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Vorwort
ОглавлениеWir! Wir machen das mit dem Balken! Mama, guck mal! Unglaublich. Wenn man hier am Rädchen dreht, geht der weiße Balken im Fernseher hoch und runter. Einfach so. Wir machen unser eigenes Programm! Nicht Kulenkampff, Lembke, Carrell – wir! Und dieser flache graue Kasten da auf dem Teppich, der mit UNIVERSUM drauf. Der muss echt aus einem anderen Universum kommen. Von der Mondbasis Alpha 1 oder so.
Heiligabend in der alten BRD, kurz vor der geistig-moralischen Wende. Ein Reihenhaus in der Satellitenstadt, ein Kokon aus orangeroten Polstermöbeln. Alles ist warm, beige, sozial-liberal kuschelig, als ob man den Mutterleib nie verlassen hätte. Noch zwei Jahre, dann würden die Achtziger kommen und alles plattmachen. Die Korkdecken würden rausfliegen, die schwarzweißen Kacheln kämen rein, die Neonsonne würde aufgehen. Doch noch regieren die schwülen Siebziger.
Telespiele. Klar hatten wir davon gehört. So ein neumodischer Kram aus Amerika, wie diese Rollbretter. Doch plötzlich steht so ein Zukunftsding bei uns, in der Vorstadt. Papa streicht sich grinsend durch den Schnäuzer. Unsere Augäpfel sind an die Mattscheibe genagelt. Ein kleines Viereck flitzt an unseren weißen Balken vorbei, verschwindet aus dem Bild. Bieeep! Das gibt‘s ja nicht! Die Kiste macht sogar Töne. Unsere verschwitzten Hände umklammern die weißen Plastikstangen mit den Rädchen. Noch mal vorsichtig drehen … Da! Der weiße Balken bewegt sich! Und das Viereck prallt davon ab. Es ist wie Tennis.
Es ist ein Spiel.
Wir robben uns zur Nordmende-Röhre vor. Plötzlich ist die Ehrfurcht weg. Wir hämmern auf allen Knöpfen rum. Okay, wenn man die Taste mit dem Pfeil drückt, rast das Viereck doppelt so schnell. Nein, mach das wieder weg, brüllt die Schwester. Besser schnell gehorchen, bloß nicht auffallen, sonst merkt Mama, was hier gerade passiert, und kommt auf die Idee, es könnte »gewalttätig« sein. So wie »Bonanza«. Das wäre das Ende vom Spaß.
Wir rasen durch unser neues Universum. Und lernen. Alle Lektionen, die in den kommenden Jahren und Jahrzehnten überlebenswichtig sein werden. Zum Beispiel, dass zwei Controller nie total gleich sind. Bei meiner Schwester wackelt der weiße Balken immer so rum. Sie flennt deshalb fast los, weil sie nur jeden zweiten Ball trifft. Also tauschen, Reset, und wieder von vorne. Papa legt die Platte mit diesem schrecklichen Kinderchor auf. Bestimmt sind es Rotbäckchen-Wangen-Streber, die niemals ein Telespiel angefasst haben. Doch von der Musik kriegen wir nichts mit, eigentlich nichts von unserer Umwelt. Wir stecken im Tunnel, bis uns Mama ins Bett steckt. Papa drückt mir einen nach Pfeifentabak riechenden Kuss auf die Stirn. Jetzt schlaf mal schön, Kleiner. Alles klar. Was er wirklich meint ist: Jetzt bin ich dran. Wir liegen noch lange mit offenen Augen in unseren Etagenbetten und hören aus dem fernen Wohnzimmer im Sekundentakt das »Bieeep« des Telespiels. Wie das Signal eines Sputniks, der sich aus einem fernen Universum meldet.
Die Basis für eine vor dem Bildschirm verschwendete Jugend ist gelegt.
Das erste Mal digital. Bei uns war es das UNIVERSUM, bei anderen vielleicht der Commodore 64, ein Gameboy oder – dank Gnade der späten Geburt – ein NES. Doch egal, ob Donkey Kong auf dem endcoolen Nintendo Game & Watch mit Doppelbildschirm oder Doom auf dem Steinzeit PC mit Turbo-Taste: Das erste Game war wie ein Erdbeben. Es war – frei nach Obi-Wan Kenobi – »der erste Schritt in eine neue Welt«.
Doch die war böse, zumindest für alle Erwachsenen. Für Mama und die alten Säcke in der Bundesprüfstelle. Die wussten sofort: Videospiele machen die Kinder süchtig, gewalttätig, sozial inkompatibel. Und krank. Wer ständig den Joystick rührt, kriegt eine Sehnenscheidenentzündung (später hieß das Angst-Szenario »Nintendo-Daumen«). Nur US-Präsident Ronald Reagan sah die Sache positiv: Games seien doch das beste Ausbildung für die Kampfpiloten von morgen. Da lerne Amerikas Jugend, ihre Auge-Hand-Koordination zu verbessern. Irgendwie sollte der Cowboy im Weißen Haus sogar recht behalten. Heute diskutiert seine Luftwaffe, ob sie eine Medaille für besonders mutige Dronen-Piloten einführen soll. Interne Bezeichnung: Nintendo Medal.
Bis Games nicht mehr böse waren, sollten viele Prozessorgenerationen vergehen. Erst Ende der Neunziger passiert etwas: Die Generation Commodore 64 hat ihren Gang durch die Institutionen absolviert, das Internet ist da. Und plötzlich dämmert es vielen: Hey, die Jugend vorm Bildschirm war doch nicht total verschwendet. In einer Welt, die von Nerds regiert wird, hilft es, wenn man den Rechner nicht als feindliches Elektronenhirn kennengelernt hat, sondern als Spaßmaschine, als Freund.
