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Gisela Kohl-Eppelt

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EIN KLEINES BLATT VOM BAUM DER GESCHICHTE

Jeden Abend steht der kleine Herr Friedrich am verschlossenen Fenster und sieht auf den nicht enden wollenden Verkehr zwischen den renovierten Häusern und gut sanierten Straßen. Er spürt wie immer, wenn auch gedämpft, die Erschütterungen des Hauses und hört das dumpfe Brausen, das, würde er je ein Fenster öffnen, wie ein brüllendes Tier in seine Stube stürzte. Er bildet sich ein, die Stimme seiner Frau zu hören, wie sie Komm ins Bett! ruft. Aber Herr Friedrich ist allein und sieht sich als ein Baum ohne Blätter.

1989 war das anders. Da erhob sich ein Zischeln und Raunen wie ein aufkommender Herbstwind beim Bäcker, beim Frisör, in den Wartezimmern von Ärzten, in der Straßenbahn. Die Worte, die Gesprächsfetzen hängten sich um seinen Mantel und blieben wie Laub auf ihm liegen.

Die erste Begegnung

Herr Friedrich war Musiker und klimperte sich als Klavierlehrer und Korrepetitor ehrgeizlos durchs Leben, wie er sagte. Das war untertrieben, denn seine Schüler glänzten auf Schulkonzerten und in Wettbewerben. Man munkelte, dass er für den Posten des Direktors der staatlichen Musikschule vorgemerkt sei. Herr Friedrich lebte schon lange allein. Seine Beziehungen hielten nicht. Er fand sie belastend und nach kurzer Zeit langweilig. Umso mehr schätzte er die Freundschaft. Die gab es mit seinen Schülern und deren Freunden, sodass sich im Lauf der Jahre ein beziehungsreiches Netzwerk entwickelte, das er wirkungsvoll verknüpfte.

Da klopfte eines Tages die Liebe auch an seine Tür und stellte alles andere in den Schatten. Es war vor drei Jahren, 1987, er zog in eine größere Wohnung. Das Haus war sanierungsbedürftig. Doch es wurde einfach abgewohnt. Wenn es regnete, stellten die Mieter Wannen und Eimer auf die Treppen, denn dort lief der Regen in Strömen die Wände herunter. Frau Grau aus der zweiten Etage besaß offensichtlich nur kleine Schüsseln. Die leerte Herr Friedrich gerade in seinen Eimer, als sie ihre Wohnungstür öffnete. „Danke“, sagte sie mit leiser hoher Stimme und forderte ihn auf, einen Moment zu warten. Sie drehte sich anmutig in der Tür und schenkte ihm dann einen gelben Apfel. Kurz huschte ihre kleine Katze zur Tür hinaus und ebenso schnell wieder hinein. Frau Grau schloss ihre Wohnungstür und der kleine Herr Friedrich stand noch eine ganze Weile auf der Stufe, den Apfel in der einen, den Eimer in der anderen Hand, und lauschte. Er lauschte betört der Situation nach. Die Regentropfen knallten in die leeren Schüsseln. Und sein Herz pochte. Frau Grau sah so frisch und adrett aus. Ihr Name passte überhaupt nicht zu ihrem Äußeren.

Die Allwissende

Nein, klatschsüchtig war seine freundliche Nachbarin Frau Kluge nicht. Sie stand mitten im Leben, nahm Anteil, wusste Bescheid über alles und jeden und über die Mieter im Hause sowieso, da sie als Einzige ein Telefon besaß und es den Hausbewohnern gefällig zur Verfügung stellte. Zwei Straßenbahnhaltestellen weiter war ihre Arbeitsstelle, eine Betriebskantine für Straßenbahner. Frau Kluge kochte dort, so auch für die Straßenkehrer, schmierte Brote für Streifenpolizisten und Taxifahrer. Ihren Nachbarn, Herrn Friedrich, den sie sofort in ihr mütterliches Herz geschlossen hatte, lud sie öfter und gern ein, noch einen Happen in ihrer Kantine zu essen, und gelegentlich tat er das auch. Manchmal klingelte Frau Kluge ebenso bei ihm an der Wohnungstür, wenn sie noch Licht sah, und fragte, ohne eine Antwort abzuwarten: „Ist es recht?“, um sich dann sofort auf die braune Couch ins Wohnzimmer zu setzen, sich eine Zigarette anzuzünden und ihn aufzufordern, mit ihr doch noch einen kleinen Absacker – den sie freilich mitgebracht hatte – zu trinken. Sie redete lebhaft und viel. So erfuhr Herr Friedrich auch über Frau Grau und deren Familie mehr, als er es jemals von den flüchtigen Begegnungen im Treppenhaus hätte erfahren können.

