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Briefe von Annemarie Techand (1917–1996), Kunsthandwerkerin. Der erste Brief geht an ihre Mutter, der zweite an Mutter und Schwester. Im Februar 1945 aus Danzig geflohen, sind Mutter und Schwester in Lüchow bei Verwandten untergekommen, während Annemarie und ihre Freundin Friedel in Hildesheim, Niedersachsen, landeten.

Annemarie Techand ist 1945 achtundzwanzig Jahre alt.

Hildesheim, d. 4.3.45

Liebe Mutti!

Heute will ich mal an Dich einen Brief schreiben. Bis jetzt schrieb ich ja immer nur Hanna. Ja, heut ist Hannuschs Geburtstag und wir sagten schon vorhin, wäre alles so gekommen, wie man es sich dachte und wir hätten nach Hause fahren können, hättest Du heut sicher das letzte Glas Erdbeeren zur Torte aufgemacht. So knabberten wir zwei übriggebliebene Pfefferkuchen von Weihnachten und mussten auch zufrieden sein. Ob ihr euch einen Kuchen habt backen können? Ja, mit der Ernährung, das wird jetzt schwierig. Es gibt jetzt kein markenfreies Stammgericht mehr, Gas haben wir noch keins zum Kochen (haben es aber schon beantragt) und Kartoffeln haben wir auch keine, da hat Friedel die Marken dummerweise im Rosenstock abgegeben, wir wollen sie uns aber wiedergeben lassen. Sicher können wir noch von Frau Fezaruk welche erben, sie hat uns ja immer welche gegeben. Friedel hat immer dollen Hunger, mit mir geht’s. Und meine schönen Zusatzmarken fallen auch weg. Nur noch ein paar Liter Milch haben wir. – In unserer neuen Wohnung ist es sehr nett. Heute haben wir zwar sehr gefroren. Die Gasheizung ging erst nachmittags anzustellen, war vormittags ganz schwach nach den gestrigen Bombenabwürfen. Gut, dass uns Friedel vorgestern Nachmittag auf der Polizei anmeldete, gestern stand sie schon nicht mehr. Am 24., als wir entlassen wurden, schmissen sie paar dicke Bomben auf Hildesheim. Es gab dreihundert Tote und einige der schönsten alten Straßen sind hin. Ja, die Hildesheimer waren leichtsinnig. Jetzt sind die Stollen überfüllt, schon, wenn gar nichts los ist. Gestern Abend war es beängstigend, so wahnsinnig überfüllt, dass wir jetzt nicht reingehen wollen, sondern im Splittergraben4 vorm Haus bleiben, oder in den Wald gehen. Heute war nun den ganzen Tag kein Alarm, das ist wie ein Geschenk. Unsere Wäsche haben wir gar nicht trocken bekommen, d. h. die Bettwäsche schon, die haben wir heute aufgezogen, Friedel hat heut Vormittag geplättet, ich blieb im Bett und nähte. Bis jetzt schliefen wir zusammen in »roten«5! Man kommt sich so verwahrlost vor. Eine Zeitlang war kein Wasser, oft kein Licht! Meine Haare sind seit Danzig nicht gewaschen. Die Klamotten vom Umziehen verknüllt und nicht in Ordnung. Der ewige Schieß-Alarm. Jetzt ist auch noch mal solch ein scheußliches, kaltes Mistwetter! Friedel schimpft so wegen der Wäsche. Der Trockenplatz ist zwischen niedrigen Obstbäumen, dass die großen Stücke immer an die Zweige anschlagen und ganz dreckig werden. Wir haben uns so geärgert. Tante Dora hätte wohl nicht einmal Bettwäsche für mich zum Wechseln? Ihr lasst gar nichts von Euch hören. Schreib mir doch gleich, ob Du lieber dicke oder dünne Schlüpfer oder Strümpfe auf Deine Karte haben möchtest! Hat Vater mal geschrieben? Ich will mal jetzt an ihn schreiben. – Machst Du jetzt dort den Haushalt, Muttchen? Sicher doch. Aber Du hast ja Hanna zur Hilfe. Am liebsten möchte ich manchmal meine Sachen packen und auch zu Euch kommen. Aber ihr habt sicher schon knapp Platz und was sollte ich dort arbeiten? Ich bin so froh, dass ich mit Friedel zusammen sein kann und ihr seid wenigstens auch zusammen! Nun schreibt mir bloß bald mal. Hoffentlich sind die zwei Päckchen und Hannas Geburtstagsbrief schon da?

Nun allerherzlichste Grüße, mein liebes Muttichen, auch an Hanna und Familie und Onkel Ernst und Tante Dora von Deiner

Annemie.

Oedelum, d. 24.3.45

Meine liebe Mutti, liebe Hannusch!

