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VORWORT

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Wenn Sirenen aufheulen, erschrecke ich. Das Erschrecken ist unmittelbar, wie ein Reflex. Ich bin im März 1944 geboren, mein erstes Jahr ist das letzte Jahr des Zweiten Weltkriegs. Von dieser Zeit weiß ich nichts mehr, nur die Sirenentöne haben sich eingebrannt ins Hirn.

Vermutlich ist dies ein Grund, warum ich damit begann, Texte aus dem Jahr 1945 zu lesen und dann zu sammeln. Sie beschreiben eine Zeit, in der ich zwar schon lebte, aber noch nicht viel mitbekam von den Ereignissen des Krieges. Oder doch mehr, als man im Allgemeinen annimmt? Ich muss zumindest das Herzklopfen, die Angst meiner Mutter, die Unruhe in meiner Umgebung gespürt haben, wenn die Sirenen warnten, die Bomben einschlugen.

Den Impuls für dieses Buch gab ein Abschnitt aus einem Tagebuch meiner Mutter, das sie für mich geschrieben hat. Zwar kannte ich diesen Text schon, hatte ihn sogar aus der Sütterlinschrift in die lateinische Schrift übertragen, doch ging damals mein Interesse nicht über ein persönliches hinaus. Jetzt richtete sich meine Aufmerksamkeit auf das »Stück Weltgeschichte«, und auf die junge Frau, die es erlebt und beschrieben hat. Dieser Blickwechsel war sicher kein Zufall; das Thema lag in der Luft. Zwar gibt es eine unübersehbar große Zahl von Veröffentlichungen über den Zweiten Weltkrieg. Doch scheint sich das gesellschaftliche Interesse mehr und mehr auf die persönlichen Erlebnisse der Kriegsgeneration zu richten. Als »Zeitzeugen« erzählen sie ihre individuelle Geschichte, eine anschauliche und notwendige Ergänzung einer auf Daten und Fakten konzentrierten Geschichtsschreibung.

Auch die Personen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sind Zeugen ihrer Zeit. Allerdings handelt es sich nicht um Erinnerungen alter Menschen aus großem zeitlichen Abstand heraus, sondern um Tagebücher und Briefe, die 1945 entstanden sind. Die Stimmen, denen wir hier zuhören, sind viel jünger – die jüngste fünfzehn Jahre alt – und sie sind nah dran an den Ereignissen. Wir kommen in Kontakt mit Persönlichkeiten, ohne ihnen im »realen« Leben begegnet zu sein, werden hineingezogen in ein Zeitgeschehen, das wir nicht selbst erlebt haben. Das gelingt sonst nur Romanen.

Die VerfasserInnen der Briefe und Tagebücher sind fast alle nicht mehr am Leben. Und die nächste Generation hat möglicherweise erst jetzt genügend Abstand, um sich mit dieser heiklen Geschichte zu beschäftigen. In vielen Familien wurde über diese Zeit wenig oder gar nicht gesprochen, das ist bekannt. Und die ’68er haben damals ihre Eltern eher zur Rede gestellt, zur Rechenschaft gezogen und deshalb nicht wirklich etwas erfahren, vielleicht auch nicht erfahren wollen. Im Unterschied dazu geht es mir darum, die Erlebnisse, Haltungen und Gefühle von Menschen aus der Kriegsgeneration erst einmal nur wahrzunehmen, ohne gleich in die Auseinandersetzung zu gehen oder sich vorschnell um Verständnis und Erklärungen zu bemühen.

Eine möglichst offene Haltung erfordert möglichst wenige Vorgaben für den Prozess des Sammelns. Ich suchte nach privaten Texten, nach Tagebüchern, Briefen, Berichten aus dem Jahr 1945, im Unterschied zu Erinnerungen an diese Zeit oder Interviews mit Zeitzeugen, zwei in der Herangehensweise und den Ergebnissen gänzlich andere Textsorten. Sonst machte ich keine Einschränkungen, suchte auch nicht gezielt nach bestimmten Themen. Ich nutzte mein privates und berufliches Netzwerk, erzählte von meinem Vorhaben, schickte als Beispiel den Text meiner Mutter herum und bat darum, in Kellern und Dachböden nach entsprechenden Dokumenten zu suchen und mein Anliegen auch im Bekanntenkreis zu verbreiten. Zu den Texten, die mir dann zur Verfügung gestellt wurden, hatten die BesitzerInnen allesamt eine persönliche Beziehung; meist stammten die Texte, wie meiner auch, von den Eltern. Manche hatten die gefundenen Tagebücher oder Briefe noch nie gelesen, und zwar nicht nur deshalb, weil die Schrift ihnen Schwierigkeiten machte oder weil sie bisher nicht dazu gekommen waren. Die Scheu davor, vielleicht etwas zu erfahren, das man gar nicht wissen will, spielte sicher mit. Einige der Angeschriebenen fanden wohl passende Dokumente, mochten sie aber aus unterschiedlichen Gründen nicht veröffentlicht sehen.