Die Erinnerung

Die ersten Wochen und Monate nach seinem Einzug kamen Lärm und Unruhe aus Frau Graus Wohnung, die direkt unter der seinen lag. Dann wurde es ruhiger. Nur an den Wochenenden dröhnte schwere Beat-Musik aus ihr. Die gehörte zu dem jungen Mann, der durch das Treppenhaus zu fliegen schien, wenn er Frau Grau besuchte. Dann brach die Musik abrupt ab, Türen knallten, der junge Mann polterte in wenigen Sätzen die Treppe hinunter. Ein frischer Luftzug wehte durch die offen gelassene Haustür und trug den starken Geruch seines Duschgels mit sich.

Eines Tages hörten die Besuche auf. Der kleine Herr Friedrich bemerkte es etwas spät und fragte nun seine Nachbarin nach dem Grund der wohltuenden Stille. Die Allwissende erzählte ihm bei einem ihrer nächtlichen Besuche: „Stellen Sie sich vor, der junge Mann, der Sohn von Frau Grau, ist rübergemacht, getürmt, obwohl es ihm doch hier gut ging. Zu gut“, setzte Frau Kluge noch nach. Und er solle mal darauf achten, wie sehr sich Frau Grau verändert habe. Sie würde jetzt ihrem Namen alle Ehre machen.

Herr Friedrich lüftete, als sie weg war, sah auf die still gewordene Straße, bemerkte die frisch mit Kreide aufgetragenen Wegmarkierungen, die im eigentümlichen Kontrast zu den schadhaften Häusern und Wegen standen. Er empfand kein Mitleid für Frau Grau.

Besuch von Frau Grau

Doch dann stand sie eines Tages vor seiner Tür. Herr Friedrich erkannte sie gar nicht sogleich. Er bemühte sich zu verbergen, wie betroffen er über ihr verändertes Äußeres war! Sie war stark abgemagert. Noch im Gegenlicht erschrak er, wie verhärmt ihr Gesicht aussah. Er bat sie in seine Wohnung. Führte sie in die Küche, die immer ordentlich aussah, weil er nie kochte. Sie legte ein Geschenk auf den Tisch und fragte ohne Umschweife, ob er für ihr Kätzchen sorgen könne. Sie habe bemerkt, dass er jetzt viel zu Hause sei. Sie selbst sei ja nun ganz alleine, geschieden und ihren Sohn könne sie auch nicht fragen, der sei fort und sie müsse demnächst ins Krankenhaus. Er versprach, sich um alles zu kümmern. Er brühte Kaffee in zwei großen Bechern auf und bot Weinbrand an, den sie zunächst ablehnte. Sie sei zuckerkrank und das Herz wäre auch nicht in Ordnung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie fasste sich schnell und sagte: „Ich höre Sie so gerne spielen. Es stört mich überhaupt nicht, im Gegenteil, es tut mir richtig gut.“

Sagte sie das, weil sie ihren Sohn vermisste? Herr Friedrich hatte sich über den Weggang einiger seiner Sänger, Tänzer und Schüler kaum Gedanken gemacht, es gab doch genug Nachwuchs. Wenngleich – einige vermisste er schon, wer ausgereist war, blieb unwiderruflich weg, es gab keine Wiederkehr! Und so fühlte auch er sich gegen Ende des Schuljahres jedes Mal leer und ausgebrannt, er sehnte sich nach Sonne und Meer und nach menschlicher Wärme.

Gern zeigte er Frau Grau nun auch die anderen Zimmer seiner Wohnung, deren Wände mit Postern und Fotos beklebt waren, hauptsächlich mit Tieren und Landschaften. Dazwischen hing, provisorisch mit Stecknadeln und Zwirn befestigt, ein wildes Sammelsurium von Hühnergöttern, Vogelfedern und bizarr gewachsenem Gezweig. Eine Weile betrachtete Frau Grau diesen ungewöhnlichen Wandschmuck. „Die schönsten Geschenke sind umsonst und nicht bezahlbar“, sagte er zu ihr. Sie verstand sofort.