Ich hab kein anderes Briefpapier hier, also nehmt mit diesem vorlieb! 6 – Ja, da kann man mal wieder Geburtstag feiern.7 Ihr habt doch bestimmt vom Groß-Angriff auf Hildesheim8 gehört und gelesen – und macht Euch nun Sorgen um mich. Ja, die wunderschöne Stadt haben die Schweine gestern völlig ausradiert. Es ist alles so traurig und schrecklich. Und was hatten wir für ein Glück!! Die Karte, auf der ich Euch schrieb, dass Krolls 9 am Sonnabend in Hildesheim ankamen, habt Ihr doch bekommen? Es war schlimm, mit den Kindern auf den Galgenberg und in den Stollen laufen bei dem vielen Alarm. Darum versuchten wir so schnell es ging mit ihnen rauszukommen. Gestern früh um ½ 6 (gleich nach dem Alarm) fuhren wir los. Die NSV10 hatte sie nach Oedelum verwiesen. Bis Garbolzum (12 km) fuhren wir mit der Bahn und mussten dann 5 km laufen. Wir hatten furchtbar viel zu schleppen. Es war solch ein wunderschönes Wetter wie selten. Krolls bekamen dann hier drei schöne Zimmer in einem großen Bauernhof. Die Bäuerin ist sehr nett. Eine richtige alte, weißhaarige Niedersachsen-Bäuerin, wie man sie sich vorstellt. Und ein Essen gibt es, fabelhaft!! Heute einen Pudding mit so viel Eiern und Schnee! Eben sind wir von einer Ausfahrt zurückgekommen. Frau Brandes musste zum Zahnarzt nach Hoheneggelsen und nahm Friedel und mich mit. Es war herrlich so durch die Felder zu fahren. – Ja, und als wir gestern Nachmittag wieder nach Hildesheim fahren wollten, erlebten wir um 14 Uhr den Angriff auf Hildesheim. Wir saßen ganz verstört auf der Landstraße unter einem Baum und sahen, wie sie das Rauchzeichen zum Angriff auf Hildesheim setzten. Die Flugzeuge machten einen weiten Bogen und flogen auf Hildesheim zu. Und dann gings los! Ganz schrecklich! Man konnte bis hierher sehen, wie es rauchte, und nachts den roten Himmel. Der Zug aus Garbolzum ging pünktlich los und wir mussten noch doll rennen. Wir wollten doch sehen, ob unser Haus noch steht, und, falls was zu retten ist, holen. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie das aussah, als das so brannte, der Zug fuhr bloß bis an den Stadtrand und wir rannten außen rum, in die Stadt kam keiner rein, alles ein Flammenmeer. Ganz verdreckt vom Rauch, Ruß und Löschwasser langten wir an unserm Haus an. Es stand noch! Bis auf Fensterrahmen usw. Wir borgten uns von unserm Nachbarn einen schönen Handwagen und packten schnell Krolls restliche Sachen in ihren Seesack und unsere Sachen in Rucksäcke und Taschen, so viel wie rauf ging, und hauten ab. Bloß raus aus dem Hexenkessel. Gut, dass wir noch umzogen, die Vio[unleserlich]str. ist hin. Wer weiß, wen wir noch von all unsern Bekannten wiedersehen? – Wir sind dann gestern um 18.30 aus Hildesheim raus und waren um 22 Uhr in Oedelum (22 km). 35 km Tagesleistung spüren wir erst heute. Morgen müssen wir nun noch mal rein und Zeug holen. Hoffentlich geht’s mit der Bahn. Friedel und Herr Kroll sind eben zur NSV, ob wir beide auch hier bleiben können, in Hildesheim ist doch keine Arbeit mehr. Wenns bloß klappt!

Sonntag: Gestern bin ich gar nicht mehr zum Schreiben gekommen. Friedel, Herr Kroll und ich fuhren mit einem Lastauto, das aus Hildesheim hier war, nach Hildesheim und nahmen den Handwagen mit. Dann luden wir dort den Handwagen proppenvoll und marschierten wieder nach Oedelum. Diesmal mussten wir uns mehr anstrengen. Die Last war zu schwer. Herr Kroll hatte mit dem Marschieren allein zu tun und konnte nicht mal schieben oder ziehen! – Wir bekamen in einer Groß-Sammelstelle einen Umquartierungsschein hierher, Flüchtlingsschein auch. Frau Brandes will uns ab Mittwoch hier auch ein Zimmer geben. Dieses ist aber nach Ansicht der anderen drei zu schön für uns. Lieber möchten wir ja auf einen anderen Hof, trotzdem es einfach herrlich ist, aber immer mit allen zusammen … Na, wir werden sehen. Schlimm ist es nur, wenn man keine richtige Arbeit hat. Friedel hatte so schön in Hildesheim angefangen. – Fr. Fezaruk hat alles verloren. Unsere Schule ist platt mitsamt unseren schönsten Arbeiten, die man uns wegnahm. Habt ihr das Paket für Karli11 bekommen? Vielleicht kann ich bald wieder mal was schicken. Jetzt brauche ich ja keine Marken mehr! Uns geht’s im Essen ja sooo gut! Noch kocht die Bäuerin für uns. Später soll das Christel12 machen. Nun seid allerherzlichst gegrüßt und geküsst von

Eurer Annemie.

Nach ihrer Ausbildung zur Werklehrerin in Hildesheim arbeitete Annemarie Techand als Grafikerin für Zeitschriften, später freischaffend als Keramikerin und Malerin. Sie zog nach Kiel, eine Stadt an der Ostsee wie ihre Heimatstadt Danzig.

Wir leben weiter ins Ungewisse

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