber gibt es Storys, die durch Versetzung typischer Cyberpunk-Elemente an außerirdische Schauplätze eine existenzielle Zuspitzung des Cyberpunk erreicht haben: zur Bedrohung durch anonyme Mächte, zu Grenzüberschreitungen zwischen Mensch und Maschine, zum rohen Überlebenskampf zwischen Dreck und Trümmern kommt nun auch noch die Isolation im All, die Entfremdung von der kosmischen Heimat und der eigenen Spezies, das Erlebnis der Macht- und Perspektivlosigkeit angesichts des Unendlichen.

In der vorliegenden Anthologie unternehmen Newcomer und gestandene Autoren der deutschen SF neue und überraschende Vorstöße in diese schmutzige Zukunft. In bester dystopischer Tradition der Science Fiction, die als Medium düsterer Prophezeiungen fast immer mehr überzeugt hat denn als Überbringerin froher Botschaften, präsentieren die Autoren ein Universum, das menschliche Allmachtsphantasien zerschmettert hat. Der Aufbruch ins All hat zu keinem Fortschritt unserer Art geführt: Wir sind immer noch dieselbe zerrissene, aggressive, unreife, korrupte Spezies wie bisher, und das All hat uns nur unsere Kleinheit und Bedeutungslosigkeit bewiesen. Der Cyberpunk ist, wofür diese Geschichten einen weiteren Beleg liefern mögen, zwar als dedizierte literarische Bewegung längst Geschichte, als anhaltender Inspirationsfaktor aber, der in immer neuen Varianten aufgegriffen wird, weiterhin eine der vitalsten Unterströmungen der zeitgenössischen Science Fiction.

Michael K. Iwoleit, August 2014

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