Er brühte wieder Kaffee auf, diesmal trank Frau Grau ein Gläschen Weinbrand und dann noch eins, ihr Gesicht rötete sich und sie sah schon viel besser aus, als sie beide nun auch noch in ihre Wohnung gingen. Die stand freilich im Kontrast zu Herrn Friedrichs Bleibe und war viel gemütlicher. Sie tranken weiter, redeten, vor allem Frau Grau konnte gar nicht aufhören. Der Alkohol hatte ihre Zunge gelöst und Herr Friedrich tätschelte ihre Hand und gewann tiefe Einblicke. Einmal in den Alltag der sozialistischen Produktion des benachbarten Chemiebetriebes, dann in ein Leben für die Partei, aber auch in das tiefe Leid um den geliebten Sohn, der Republikflucht begangen hatte. Über ihren geschiedenen Mann sprach Frau Grau nicht. Sie hatte alles, was an ihn in der Wohnung erinnerte, entfernt und sich ein herrenloses Kätzchen aus der Gartenkolonie mit nach Hause genommen.

Frieda und Friedrich

Danach besuchten sich die beiden, Herr Friedrich und Frau Grau, die mit Vornamen Frieda hieß, häufiger. Frau Kluge dagegen stellte ihre nächtlichen Besuche bei Herrn Friedrich ein. Außerdem hatte der ganz unverhofft ein Telefon bekommen! Nanu? Das Leben schien Frau Grau wieder zuzulächeln. Und Frau Grau lächelte zurück. Es tat nicht mehr so weh, dass sie nach der Republikflucht ihres Sohnes strafversetzt worden war, weil sie im Lohnbüro als nicht mehr vertrauenswürdig galt und nun in den Schichtdienst, in die Produktion musste. Der Posten als Kassiererin in der Einheitspartei war ihr auch abgesprochen worden. Doch es gab Hoffnung. In den Arbeitspausen eilte sie zum Telefon und rief Herrn Friedrich an. Es tat ihr so gut, seine Stimme zu hören. Ihre heitere Stimmung färbte auf die neuen Kollegen ab, die gutmütig frotzelten: „Jetzt kommt unsere Turteltaube“, gleichzeitig aber aufpassten, dass sie sich bei der schweren körperlichen Arbeit nicht übernahm. Sie amüsierten sich, dass sie ihren Liebsten mit seinem Nachnamen anredete. „Frieda und Friedrich, das klingt beinah so schön wie Paul und Paula“, erklärte sie treuherzig und dachte an den DEFA-Film. Es war auch keine Rede mehr davon, dass Frau Grau ins Krankenhaus musste. Die Liebe ist und bleibt immer noch die beste Medizin! Manchmal holte Herr Friedrich sie in seinem neuen Trabi von der Arbeit ab, sie fuhren dann gleich in ihr Gärtchen oder an einen Badesee. Sie lebten mit Bedacht und Genuss und zum ersten Mal fühlte sich der kleine Herr Friedrich in dieser Beziehung nicht eingeengt. Er wurde ihrer nicht überdrüssig, ganz im Gegenteil. Diese Beziehung war herzerwärmend und anheimelnd wie die Musik, die Frau Grau so gerne hörte. Er spielte für sie Bach und Beethoven, die langsamen Sätze der Sonaten gefielen ihr ganz besonders. „Es ist, als wandelte ich durch Landschaften.“ Sie sagte wandelte und tat es tatsächlich.

Hinter verschlossener Tür

Ende September 1989 wurde Frau Grau eines Tages von ihrer Arbeit weg in die Betriebsleitung gerufen. Dort stellte sich ein ihr fremder Parteigenosse vor und führte ein Unter-Vier-Augen-Gespräch mit ihr. Das fand in einem separaten Raum am Ende des Flures statt, dessen Tür keine Aufschrift trug. Der sehr sympathische Mitarbeiter redete sie mit Genossin Grau an. Er eröffnete ihr neue Perspektiven, wenn, ja, wenn sie sich kooperativ zeige, wachsam gegenüber allen subversiven Elementen, die unserer Republik schaden wollen, sei, auch auf den Herrn Friedrich und der Frau Kluge ein Auge habe. Und wenn sie ihren Sohn, den einst so hoffnungsvollen Sportkader, zur Rückkehr in unsere Republik bewegen würde.

„Aber wieso? Woher wissen Sie das?“, stammelte Frau Grau, die mehr ahnte als begriff.

