Читать книгу Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015 - Группа авторов - Страница 5
VORWORT
ОглавлениеLeipzig als Stadt konkreter Utopie
Leipzig ist berühmt dafür, eine Stadt voller „Helden“ zu sein, zogen doch die Bürger/-innen im „Wendejahr“ 1989 zu Tausenden mutig gegen die DDR-Obrigkeit auf die Straße und traten für neue politische Wege ein. Dass Leipzig damit auch die „Stadt der Utopien“ ist, rückt dabei weniger in den Blickwinkel. Dabei war gerade das „Wendejahr“ 1989 der historische Kristallisationspunkt eines utopischen Dranges nach anderen Perspektiven und neuen Möglichkeiten.
Aber auch schon vorher gingen von Leipzig weithin wahrnehmbare utopische Impulse aus. Denn Leipzig ist ebenso berühmt für den bedeutendsten Entwurf einer Philosophie der Utopie im 20. Jahrhundert, der mit dem Namen Ernst Bloch verbunden ist. Bloch lehrte und forschte in den 50er und 60er Jahren an der Leipziger Universität und veröffentlichte in dieser Zeit sein Hauptwerk, „Das Prinzip Hoffnung“, bevor er von der allzu engen marxistisch-leninistischen Philosophie seiner Institutskollegen vertrieben wurde. „Das Prinzip Hoffnung“ prägt den Begriff der „konkreten Utopie“ bis heute. Bloch versteht den Menschen als in besonderem Maße experimentierfreudig, als einen Weltveränderer, der stets eine Zukunft für sich gestalten will. Die konkreten Utopien der Menschen, die in ideologischen Überzeugungen, religiösen Einstellungen und politischen Haltungen, aber auch in individuellen Zukunftsplänen, Wünschen und Tagträumen formuliert, entfaltet und gelebt werden, stellen für ihn den wahrhaft bedenkenswerten Stoff einer humanistisch inspirierten Kultur dar. Für Bloch sind es gerade diese konkreten Utopien, aus denen das Zukünftige, das Neue vorscheint, und nicht etwa aus den abstraktrationalen, kollektiven Planungsfantasien und damit real unerreichbaren Utopie-Entwürfen. Bloch hat mit dieser Einsicht das notwendige Ende des sozialistischen Projektes gedanklich dreißig Jahre vorweggenommen. Und in diesem Sinne sind die konkreten Utopien der Menschen nicht nur eine wichtige Orientierung für jede/-n Einzelne/-n, sie sind zugleich auch der Stoff für einen ernst zu nehmenden Blick in die Zukunft. Das gilt auch für Leipzig.
Konkrete Utopien als Leipziger Standortfaktor
Konkrete Utopien spielen für Leipzig heute eine größere Rolle als noch zu Zeiten Blochs. Denn Leipzig wird heute, 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, gerade vor dem Hintergrund der hier gelebten konkreten Utopien wahrgenommen. Die Feuilletons der großen deutschen Verlagsanstalten und Nachrichtendienste überschlagen sich mit euphorischen Kommentaren zu Leipzig als Kreativstadt: So urteilte die Zeit über Leipzig als „Ort zum Träumen“ oder die FAZ sieht in Leipzig das „Disneyland des Unperfekten“. Von edlen Wilden in einer postkommunistischen Nische wird da munter fabuliert.