Seltsame Dinge passieren: Sich als Gamer zu outen, ist nicht mehr ein Karrierekiller, sondern fast ein Pluspunkt im Lebenslauf. Manager lesen Ratgeber, die ihnen erklären, wie sie mit diesen merkwürdigen Wesen umgehen sollen, die ihre Freizeit vor der Playsi verbringen. Gleichzeitig rollt die erste Welle digitaler Nostalgie an. Auf einmal stehen Konsolen im Museum. Games sind Geschichte, Games sind Kultur.
Und Inspiration.
Wie sehr, zeigt diese Anthologie. Frank Hebben und seine Truppe sozial deformierter Bildschirmsportler tritt den Beweis an, dass die Geschichte manchmal weitergeht, wenn der Endboss besiegt ist. Sie wagen den literarischen Respawn – mit einer Sammlung von Kurzgeschichten, die von Games inspiriert sind. Von alten Games, von pixeligen Sprites, ruckeligen Animationen, lächerlich kleinen Farbpaletten.
Retro ist das Leitmotiv. Doch hier wird nicht platte Digitalnostalgie serviert, nach dem Motto »Weißte noch? Pac-Man? Wacka Wacka …«. Es geht um Sex, Tod, Liebe, Abgründe, Zukunftsvisionen. So wie bei Andreas Winterer, der den Hobbykeller der Achtziger zur Tentakelhölle macht. World of Warcraft? Wohl eher World of Lovecraft … In »Start New Game?« entwirft Melanie Junge eine Zukunft, in der das Zocken alter Spieler der letzte verbliebene Thrill in einer hoffnungslosen Welt ist. Und Christian Lange greift in »War Games« den gleichnamigen Filmklassiker der Achtziger auf. Allerdings hat sein Held David den steinzeitlichen Imsai-Rechner gegen eine Gedankensteuerung ausgetauscht, er kämpft sich als Profi-Gamer durch perfekt simulierte Realitäten. Ähnlich wie der Protagonist in Peter Hohmanns »Cornstalk wird ewig leben« lebt er in einer Zukunft, in der das wahr geworden ist, was die Electronic Sports League seit Jahren propagiert: Zocken als medienwirksamer Massensport.
Auch Autor Hebben dosiert die Digitalnostalgie bewusst homöopathisch. Mit »Kaleidoskop« liefert er eine klassische Cyberpunk-Dystopie, in der Arcade-Automaten nur als Requisiten in der Ecke vorkommen. Träumen Roboter von breitschultrigen Pixelmutanten? Michael K. Iwoleit erforscht in »Das Netz der Geächteten” den Horror vacui eines jeden Gamers: eine Leben ohne Spiele. Schlimmer noch: eine Welt, in der Computerspielen als gefährliche Sucht geächtet ist, in der sich quasi Mutters Einschätzung durchgesetzt hat.
Klar, mit Mainstream hat das nichts zu tun. Die Autoren huldigen ohne Kompromisse dem »was wäre, wenn«. Was wäre, wenn das Computerspiel zur Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in der Form eines Text-Adventures erscheint, fragt Armin Rößler in »Katar 2022«? Wie sieht die Apokalypse in einem fiktionalen deutschen Wiedervereinigungs-Setting aus? In »Beschluss 4/7/90« von Uwe Post jedenfalls fahren die Zombies Wartburg. Und Sven Klöpping lässt es zünftig bladerunnern, wenn er in »50 % Shootout – jeder Zweite wird gelöscht!« die Abenteuer eines bayrischen Dreiviertel-Androiden erzählt.
Muss man die Achtziger oder Neunziger erlebt haben, um das gut zu finden? Sicher nicht. Aber es hilft. Weil es Spaß macht, den Autoren dabei zuzusehen, wie sie ihr Referenz-Feuerwerk abbrennen. Wenn zum Beispiel die Protagonistin mit Nachnamen Wozniak heißt, wie in »Butterfly« von Christian Günther, eine wunderbare Suche nach der verlorenen Internet-Zeit. Oder wenn die Helden in ein (reales) Uridium-Raumschiff steigen, wie in »Emukalypse« von Niklas Peinecke. Wer nur HD-Flatscreens kennt, wird kaum verstehen, wie bizarr die Idee ist, Floppy-Laufwerk und Datasette direkt mit einem menschlichen Hirn zu verbinden. Doch genau solche Details machen »Die Dritte Stadt« von Mike Kryzwik-Groß so lesenswert.
Den berühmten gemeinsamen, meistens viel zu kleinen, Nenner gibt es nicht. Alles verschwimmt, alles ist im Fluss, von der Genregrenze bis zur Erzählperspektive. »Friedensleere« von Jan-Tobias Kitzel zum Beispiel liest sich, als ob man sich durch eine Box mit alten Games zockt. Mal blickt man durch die Augen eines Wachmanns, mal durch die eines archaischen Kriegers oder Familienvaters. Das Einzige, was alle Autoren vereint, beschreibt ein Satz aus »MetaGamer« ganz gut, den Thorsten Küper seinem gebrochenen Helden in den Mund legt: »Sie ist eine von uns. Nerd.« Was hier – und eigentlich überall – als Kompliment zu verstehen ist.
Darf man am Ende eines Vorworts im Jahr 2016 wirklich noch schreiben SPIELER EINS BEREIT? Man darf, wenn das, was folgt, wirklich ein neues Spiel ist. Und das ist hier der Fall.
RUN
Constantin Gillies
Köln, Januar 2016
LEVEL 1