„Wir sind gut informiert und wir helfen Ihnen, Genossin Grau.“

Sie wurde bei Androhung schärfster Strafen zur Geheimhaltung dieses Gespräches, das doch sehr einseitig ausgefallen war, verpflichtet; unterschrieb ein Formular, ohne es zu lesen, erhielt ihren eingezogenen Parteiausweis und wenige Tage darauf ihren alten Arbeitsplatz zurück. „Sie haben bewiesen, dass Sie eine standhafte Genossin sind“, sagte die „Graue Eminenz“ zum Abschluss und drückte der hilflosen Frau Grau in beabsichtigter Herzlichkeit recht lange die Hand. Nun war sie interne Mitarbeiterin und sollte Spitzeldienste leisten. Oh Mutterherz!

Der Anruf

In den nächsten Wochen erhob sich der Sturm, der sich schon so lange angekündigt hatte. Zu Ende das bleierne Warten … Die Wende kam, der Umsturz. Er trieb die Menschen auf die Straße. Jeder Tag brachte etwas Neues mit sich. Der verschollene Sohn von Frau Grau meldete sich am Telefon von Frau Kluge. Warum er nicht eher ein Lebenszeichen von sich gegeben habe, wollte sie von ihm wissen.

„Ich wollte meine Mama nicht in Schwierigkeiten bringen“, antwortete er.

„Schwierigkeiten hatte sie mehr als genug“, sagte Frau Kluge streng und klar und holte Frau Grau ans Telefon.

Frau Grau wurde rot und blass, schluchzte und lachte: „Du bist wieder da. Nun wird alles gut. Wir sehen uns, ja, ich komme. Mein Junge!“

Sie musste sich setzen. Frau Kluge stürzte mit einem Glas Wasser zu ihr und beendete energisch das Gespräch, indem sie in den Hörer rief: „Das ist alles zu viel für Ihre Mutter!“ Sie legte einfach auf.

Die Formalitäten für die Reise in den Westen dauerten nur vier Wochen. Als Reisegrund war in ihren Unterlagen Familienzusammenführung angegeben. Ja, Frau Grau wollte ihren Sohn zurückgewinnen. Was wollte er nur im kapitalistischen Ausland, wo doch sein Zuhause hier, bei ihr, war.

Die Westreise

Die Mutter reiste zu ihrem Sohn. Sie war wie im Fieber. Die fremde neue Welt beunruhigte sie. Es ist etwas anderes, dieser, nur aus dem Fernsehen bekannten, in Wirklichkeit zu begegnen. Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie dem Taxifahrer die Adresse ihres Sohnes nannte. „Sie kommen wohl von drüben? Es ist ziemlich weit“, sagte er freundlich. Er hatte Erfahrung mit den Leuten von drüben, die ahnungslos in sein Taxi stiegen und am Ziel nicht den vollen Fahrpreis bezahlen konnten. Während der Fahrt erfuhr er die Geschichte von Frau Grau und beschloss, sie umsonst mitzunehmen. Gegebenenfalls konnte er den Fahrpreis vom Sohn noch einfordern.

Frau Grau musste lange läuten, der Fahrer lehnte mit verschränkten Armen am Taxi und sagte: „Zeit ist Geld. Ich fahre Sie wieder zurück“, da öffnete sich in der vierten Etage des Hauses ein Fenster. Eine Frauenstimme rief etwas. Nach einer Weile erschien die junge Frau in der Tür und begrüßte Frau Grau. Über deren Äußeres aber erschrak Frau Grau bis ins Mark. Oh Gott, eine Nutte, ich bin hier falsch, dachte sie. Die junge Frau lachte eigenartig, als hätte sie die Gedanken der Mutter erraten. „Ihr Sohn hat sich schon aufs Ohr gelegt. Wir arbeiten nämlich nachts.“

Sie ging zum Fahrer und flüsterte etwas, was die verwirrte Frau Grau nicht verstand. Darauf kam er, trug das kleine Gepäck in die vierte Etage, drückte der Mutter beinah heimlich seine Visitenkarte in die Hand und murmelte: „Falls Sie mich brauchen.“

Die junge Frau brachte ihm ein paar Geldscheine, rief dann frech in die Wohnung: „Karl, steh auf, dein Muttchen aus dem Osten ist da“, stellte die Reisetasche mitten in den Flur, half Frau Grau aus dem Mantel, legte ihren Hut auf die Ablage, die so hoch angebracht war, dass sie ihn ohne Hilfe niemals würde herunternehmen können.

