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Einleitung

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– Mark Ammern –

Die Kritik am derzeitigen Literaturbetrieb ist nahezu umfassend geworden: Sie betrifft die Themen der Texte, z.B. eine Konzentration auf Familiengeschichten (vgl. Schröder, Ch., 2014), die nicht nur durch ihre Häufigkeit langweilen, sondern auch durch ihre gesellschaftliche Belanglosigkeit. Familiäre Verwicklungen in die Zeit des Nationalsozialismus oder des DDR-Sozialismus ließen Familienromane in der Nachkriegs- bzw. Nachwendezeit plausibel erscheinen, ebenso weitaus früher verfasste Romane über ein dynastisch organisiertes Bürgertum, das zwar gesellschaftlich herrschte, doch die übernommene Verantwortung nicht tragen konnte. Fehlen solche gesellschaftlich relevanten historischen Komplexe, werden Familiengeschichten zu beliebigen Erzählungen, die bestenfalls in ein Album gehören, nicht jedoch in ein öffentlich präsentierbares Buch.

In Bezug auf Themen plädiert Enno Stahl für einen Sozial-Realismus in der Literatur, der die Besonderheiten entstandener gesellschaftlicher Verwerfungen berücksichtigt, auch das Prekariat (vgl. Stahl, E., 2013). Und er scheut nicht davor zurück, eine Funktion anhand beschriebener Lebensumstände und Figuren in Aussicht zu stellen, die Zurückgewinnung von Individualität und Identität in der Auseinandersetzung: eine sozialistisch inspirierte Vorbildfunktion. Gegen eine literarische Berücksichtigung gesellschaftlich relevanter Faktoren wäre überhaupt nichts zu sagen, falls denn Autoren eine solche Wirklichkeit aus Erfahrung kennengelernt haben, doch die Einbindung von Literatur in ein politisch inspiriertes Programm belässt nicht nur Sprache unter ihren Möglichkeiten, sie legt ein durchschnittliches Verhalten an: z.B. die des neuen Lumpenproletariats, um es letztlich mit einer Wendung ins beanspruchte Ideal teleologisch zu überhöhen.

Ich möchte eine Diskussion von Themen gar nicht weiterführen, weil sie den Blick zu sehr einengt. Einer Sensibilisierung von Autoren in Bezug auf gesellschaftlich relevante Texte wäre nichts entgegenzusetzen, doch die Spannweite einer literarischen Motivation kann weiter reichen, als es eine Funktionalisierung erlauben würde.

Mich irritiert am Literaturbetrieb, dass Verlage und Kritik in den letzten Jahrzehnten überwiegend literarische Standards bevorzugt haben, die auf eingängige Geschichten, also auf einen überschaubaren Plot setzten, auf Durchschnittsfiguren und auf eine durchschnittliche Sprache, die nach Vorgabe einer kriselnden Branche, in der alles, Texte, Preise, Stipendien, was auch immer, nur einem zu dienen hat: einer Verkaufshow, auf welchem Sender, in welchem Blatt, auf welcher Internetseite auch immer. Was durch die schnellebige Medienlandschaft nicht rasch zu vermitteln ist, entfällt. Dies sind die Minimalstandards von Kitsch, sähe man davon ab, dass noch eine Suhle fehlen würde.

Aktuelle Ausnahmen wie „Gewäsch und Gewimmel“ (Brigitte Kronauer), „Arbeit und Struktur“ (Wolfgang Herrndorf ) oder „Der schaudernde Fächer“ (Ann Cotten) zeigen, dass es literarisch auch anspruchsvoller zugehen kann. Die SchriftstellerInnen gehören unterschiedlichen Generationen an, arbeiten bzw. arbeiteten auch unterschiedlich, dennoch eint sie, wenn auch aus verschiedenen Gründen und in differenter Weise, ein individueller Zugang zur Literatur. Erstaunen kann hingegen, dass innerhalb der Kritik wieder jene Standards angelegt werden, die zu literarischem Ramsch führten: der Erzählerin von „Gewäsch und Gewimmel“, einer Physiotherapeutin, wird spekulativ abgesprochen, das sprachliche Kunstwerk erschaffen zu haben. Dazu bedürfe es eines gottgleichen Erzählers. (Vgl. Jessen, J., 23.11.2013). Diese Fixierung auf gesellschaftlich durchschnittliches Verhalten lässt Literatur verkommen, auch wenn man die Passage als Lob an der Autorin missverstehen könnte.

Literarisch wäre es nicht erforderlich, sich an Typisches oder Durchschnittliches zu halten, das entweder durch vielfache Lebenserfahrungen oder durch soziologische Studien abgesichert werden könnte. Wer danach sucht, interessiert sich nicht für Literatur, sondern für eine simple Bestätigung, für eine Spiegelei von Horizonten, seien sie auch äußerst eng und dürftig. Doch Literatur kann aus dieser gesellschaftlichen Funktionalisierung ausbrechen, innerhalb als auch außerhalb des Betriebs.

Um den traditionelle Literaturbetrieb erfassen zu können, wäre die Anfertigung eines Modells wenig hilfreich. Würde man germanistisch, soziologisch oder kulturwissenschaftlich auf Autoren, Agenten, Verlage, Kritiker, Medien, Händler und ihre jeweiligen Aufgaben und komplexen Abhängigkeiten einen schematischen Blick werfen, wäre der empirische Gehalt äußerst gering. Den Betrieb machen letztlich die persönlichen Kontakte aus, die informellen. Sind diese im Laufe eines Autorenlebens oder einer Verlagstätigkeit nicht entstanden, bleibt ein Zugang verwehrt. Durchaus wäre eine Markttägkeit möglich, sogar in einer Branche, bezeichenbar als ‚Literatur‘ bzw. ‚Buch‘, doch nur außerhalb des Betriebs.