Einen großen Teil dieser Attraktivität bezieht Leipzig aus seiner Ausstrahlung als Großstadt, wo dank des vergleichsweise hohen Wohnungsleerstands und der vielen unerschlossenen, alten Industriebrachen potenziell erschwingliche Orte schlummern und darauf warten, von kreativen Geistern wachgeküsst zu werden. Keine deutsche Stadt dieser Größe kann eine so hohe Zahl an selbstverwalteten Haus- und Wohnprojekten, Nachbarschaftsinitiativen, Gartenkooperativen, Kunst- und Kulturräumen vorweisen. Dass diese längst kein Nischendasein mehr führen (müssen), zeigt sich schon an der zunehmenden internationalen Wahrnehmung. So fand 2014 der große Jahreskongress der internationalen Post-Wachstums-Bewegung nicht zufällig in Leipzig statt. Und auch bundesweit zieht die Stadt immer mehr junge Freigeister in ihren Bann, wie die ständig steigenden Zuzugszahlen belegen. Schöner wohnen, anders arbeiten, besser leben – Leipzig ist vor dem Hintergrund all der Postindustrieromantik ein Laboratorium neuer Ideen und neuer Formen des Zusammenlebens, ein El Dorado konkreter Utopien.
Dass das konkret utopische Denken eng mit den kulturellen Eigenarten der Menschen verzahnt ist, davon gibt Leipzig als Kulturstadt ein ebenso beredtes Bild. Während in anderen großen deutschen Städten die Leuchttürme der einstigen „Hofkultur“ noch heute ihre Schatten weit vorauswerfen, war und ist Leipzig seit jeher durch eine äußerst lebendige und vielseitige „Bürgerkultur“ geprägt. Und diese hat sich in den letzten 25 Jahren durch zwei neue Quellen aufgefrischt: die eher exklusive „Subkultur“ und die eher inklusive „Soziokultur“. Beides sind Lernwerkstätten des Zukünftigen, bieten erste Ankerpunkte für ganz heterogene soziale Schichten und leisten damit einen entscheidenden Beitrag zur Nachwuchsförderung, zur Bildung des Publikums und zum Erstaufschluss kunst- und kulturferner Milieus. Kunst und Kultur sind dort untrennbar mit dem Politischen und Sozialen verknüpft. Sie experimentieren an den ökonomischen und sozialen Fundamenten, zeigen neue Formen der Teilhabe und Mitbestimmung auf und sind nicht zuletzt oft avantgardistischer Impulsgeber für die Sparten. Die Frage, wie sich Kunst und Kultur auch neben und jenseits der deutschen Subventionskultur produzieren und reproduzieren lassen, ist deshalb für den postindustriellen Standort Leipzig von zentraler Bedeutung. Wenn es in Zukunft gelingt, mehr kreativwirtschaftlich stabile Modelle zu profilieren, die für andere Städte Modellcharakter haben, wäre dies ein essentielles Alleinstellungsmerkmal der Stadt und damit ein echter Standortfaktor. Leipzig ist zur Kultur bestimmt.
Dass solche Experimente auch fehlgehen, enden, scheitern können, lehrt die Geschichte. Umso wichtiger ist ihre historische Bedeutung in der Erinnerung. Und gerade hierfür braucht es eine Topografie der konkreten Versuche oder gar eine Archäologie konkreter Utopien, kurzum ein „Archiv der Ideen“. Für eine solche Leipziger „Archivierung“ wollen wir als Initiative Ost-Passage Theater mit dem Buch „Leipzig – Die utopische Kommune 1989 – 2015“ zum Stadtjubiläum der 1000-jährigen Ersterwähnung Leipzigs, im Rahmen des Kongresses Kultur|Standort. Bestimmung, einen Beitrag leisten.
Auf Spurensuche – Leipziger Geschichten
Auch die Initiative Ost-Passage Theater ist eine konkrete Utopie im Blochschen Sinne, da sie sich für eine Art des Theatermachens einsetzt, die an der Front der bürgerlichen Theateridee experimentiert. Die Initiative ist ein Zusammenschluss mehrerer Akteure aus der freien Theaterszene Leipzigs mit dem Ziel, die Energien sowohl der subkulturellen Bestrebungen als auch der soziokulturellen Bemühungen in einer neuen Form von „Nachbarschaftstheater“ zusammenzuführen und damit wieder näher an den selbstbewussten Ausdruck einer Leipziger Bürgerkultur heranzurücken. Wir behaupten: Leipzigs breite und vielfältige Kulturlandschaft entsteht zu einem großen Teil in den kleinen, oftmals unauffälligen Feldern der Soziokultur und der Subkultur. Dort wird unseres Erachtens der entscheidende Beitrag zur kulturellen Vielfalt der Stadt und zur kulturellen Bildung ihrer Bürgerinnen und Bürger geleistet.