Frau Grau ging auf die Toilette, sah ihr blasses Gesicht im Spiegel, fremd in der Überfülle von rosa Toilettenartikeln und Nippes. Die starken Düfte und Gerüche machten sie benommen. Sie hörte die laute Stimme der anderen Frau, die immer wieder diesen idiotischen Satz wiederholte: „Steh auf, dein Muttchen aus dem Osten ist gekommen“, und schließlich die Stimme ihres Sohnes, der sich, aus tiefem Schlaf gerissen, nicht zurechtzufinden schien.

Der Sohn

Sie verließ schnell das Bad und fiel im Flur fast über die Reisetasche in seine Arme. Wie klein sie doch war. Der Sohn hob sie hoch. Wie stark er war, fand sie. Ein Gebirge aus Muskeln und Fleisch. So hatte sie ihn nicht in Erinnerung. Er trug sie einfach in die Küche und setzte sie behutsam ab. „Mein Muttchen“, dröhnte er heiser und sie ärgerte sich über die ungewohnte Anrede. „Jetzt trinken wir erst einmal Kaffee und du“, er wandte sich an seine Gefährtin, „verdrückst dich und schminkst dir endlich deine Visage ab, meine Mama denkt ja sonst was!“ Die junge Frau warf ihm einen Blick zu, den niemand hätte deuten können, weil ihre Augen bis zu den Brauen dunkel geschminkt waren. Doch sie ging gehorsam ins Bad.

Nun war die Mutter mit dem Sohn allein in der Küche, die er groß und mächtig wie ein Koloss ausfüllte. „Ist das deine Frau?“ Ihre Stimme war so leise und piepsig, dass er ihre Frage überhörte, wohl auch, weil er zur gleichen Zeit redete: „Wie geht es dir? Wie war die Fahrt?“

„Ach, es geht“, konnte sie nur flüstern und musste ihn weiter anstarren. War das wirklich ihr Sohn?

„Ich mache Bodybuilding, sieh mal.“ Er entblößte seinen Arm bis zur Schulter. Unter der Haut bewegten sich die Muskeln wie Tiere.

„Wozu machst du das?“, fragte sie und schaute entsetzt auf seinen Arm.

„Ich arbeite bei der Security, das schreckt mehr ab als alle Worte“, antwortete er stolz.

„Was heißt ßäkjuriti?“ Frau Grau kannte das Wort nicht.

„Ich sorge dafür, dass sich die Gäste in unserer Location sicher fühlen.“

Er sprach das Wort englisch aus und Frau Grau fragte ahnungsvoll weiter: „Welche lokäschen? Bist du etwa Türsteher, Rausschmeißer? Ist das dein Beruf?“

„Ja, Mama, das ist mein Beruf, und ich verdiene nicht schlecht damit.“ Er stand auf, schüttete sich eine Menge Pulver in ein Glas, verrührte es mit Milch und trank. „Das ist Eiweißpulver für meine Muskeln.“

Die junge Frau schob sich wieder in die Küche. Ihr Gesicht glänzte fettig, wirkte müde und ein wenig derb, aber nicht unsympathisch. Ich würde sie auf der Straße nicht wiedererkennen, dachte Frau Grau, ein Allerweltsgesicht. Die junge Frau schenkte Kaffee ein. Sie fragte nicht, ob die Mutter frühstücken wolle, sondern forderte alle auf, ins Wohnzimmer zu gehen und dort zur Begrüßung Sekt zu trinken. „Wir haben hier alles, nur keinen Platz“, meinte sie, als sie in der beklemmend engen Stube standen, in der schwarze Polstermöbel, eine dunkle Schrankwand und ein klobiger Couchtisch waren. Auf dem Sofa vor dem Fenster lagen ein paar Wäschestapel, sonst sah es aufgeräumt aus, wenn nicht der übervolle Aschenbecher auf dem Tisch gewesen wäre. Die Mutter glaubte, ersticken zu müssen. Während der Sekt eingegossen wurde, versuchte sie das Fenster hinter dem Sofa zu öffnen, kam aber mit dem Verriegelungsmechanismus nicht zurecht. Sie kniete hilflos zwischen den umstürzenden Wäschebergen, hielt mit beiden Händen den Fensterflügel fest, der sich aus den Scharnieren gelöst hatte, und musste es sich gefallen lassen, dass die junge Frau wieder und wieder sagte: „Unser Muttchen aus dem Osten, herrjemine …“

