Читать книгу Weihnachtswundernacht 3 - Группа авторов - Страница 6
ОглавлениеEs schneite mit großen, nassen Flocken, die im Scheinwerferlicht durch die Nacht taumelten, auf den Straßen schmolzen und einen schmierigen Belag hinterließen.
Philipp schaltete die Scheibenwischer an und sah auf die beleuchtete Uhr vor sich. Dann drückte er das Gaspedal stärker durch. Er wollte nicht zu spät kommen. Aber die Reifen seines Autos hatten etwas gegen die neue Geschwindigkeit und ließen das Auto schlingern.
Philipp erschrak, lenkte dagegen und fuhr langsamer weiter. Als er das Radio anstellte, hörte er einen Kinderchor irgendetwas Weihnachtliches singen.
Na ja, dachte er, die Welt wird nicht untergehen, wenn ich nicht ganz pünktlich bin. Aber es war ärgerlich, Tante Berta warten zu lassen, die seine Frau und ihn zum Abendessen erwartete. Und vorher musste er ja auch noch seine Frau abholen.
Jedes Mal machte Tante Berta ein Theater, wenn man nicht pünktlich erschien. Entschuldigungen galten bei ihr nicht. „Du musst immer ein Zeitpolster einbauen“, pflegte sie zu sagen, „dann kommst du nie zu spät.“
„Zeitpolster!“, murmelte er ärgerlich. Er hasste dieses Wort und sah eine Uhr vor sich, die in ein flauschiges, abgewetztes hässliches Polster eingenäht war. Er fand es viel reizvoller, sich vorzustellen, dass seine Uhr mit allen Uhren auf der Welt verbunden wäre. Und wenn er dann bei seiner Uhr die Zeit zurückstellte, würden alle anderen Uhren auch zurückgehen. Geradezu genial wäre das. Und wenn er dann …
Sein Handy klingelte. Sollte er für das Gespräch anhalten? Aber dann käme er noch später an. Er drückte auf den grünen Knopf.
„Ja?“
„Sind Sie das, Herr Mangold?“
„Ja.“
„Gut, dass ich Sie erreiche, dann kann ich meine Beschwerden direkt bei Ihnen loswerden …“
Philipp seufzte unhörbar und hörte sich den Redeschwall eines Kunden an, der mit dem Einbau der Küche nicht zufrieden war. Eine Schublade wurde von dem „Softeinzug“ nicht mitgenommen, und an einer Stelle sah das Design nicht so aus, wie es aussehen sollte. Das Muster wirkte, als ob es leicht verschoben sei.
Philipp wollte schon fragen, ob er eine Lupe mitbringen sollte, aber er beherrschte sich und sagte, dass er so bald wie möglich …
„Sie müssen morgen kommen. Herr Mangold! Morgen! Verstehen Sie? Ich habe einen großen Bekanntenkreis, und es würde Ihrer Firma sicher schaden, wenn ich denen erzähle, dass …“
Philipp hätte am liebsten die Augen geschlossen, aber das ging nun mal nicht beim Autofahren.
Er sehnte sich nach einem ruhigen Ort, wo die Uhren alle falsch gingen und die Telefone aus Marzipan waren. Dann würde er bei einem unangenehmen Gespräch einfach das Telefon aufessen.
Sie kamen wie erwartet zu spät, und natürlich fiel in den ersten Minuten auf dem Flur das Wort „Zeitpolster“. Das Abendessen zog sich mit einer quälenden Langsamkeit in die Länge, und seine Frau und er kamen müde zu Hause an. Eine Müdigkeit, die wie Blei in den Knochen lag. Die einzige positive Überraschung an diesem Abend bot ihnen der Schnee. Es war abends kälter geworden, die Flocken waren inzwischen liegen geblieben, und eine dicke, weiße Schicht hüllte jetzt alles ein.
Als Philipp später vom dunklen Wohnzimmer nach draußen blickte, kam es ihm so vor, als ob die Ruhe wie ein weißes Tuch über den Häusern der Stadt lag, denn der Neuschnee sah aus wie eine Bettdecke, die die Stadt zum Schlafen einlud.
Noch waren die Räumfahrzeuge nicht durch die Stadt gefahren, sodass die Straßen unberührt dalagen und ebenfalls auszuruhen schienen. Und noch war der Schnee auf den Dächern nicht ins Rutschen gekommen, sodass die Häuser weiße Schlafmützen trugen, aus denen die Schornsteine wie kleine Verzierungen herausragten.
Der Eindruck der völligen Ruhe war so stark, dass es Philipp vorkam, als lägen die Häuser im Tiefschlaf und atmeten langsam ein und aus.
Er sah auf seine Uhr: halb zwölf. Zeit, ins Bett zu gehen. Seine Frau war schon schlafen gegangen. Aber er konnte sich plötzlich von dieser gewaltigen Schneeruhe nicht losreißen. Und so öffnete er die Glastür, die zur Terrasse führte, und trat einen Schritt nach draußen.
Kalte, feuchte Luft umfing ihn. Es tat gut, den Schneegeruch einzuatmen, der nach frischer Wäsche roch, nach längst vergangenen Schneeballschlachten aus Eis und Schweiß und nach etwas, das man nicht erklären konnte. Vielleicht nach Polarluft?
