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Butterfly

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Christian Günther

Level 1

Ein Rudel Wölfe fegt durchs Unterholz, wirbelt eine Wolke aus grauem Laub auf. Ihm folgt ein Krieger mit Haar so schwarz wie Pech, zwei Schwerter auf dem Rücken, purpurne Bänder an Armen und Beinen. Die Augen blutrot und orange, leuchtend im Aschewald.

Butterfly Wozniak war ein ganz normales Mädchen. Mit zerbrochenen Träumen in einer dunklen Stadt. Ein Engel mit gestutzten Flügeln. Cinderella, die auch den zweiten Schuh verloren hat und nun barfuß durch ihr Leben geht. Zumindest sah sie sich selbst so.

Hätte sie an diesem Morgen gewusst, dass Danny tot war, wäre sie gar nicht zur Arbeit gegangen. So aber schlich sie durch Dunstschwaden, neben sich den Lärm des Verkehrs. Ihr Gesicht kränklich blass im surrenden Schein der Leuchtfassaden. Pfützen, aufgeplatzte Müllsäcke. Mechanisch blieb sie vor dem abgenutzten Automaten stehen, der ihr jeden Morgen ihren kochend heißen Crema in einen Plastikbecher spuckte. Dazu fiel ein in Folie verpackter Glückskeks aus dem Ausgabeschacht, den sie in die Tasche ihrer Jacke stopfte, ohne darüber nachzudenken. Ein dröhnender Müllwagen näherte sich, sprühte einen Nebel aus Reinigungsmitteln über den Gehweg, der sich sofort in weißen Schlieren auf den Boden legte und mit den öligen Pfützen mischte. Butterfly rief dem automatischen Wagen einen halbherzigen Fluch hinterher und wischte über ihr lilafarbenes Regencape. Zum Glück war sie vorbereitet. Und um sich aufzuregen, war sie sowieso zu müde.

Die trübe Sonne versteckte sich hinter den Wolken, als wollte sie nicht mehr auf diese hässliche Stadt scheinen, die sich täglich dreckiger und kaputter aus der Dunkelheit schälte. Butterflys Nacht war kurz gewesen, der frühe Morgen war kalt. Frühschicht. Wahrscheinlich die Spätschicht als Bonusrunde dazu, schließlich hatte Danny alle anderen Bedienungen schon gefeuert. Ein blauhaariger Typ saß auf einem Plastikstuhl mitten auf dem Bürgersteig, das Gesicht rot im Widerschein des Screens, den seine bunt tätowierte Hand umklammerte. Die Augen zuckten unruhig umher, während sein linker Daumen hektisch den Touchscreen bearbeitete.

Butterfly ging an ihm vorbei, kickte eine Pappschachtel beiseite, sah auf die Uhr. Spät dran. Sie eilte zum Diner. Nicht, weil sie die Laune ihres Chefs fürchtete oder weil sie Angst hatte, ihren Job zu verlieren. Nein, das hatte sich geändert. In den letzten Wochen hatte sie den Laden schleichend übernommen, während ihr Boss nur noch körperlich anwesend war, seinen fetten Körper kaum mehr hinter dem Tisch in der Ecke hervorhievte. Seit einer Woche fand sie ihn jeden Morgen dort vor, ohne dass er das Diner in der Nacht verlassen hätte. Eingeklemmt hinter dem Kunststofftisch, umrahmt von zerknüllten Verpackungen und verkrusteten Tellern. Wenn er die Einnahmen sah, die die Tageskasse hergab, zuckte er mit den Schultern, grunzte, holte sich einen Kaffee und verzog sich an seinen Tisch mit dem eingebauten Schirm, um wieder online zu gehen. Dass immer weniger Geld hereinkam, bemerkte er gar nicht, es schien ihn auch überhaupt nicht zu kümmern. Dafür wuchs das Bündel an Scheinen, das Butterfly zu Hause, hinter der Plast-Wand ihrer winzigen Küche, versteckte. Jeden Tag ein bisschen. Sie musste aufpassen, durfte nicht übertreiben. Wenn der Boss etwas mitkriegte, war es vorbei. Oder wenn ihr Freund Zed das Versteck fand. Auch wusste sie nicht, wie lange sich ihr Boss noch so seltsam verhielt – jeden Tag konnte er aus seinem Zustand aufwachen. Jeden Morgen, wenn sie das Diner betrat, fürchtete Butterfly, er wäre wieder der Alte, mürrisch, jähzornig und nur darauf konzentriert, ihr an den Arsch zu fassen. Doch ständig war er online, vertieft in seine neue Leidenschaft. Das ging nicht nur ihm so, immer mehr Verlierer hingen vor Bildschirmen und waren auf der Jagd nach Schätzen. Der neuste Scheiß. Satellitenverbindung, mobiles Terminal, et voilà, willkommen in den Ruinen des alten Internets. Seit Jahren lebte die Welt ohne, nachdem die Menschen es mit all der Macht, mit der sie es aufgebaut hatten, wieder zerstörten. Kein großer Knall, sondern ein leiser, digitaler Tod. Daneben hatten Kriege getobt, wahrscheinlich brauchten die Leute ein Ventil, mussten Blut und Zerstörung sehen können, statt nur gelöschten Daten nachzuweinen.