Sie tranken den Sekt und wurden nicht warm dabei. Frau Grau fühlte sich übernächtigt und stellte keine Fragen. „Wir müssen uns ein wenig ausruhen“, sagte der Sohn zur Mutter. „Mach es dir hier gemütlich.“ Seine Freundin (die Mutter wusste noch immer nicht, ob die beiden ein Ehe- oder ein Liebespaar waren) räumte die Wäschestapel weg, trug die Gläser hinaus, brachte ein paar Handtücher und die Reisetasche und sah dabei Frau Grau nicht ein einziges Mal an. Dann schloss sie mit Nachdruck die Tür. Frau Grau hörte sie in die Hände klatschen und „So“ sagen, als hätte sie eben eine unangenehme Pflicht erledigt. Danach wurde es still.

Verwirrung und böses Erwachen

Obwohl es kühl war und die Couchdecke nach Zigarettenrauch roch, legte sich Frau Grau auf das Sofa und dachte an ihren lieben Friedrich. Dabei erholte sich ihr beklommenes Herz und sie fiel in einen tiefen erquickenden Schlaf, aus dem sie erst nach Stunden erwachte. In der Wohnung rumorte es, sie hörte Türen klappen, etwas wurde über den Flur geschleift und herausgetragen, die Toilettenspülung rauschte, in der Küche gab die Kaffeemaschine Geräusche von sich, als würde sich jemand übergeben, dann spielte viel zu laut Radiomusik. Als Frau Grau aus dem Zimmer trat, sagte die Stimme des Ansagers gerade: „An allen strategisch wichtigen Orten steht Militär bereit. Heute wird scharf geschossen. Die Bevölkerung wird aufgefordert, zu Hause zu bleiben.“

„Ganz schön was los bei euch im Osten“, schrie die junge Frau und stellte das Radio leiser.

Wieder tranken sie nur starken Kaffee. Frau Grau verspürte Heißhunger und dachte daran, die Reste ihres Reiseproviants heimlich zu essen.

„Karl führt uns jetzt aus.“ Die Freundin schien hier den Ton anzugeben. Beide, der Sohn und sie, waren auffällig gekleidet, rochen stark nach Parfum, und Frau Grau fühlte sich überhaupt nicht wohl in ihrer Gesellschaft. Auch das große, tiefergelegte Auto missfiel ihr. Während der Fahrt hörten sie Radio und Frau Grau wäre jetzt viel lieber bei ihrem Friedrich zu Hause gewesen als bei ihrem Sohn, der ihr so fremd geworden war.

Sie hielten vor einem Hotel an. Der Glanz der fremden Umgebung war überwältigend, das Essen ungewohnt delikat, die Getränke süffig und berauschend, selbst die Seife auf der Toilette, die dezente Musik, die sich mit den Wohlgerüchen verband, betörten sie und lähmten ihre Urteilskraft. Sie tranken, der Sohn schenkte wieder und wieder ein, sie prosteten sich zu: „Ja, das Leben im Kapitalismus ist schön, wenn man Geld hat“, rief er.

„Frau Grau, du solltest Frau Rosa heißen.“ Die Freundin kicherte laut über ihren Witz, doch der Sohn sah seine Mutter besorgt an und griff nach ihrem Puls.

„Du hast ihr doch nicht etwa von dem Zeug gegeben?“

„Doch, ein bisschen, eine klitzekleine Prise“, antwortete seine Freundin und kicherte albern weiter. Das Kichern ging in girrendes Vogelgezwitscher über, die Mutter fühlte sich wunderbar leicht, sie wurde getragen, das Licht schien aus ihrem Inneren zu kommen, die Vogelstimmen umschwirrten sie. Sie war jetzt selber ein Vogel, nein, ein Fisch, tauchte in ein Meer aus Watte ein, schwebte wieder daraus empor und flog und flog …