Der Weg, Kontakte entstehen zu lassen, wurde in der Zeit meiner Anfänge häufig als ‚Ochsentour‘ ausgewiesen, weil hierarchische Strukturen zu überwinden waren: von den ersten Veröffentlichungen in lokalen Blättern bis hin zu Publikationen in einem angesehenen Verlag. Wer mit seinen Texten nicht den jeweiligen Geschack traf, wessen Texte z.B. einer emphatischen Wahrheit widerstanden, nicht für ein gutes Buch taugten, um zwei prominente Phrasen des ehemaligen Hanser-Verlegers Michael Krüger anzuführen, blieb außen vor.

Diese verlegerische Gate-Keeper-Funktion hatte in Deutschland stets auch etwas Ideologisches: Sie war orientiert an gesellschaftlich in Mode gekommenen Philosophien. Besonders hervorhebbar sind meines Erachtes die Texte von Walter Benjamin, mit etwas Abstand auch die von Ernst Bloch und manchen anderen. Im Laufe der Geschichte richteten sich einige philosophische Interessen nach Frankreich aus, oder widmeten sich einem radikalen Konstruktivismus, der gerade Recht gekommen war, um die Welt marketingwirksam neu zu erfinden. Solange man als Autor die jeweils gesteckten ästhetischen Rahmen unangetastet ließ, stand einem Kontaktaufbau kaum etwas im Wege. Doch analytische Philosophie? Und eine, wie man mir zugestand, bisweilen sprachliche Brutalität, zumal in Dichtungen? Mit dem dahergelaufenen Kerl war kein gut-bürgerliches Buch zu machen. Alles an ihm verdarb den Appetit.

In diesen Zusammenhang passt eventuell eine rezeptionsästetische Distanz, auf die Robert Jauß hingeweisen hat, auf die „Distanz zwischen Erwartungshorizont und Werk, dem schon Vertrauten der bisherigen ästhetischen Erfahrung und dem mit der Aufnahme des neuen Werkes geforderten «Horizontwandel».“ Bei einer Verringerung dieser Distanz, führt er weiter aus, „nähert sich das Werk dem Bereich der ‚kulinarischen‘ oder Unterhaltungskunst.“ (Vgl. Jauß, R., 1967, S. 177). Das Kulinarische an einem Buch, das unterhaltende Moment, der bürgerliche Genuss ist nur empfindbar, wenn bei der Aufnahme keine Herausforderung entsteht.

Ich muss einräumen, dass mir Geschmack ziemlich egal ist, philosophisch als auch belletristisch. In beiden Fällen lehne ich es ab, einen Vergleich mit einem Essen zu gestatten, weil andere Organe betroffen sind. Es mag sein, dass ein Lesen von einem Magendrücken begleitet wird, in Deutschland geht der Umgangsprache nach relativ vieles durch den Magen, doch falls Texte oder gar Bücher in Mägen landen würden, wäre bei der Aufnahme etwas schief gelaufen. Der rezeptionsästhetische Vergleich mit Kulinarischem ließe sich allenfalls noch als sozialpsychologischer bezeichnen, kaum einer weiteren Rede wert, allenfalls für ein Konsumgütermarketing!

Eine ästhetische Alternative wäre erforderlich, in deren Zentrum künstlerische Autonomie zum Tragen kommt, weit davon entfernt, sich bürgerlich, politisch oder durch ein vermeintliches ‚L’art pour l’art‘ vereinahmen zu lassen.

Diese Ausrichtung bereitet aufgrund umgangsüblicher zweckrationaler Orientierungen leicht Verständnisschwierigkeiten. Autoren und Verlage veröffentlichen für „meine“ oder „unsere Leser“, für „gesellschaftliche Veränderung“, für „ein professionelles Einkommen“, für „einen gesellschaftlichen Rang“ bzw. „Status“, für eine religiös anmutende …, doch Kunst ist nicht für. Die erhoffte Orientierung ginge fehl. Würde eine Differenzierung von Umgang und Kunst angestrebt werden, um Kunst überhaupt erst sprachlich zu ermöglichen, entfiele Zweckrationalität. Wie Kunst gesellschaftlich verwendet wird, ob zur Präsentation, zur Bildung, zur Kritik, zum politischen Kampf oder zur drogenverdächtigen Beweihräucherung bürgerlicher Schichten, wäre eine völlig andere Frage, am wenigsten eine ästhetische.

Die mit dem vorliegenden Band präsentierte analytische Belletristik maßt sich nicht an, Philosophie zu verdrängen, doch der Begriff kann verdeutlichen, dass der Einfluss aus der analytischen Philosophie (vgl. Pege., K., Hg., 2014) größer ist als aus einer tingelnden oder konservierenden Germanistik, die nach Meta-Orientierung sucht. Auch wird nicht angestrebt, die Germanistik zu ersetzen - die Essays und Gespräche des Bandes vollziehen lediglich einen Schnitt.

Literatur

* Jauß, R., 1967, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz.

* Jessen, Jens, 23.11.2013, Dem Kosmos so nahe (Zeit-online).

* Pege., K., Hg., 2014, Analytische Philosophie? (eBook) Duisburg.

* Schröder, Ch., 09.01.2014, Im Abgrund ist’s gemütlich (Zeit-online).

* Stahl, E., 2013, Diskurs-Pogo. Über Literatur und Gesellschaft, Berlin.

Analytische Belletristik

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