Die Scheinwerfer eines Autos zuckten kurz über die Häuserwände, und das Brummen eines Motors war zu hören. Aber es klang seltsam gedämpft und nahe, als sei die ganze Stadt in ein großes Wohnzimmer mit weichen Teppichen verwandelt worden und als säßen die Leute in der Straße dicht gedrängt auf einer riesigen Couch.
Irgendwo weit weg rauschte ein Zug vorbei. Und diesmal hörte sich sein Rattern sogar lauter an als sonst. Der Schnee hatte die gewohnten Geräusche und Entfernungen durcheinandergebracht und eine neuartige, lebendige Stille geschaffen.
Philipp spürte, wie die Kälte seine Schultern erfasste. Aber anstatt nach drinnen zu gehen, die Tür zu schließen und sich aufzuwärmen, zog er sich den Mantel an und trat wieder auf die verschneite Terrasse, sogar noch einen Schritt weiter hinaus und blieb wie verzaubert stehen. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne sah er die Flocken wie Mehl durch die Luft wirbeln, und auf seinen Händen spürte er die kühlen, leichten Berührungen des Winters.
Und langsam, als gäbe es einen inneren Zusammenhang zwischen Schnee und Seele, fielen mit den kalten Flocken die Dinge der täglichen Routine von ihm ab. Es kam ihm vor, als rutschten sie von seinen Schultern und plumpsten in den Schnee: der Zeitdruck, der immer noch auf ihm gelastet hatte, obwohl das Abendessen längst vorbei war, das unangenehme Telefongespräch, das ihn nicht losließ, die Aufgaben, die er heute nicht geschafft hatte, und der unerfüllte Wunsch nach einem Leben ohne Uhren.
Fast sah er die Alltagslasten vor sich, wie sie im Schnee versanken und von den wirbelnden Flocken zugedeckt wurden: eine Uhr, einen Telefonhörer, den Terminkalender und sein unzufriedenes Herz. Alles vom Winter verweht. Seine Schultern strafften sich.
Er blickte nach oben. Über ihm waren die Schneewolken aufgerissen, und dahinter zeigte sich ein schwarzer Himmel, der übersät war mit wunderbar funkelnden Lichtern. Schweigend sahen sie auf Philipp herab, und er stellte sich vor: Wenn nur jeder Planet und jede Sonne einen kleinen, winzigen Ton von sich geben könnte, dann würde über seinem Kopf ein gewaltiger Akkord durch die Nacht brausen.
Und wer weiß? Vielleicht gab es das ja auch. Hatte er nicht erst neulich gelesen, dass die Erde sich unmerklich rhythmisch zusammenziehen und ausdehnen würde und einen tiefen Summton abgab, der aber für menschliche Ohren nicht wahrnehmbar war?
Vielleicht hatten ja tatsächlich jeder Planet und jede Sonne einen eigenen Ton, und niemand hatte diese Musik bisher gehört?
Nur einmal war ein himmlischer Gesang durch die Nacht geweht, als statt der Schneeflocken Engel die Luft erfüllten und ihre Musik die Nacht berauschte.
Und selbst dann hatten es nicht alle Menschen mitbekommen, nur ein paar einfache Hirten mit ihren Schafen.
Was für eine Nacht musste das gewesen sein, dachte Philipp und beobachtete seinen Atem, der als weiße Fahne in den Himmel stieg.
Der Gott des Himmels und der Erde, den sonst niemand sehen durfte, ohne zu sterben, wurde zu einem Säugling, zeigte sein Gesicht und gab sich hilflos in die Hände der Menschen. Alle Vorstellungen über Gott zerbrachen wimmernd in diesem Stall. Und zwischen den Scherben lag das Kind.
Eine seltene Feierlichkeit legte sich über Philipps sorgenfreien Nacken wie ein kostbarer, wärmender Schal, und er ahnte, dass alles seitdem einen tieferen Sinn hatte, auch die scheinbar nebensächlichsten Dinge: das Schreien eines Kindes, das Schnauben eines Esels, die abgearbeiteten Hände eines Hirten und die geheimen Gedanken einer Frau.
Was wäre aber, überlegte Philipp weiter, wenn auch seine eigenen, kleinen Alltagsdinge in tiefere Zusammenhänge eingebettet waren, tiefer, als er dachte?
Hatte nicht dieses Kind später einmal gesagt, als es erwachsen war, dass selbst die Haare auf unserem Kopf gezählt sind und dass also ein herabfallendes Haar beim Kämmen von der göttlichen Vorsehung wahrgenommen wurde?
Was für eine gewaltige Vorstellung!
Das würde ja bedeuten, dass auch jetzt, während er hier stand und auf die verschneite Straße sah, der Himmel an diesem Augenblick Anteil nahm. Gab es dann überhaupt Einsamkeit?
Während Philipp ein- und ausatmete, schien es ihm, als öffnete sich in ihm eine Tür, ungefähr dort, wo sein Herz schlug, und ein Strom aus purer Freude schwebte heraus. Freude darüber, dass er mit seiner ganzen Existenz wahrgenommen und geliebt wurde von diesem fernen und zugleich nahen Gott.
Und es war jetzt für Philipp vollkommen naheliegend, fast logisch, dass er seine Arme ausbreitete und in die Nacht dreimal ein lautes „Halleluja“ hinausschrie.
Ein paar Sekunden blieb es still, dann öffnete sich im Nachbarhaus quietschend ein Fenster. Jemand beugte sich heraus und rief: „Ruhe!“
ALBRECHT GRALLE