Am nächsten Morgen erwachte Frau Grau auf dem schwarzen Sofa und wusste einen Moment lang nicht, wo sie war. Ihr Körper schmerzte, der Kopf dröhnte, dann wurde ihr so übel, dass sie es gerade noch ins Bad schaffte, den Klodeckel zurückwarf und sich heftig erbrach. Hier ist niemand, stellte sie fassungslos fest. In der Tat war das Schlafzimmer, das sie noch nicht gesehen hatte, leer. Sie lief durch die kleine Wohnung und suchte nach einem Lebenszeichen. Das können sie doch nicht machen! Endlich entdeckte sie einen Briefumschlag, den ein Luftzug unter den Küchentisch geweht haben musste. Auf den Zettel in ihm hatte ihr Sohn eilig geschrieben: „Liebste Mama, verzeih uns. Ich wollte es dir sagen. Mach dir keine Sorgen. Sind im Urlaub. Anbei etwas Geld. Tschau, dein Karl.“ Es lag aber kein Geld dabei. Anbei dabei, anbei dabei, o wei, o wei, dudelte es in ihrem Kopf, der vor Schmerzen zerplatzen wollte. Sie kramte in ihrem Gepäck nach der Reiseapotheke, fand sie aber nicht. Schließlich suchte sie im Bad und in der Küche nach einer Hausapotheke, entdeckte in einem Fach massenhaft Schmerzmittel und bediente sich. Die Wirkung setzte rasch ein. Doch dann wurde ihr wieder übel, das ganze Elend begann noch einmal. Frau Grau legte sich im Schlafzimmer auf das Bett, deckte sich mit beiden Decken zu, klapperte mit den Zähnen, bibberte, wurde allmählich warm und schlief ein.

Schließlich träumte sie von Friedrich, der in einem Gärtchen saß und Uhren reparierte. „Ihre Zeit ist noch nicht reif“, rief er. „Schau mal, wie hübsch sie ist!“ Er hielt ihr eine kleine bunte Armbanduhr entgegen. Sie sah um sich. Statt Blüten trugen die Blumenstängel in den Beeten kleine und große Uhren, die jetzt heftig zu ticken begannen, sodass Frau Grau erwachte. Sie stand sofort auf und brachte sich in Ordnung.

Die Wohnung war kalt und ruhig. In dem fast leeren Kühlschrank fand sie ein paar Joghurts, sie kochte Tee, aß ihren Reiseproviant vom Vortag auf und stellte das kleine Radio in der Küche an. Wieder hörte sie die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Gedröhn der Musik.

„Hier am Checkpoint Charlie ereignen sich unglaubliche Szenen. Fremde Menschen liegen sich in den Armen. Wir sind alle Brüder und Schwestern sowohl in Ost als auch in West. Wir sind ein Volk, eine Nation. An diesem denkwürdigen Tag, an diesem historischen Tag hat sich die alte DDR für immer verabschiedet und ich rufe Freiheit, Freiiiiheiiiit!“ Seine Stimme ging in Geheul unter und die wieder einsetzende Musik setzte das Geheul irgendwie fort.

Frau Grau sagte zu sich: Ich muss nach Hause. Sofort! Sie rief die Nummer des Taxifahrers auf der Visitenkarte an, der fast im nächsten Moment klingelte. Bevor sie ging, zog sie rasch alle Stecker aus den Dosen, auch den der Kühltruhe, die mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Sie ließ den Hut auf der hohen Ablage liegen, warf die Tür ins Schloss und eilte die vier Stockwerke hinunter.

Ankunft in der neuen Zeit

Der Taxifahrer umarmte sie. „Sie sind frei!“

Frau Grau erwiderte: „Ich kann Sie nicht bezahlen.“

Aber der Taxifahrer war nicht zu bremsen. „Ich fahre Sie, wohin Sie wollen!“ Doch fuhr er sie nur zum Bahnhof und wünschte ihr alles, alles Gute. Und Frau Grau fuhr in einem fast leeren Zug nach Hause, während in der Gegenrichtung voll besetzte Züge vorbeidonnerten. Aus den geöffneten Fenstern winkten Hunderte Arme mit Mützen, Schals, Taschentüchern und bloßen Händen in die kalte Nacht. Sie dachte nur: Jetzt habe ich meinen Sohn das zweite Mal verloren. Sie hätte gerne geweint, aber ihr Herz war wie verdorrt.