Um diese sozio- beziehungsweise subkulturellen Energien aufzuschließen, haben wir Anfang 2015 unter der Federführung des freien Theaterkollektivs gruppe tag, das mit der Initiative Ost-Passage Theater assoziiert ist, zusammen mit dem Kulturamt Leipzig, der Rosa Luxemburg Stiftung, der Initiative Leipzig+Kultur und weiteren Kooperationspartnern einen Autorenwettbewerb unter dem Titel „Leipzig – Die utopische Kommune“ gestartet. Uns interessierte, welches Neue aus dem „Noch-nicht-Gewordenen“ von den Leipziger/-innen in der Folge von 1989 bis heute antizipiert wurde und an welchen Orten es sich als konkret Mögliches kristallisierte. Welche Menschen besuchten diese Orte, was inspirierte und bewegte sie? Welche Konflikte und Kämpfe mussten bestritten werden? Was ging verloren, was wurde gewonnen? Welche Geschichten haben sich letztlich wirklich zugetragen und welche lassen sich in diesem Kontext entspinnen?
Aus den eingesandten Kurzgeschichten ist in diesem Band eine Auswahl von zehn Texten versammelt. Sie stehen in ihrer stilistischen und inhaltlichen Breite exemplarisch für die Vielschichtigkeit Leipzigs und ihrer Bewohner/-innen. Eine Geschichte konnte die Jury des Autorenwettbewerbs besonders überzeugen. Sie gewann nicht nur den Wettbewerb, sondern wurde in einer Bühnenfassung an unterschiedlichen Theatern der Stadt uraufgeführt. Die Kurzgeschichte „Ein kleines Blatt vom Baum der Geschichte“ von Frau Gisela Kohl-Eppelt bildet deshalb den Anfang dieser kleinen Anthologie, denn sie erzählt klug und nüchtern von der Wendezeit in Leipzig, ohne Klischees und ostalgische Verklärung und mit einem außergewöhnlichen Sinn für Details. Vom Leben in und nach der (Zeiten)Wende berichten auch die neun darauffolgenden Geschichten. Zusammengenommen bilden sie ein vielseitiges Prisma, in welchem sich die Zeitgeschichte vielgestaltig bricht und dabei den Blick auf Individuelles und Intimes freigibt. – Auf das Leben, die Liebe und die Hoffnung in Leipzig. Vielleicht nicht immer in stilistischer Brillanz, dafür aber mit einer Intensität, die ans Authentische heranreicht.
Zuletzt: Vielleicht sind es ja eben die konkreten Utopien der Leipzigerinnen und Leipziger – ihr Festhalten am möglich Unmöglichen, ihr Beharren auf einer Perspektive nach vorn, ihr Insistieren darauf, dass da noch Hoffnung ist – die die reale Substanz des aktuellen Hypes um Leipzig ausmachen. Die Kurzgeschichte „Erstbesiedelung“ spielt darauf in ironischer Weise an und fragt zum Schluss: „In Abwandlung des Spruches ‚Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen‘ müssten wir heute sagen ‚Aus Fehlern lernen heißt siegen lernen‘. Aber wer lernt schon, Fehler als Fehler zu begreifen? Sieger gleich gar nicht.“
Lasst uns in diesem Sinne den Blick darauf richten, was es dringend zu verändern und zu verbessern gilt. Halten wir fest an unseren konkreten Utopien.
Matthias Sterba und Daniel Schade
Initiative Ost-Passage Theater
Leipzig, im Herbst 2015