Zu Beginn des Sammelns hatte ich noch kaum eine konkrete Vorstellung, was da auf mich zukommen würde und ob die Texte qualitativ und quantitativ für eine Veröffentlichung geeignet wären. Als die Dokumente dann nach und nach eintrafen, überraschte und beeindruckte mich ihre Vielfalt und ihre Intensität. Ich hatte Glück, dass ich Texte von Frauen und Männern, aus verschiedenen Gebieten Deutschlands, von Personen mit unterschiedlicher Bildung und unterschiedlichen Berufen erhielt. Und Glück auch insofern, als keine Texte von Prominenten oder von nationalsozialistischen Politikern dabei waren. Sie hätten der Sammlung und ihrer Rezeption falsche Akzente gegeben. Auch erhielt ich keine Dokumente von Gefangenen in Konzentrationslagern; solche Texte hätten vermutlich die gesamte Sammlung aus den Angeln gehoben. Was ich also »Glück« genannt habe, sind genau genommen Auswahlkriterien, die ich aber nicht anwenden musste.

Ansonsten orientierte ich mich in der Auswahl der Dokumente an meinem »Geschmack«. Gut lesbare, spannende, anrührende Texte sollten es sein, Texte, die eine Geschichte erzählen. Solche Qualitäten hatten überraschend viele. Einige wenige Kürzungen schienen mir sinnvoll, da die Tagebücher stellenweise viel Privates enthalten, das für Außenstehende nicht verständlich ist und zu viele Erläuterungen notwendig gemacht hätte. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik habe ich der Lesbarkeit wegen nach den heutigen Regeln korrigiert, dabei aber hier und da sprachliche Eigenheiten belassen, die zur Zeit und zur Persönlichkeit der Schreibenden gehören. Die Anordnung der Texte folgt keinem zeitlichen, regionalem oder thematischen Ordnungsprinzip; eine Dramaturgie der Abwechslung von kurzen und langen, leichtgewichtigen und schweren Texten erschien mir lesefreundlicher und reizvoller.

Für das Verständnis der Texte ist eine gewisse Kenntnis der Zeitgeschichte um das Jahr 1945 notwendig. Da ich selbst keine Historikerin bin, war mir klar, dass ich mich hier auf ein für mich unsicheres Terrain begeben würde. Aber selbst Fachleute hätten wohl Schwierigkeiten, das richtige Maß an notwendigen Informationen für diese Sammlung zu liefern. Die Texte sollten ja nicht von Informationen überwuchert werden, sie sollten das bleiben, was sie sind, und nicht relativiert werden durch »objektiv richtiges« Wissen über diese Zeit. Es galt also, Informationen zu finden, die so etwas wie ein Allgemeinwissen repräsentieren, ein Allgemeinwissen, das gleichzeitig auf dem heutigen wissenschaftlichen Stand ist.

Diese Anforderung schien mir am besten eine Veröffentlichung des Deutschen Historischen Museums in Berlin zu erfüllen. Ein relativ kurzer Text, online zugänglich und mit vielen Links versehen, beschreibt den Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Als Hintergrundfolie für die Dokumente ist er hier vollständig wiedergegeben.

Darüber hinaus habe ich in kurzen biografischen Skizzen sowie in Anmerkungen versucht, notwendige Verständnishilfen zu geben. Dabei konnten die heutigen BesitzerInnen der Dokumente mir häufig Fragen beantworten; ein großer Vorzug meiner Methode des Sammelns, die den Kontakt zu den Kindern oder Enkeln der Schreibenden beinhaltet. So geht mein Dank an Martina Bress-Thiem und Herbert Gleich, Michael Brömse, Bruno und Kadja Grönke, Hildegard Harms, Ruth Kilp, Erardo C. und Erika Rautenberg, Georg und Peter Schleuning, Hanna Schütt-Dunker, Wolfgang Stroh, Ursula Syring-Dargies für die Überlassung der Briefe und Tagebücher und die Beantwortung von Fragen. Bei Hildegard Harms bedanke ich mich für das Entziffern von Handschriften und bei Almuth Tibbe für die Mitarbeit an der Konzeption des Buches.

Wir leben weiter ins Ungewisse

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