Obwohl der Zug erst in einer reichlichen Stunde zurück in den Westen fahren sollte, wurde er von Hunderten Menschen erwartet, die alle einen Sitzplatz ergattern wollten. Als er hielt, erstürmten sie ihn. Frau Grau wurde zurückgestoßen, sie verlor beinahe die Knöpfe ihres Mantels und kämpfte wie eine Berserkerin um ihr Leben. Sie schlug einem Kerl, der blind gegen sie rannte, die Tasche ins Gesicht, kam frei, stürzte nach vorn, strauchelte, wurde zu Boden gerissen, aufgehoben, wieder in den Zug geschoben. „Ich will aussteigen! Lasst mich raus!“ Endlich stand sie auf dem Bahnsteig, zerzaust, derangiert, ihre Reisetasche lag ein paar Meter entfernt. Jemand hatte sie ihr aus dem Zug nachgeworfen. Ein Reporter fotografierte alles, während sich eine alte Frau in Schwesterntracht um sie bemühte und die ganze Zeit über bei ihr blieb. Der Reporter begleitete sie und ließ nicht von ihr ab, obwohl die Missionsschwester ihn anherrschte: „So lassen Sie doch endlich die Frau in Ruhe!“

Frau Grau rief Herrn Friedrich an, er möge kommen und sie abholen. Sie zitterte wie im Fieber. Endlich kam er. Sie erzählte ihm unter Schluchzen die ganze Geschichte und bemerkte den Reporter nicht.

Am nächsten Morgen stand unter der Überschrift „Frau Grau sieht rot“ eine Geschichte in der Zeitung, die der ihren entfernt ähnelte und sie sowohl auf den Fotos als auch im Text als eine entfesselte Furie darstellte, die aus Rache über die Republikflucht ihres Sohnes die Gelegenheit zur Einreise in den Westen genutzt hatte, seine Wohnung zu verwüsten.

Spätes Glück und frühes Ende

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Der kleine Herr Friedrich hielt um Frau Graus Hand an, weil sie für ihn die beste aller Frauen war, klug, sanft und ein paar Jahre älter. Nach der Trauung schenkte er ihr eine hübsche Swatch-Armbanduhr und eine Hochzeitsreise in das Land, das diese Uhren herstellt. Die kleine bunte Uhr erinnerte Frau Grau an den merkwürdigen Traum in der Wohnung ihres Sohnes. „Die Zeit ist noch nicht reif“, murmelte sie versonnen.

Jeder Tag brachte Veränderungen. Fast gleichzeitig verloren die Mieter des Hauses ihre Arbeit, denn die meisten Betriebe wurden geschlossen, darunter auch das Chemiekombinat und die Kantine für Straßenbahner. Nur Herr Friedrich war ein Glückspilz, er bekam eine Festanstellung an der städtischen Musikschule. Allerdings wurde er nicht ihr Direktor, sondern nur der Vize eines Managers aus den alten Bundesländern. Das Wohnhaus wurde saniert. Eingerüstet, in Folie gepackt, hatten alle Bewohner den Eindruck, in einem Treibhaus aus Milchglas zu leben. Dahinter glühte und blühte Frau Grau. „Komm ins Bett“, rief sie nach ihrem Friedrich, der es gewohnt war, spät schlafen zu gehen.

Doch dann, die Planen um das Haus waren schon verschlissen, hatten sich gelockert und knatterten im Wind, ihre Metallösen klimperten gegen das Gerüst, es war ein nicht endender Lärm, starb Frau Grau. Sie starb den leisen Herzsekundentod. Herr Friedrich bemerkte es nicht einmal, obwohl er neben ihr schlief. Frau Kluge tröstete ihn, weil er von diesem Schicksalsschlag völlig überrumpelt war, nichts empfinden konnte und verwirrt zu sein schien. Sie begleitete ihn auf allen Behördengängen, die Freunde und Schüler spielten zur Beerdigung Händels Largo und Piazzollas Tod eines Engels. Der Sohn meldete sich, um zu erben. Keiner erfuhr jemals, dass Frau Grau noch kurz vor der Wende und vor ihrer Ehe als Mitarbeiterin der Stasi unter dem Decknamen „Rosa“ geführt wurde. In ihrem einzigen Bericht über ihren Friedrich stand geschrieben: „Er isst gerne Bananen und möchte auf Helgoland Urlaub machen.“

Ist das nicht belanglos?

Außerdem schon so lange her, Schnee von gestern …?

Epilog

Herr Friedrich hat nie wieder geheiratet. Seine Schüler lieben ihn. Manche von ihnen sind inzwischen berühmte Musiker geworden. Auf ihren Internetseiten liest man seinen Namen und in Interviews fügen sie stets hinzu: „Er war mein Lehrer und bleibt mein bester Freund …“

Eigentlich ist er kein Baum ohne Blätter. Doch noch heute steht der kleine Herr Friedrich abends am geschlossenen Fenster und bildet sich ein, die Stimme seiner Frau zu hören.

Leipzig - Die utopische Kommune 1989 – 2015

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