Jetzt hoffte jeder auf den großen Wurf, auf sensationelle Funde, die er dann zu Geld machen konnte. Die meisten brachten nur Müll zutage, Fragmente alter Pornos, Chat-Protokolle oder völlig uninteressante Log-Dateien, die schon zum Zeitpunkt ihrer Entstehung niemanden interessiert hatten. Die wertvollen Funde wie noch funktionierende Kreditkartendaten oder vergessene Kontoinformationen waren wohl äußerst selten, wenn es sie überhaupt gab. Butterfly wollte ihre Zukunft nicht auf einer so vagen Hoffnung aufbauen. Sie musste zäh sein, um sich aus ihrer üblen Lage zu befreien und wieder fliegen zu können. Aber die Legenden, die sich um solche Funde rankten, um die Millionen, die manch einer mit ihnen gemacht hatte, die waren es, die die Leute an die Schirme fesselten. Auch Zed war auf den Zug aufgesprungen. Hatte sich einen alten Rechner besorgt und hing jetzt den ganzen Tag in der Bude. Faselte davon, dass er wie ein Schatztaucher durch Fragmente einer verlorenen Zeit glitt und ihre Geheimnisse ans Tageslicht holte. Dass er sie reich machen würde, ganz einfach. Aber das lag wohl eher an dem Sniff, den er sich reinzog. Immerhin schlug er sie nicht, solange er damit beschäftigt war.

Als sie heute die Tür zum Diner aufschloss, war irgendwas anders. Sie trat ein, die Glocke an der Tür klingelte leise. So weit alles normal, die schlecht gewischten Tische mit Fetträndern, die Bänke mit zerschlissenen und bekritzelten roten Polstern. Der Tresen, dahinter die Küche. Ihre Schuhe klackerten laut über den Fliesenboden, als Butterfly den Raum durchquerte. Dann fiel ihr auf, was anders war: der Geruch. Unangenehm. Faulig. War die Kühlung ausgefallen? Sie schaltete das Licht ein. Strom war da.

Flackernd erwachten auch die Terminals an den Tischen zum Leben, ihre Schirme bekritzelt und verkratzt, darunter die übergroßen und knallbunten Icons, die zum Surfen im Newnet einluden. Eine saubere, staatlich kontrollierte und grenzenlos uninteressante Cyberwelt. Ignoriert und vergessen.

Dann sah sie Danny. Nach vorn auf den Tisch gesunken, auf dem Screen liegend, als wolle er seine Wange an ihn pressen, eine Liebkosung erzwingen. Doch das Auge, das zur Seite starrte, war tot. Kleine Fliegen schwirrten um ihn herum. Als Butterflys Gehirn den Geruch und seine Ursache begriff und in Zusammenhang brachte, kotzte sie ihren Takeaway-Kaffee auf die Fliesen.

Kurz darauf saß sie in der Küche, während vorne zwei Sanitäter und ein Polizist die Leiche bargen. Ob der Kerl wirklich ein Bulle war? Für Butterfly sah er eher aus wie ein Organhändler, Facetattoo, bulgarischer Imitat-Goldschmuck. Aber egal, Hauptsache, sie schafften Dannys Kadaver fort.

Sie war verunsichert, ihre Hand zitterte leicht, als sie ihren Kaffeebecher zur Hand nahm. Tee, sie sollte doch Tee trinken, wegen ihrem Magen. Und dem Kind. Sie spürte keine Trauer, kein Mitgefühl. Für sie war er immer nur der Fettsack gewesen, der sie bezahlte und ihr dafür ab und zu mal an den Arsch packen durfte. Egal. Wie sollte es jetzt weitergehen? Sie war sicher, dass das Diner nicht Danny gehört hatte, es musste also irgendwo einen Besitzer geben, der nun womöglich hier aufräumen wollte. Butterfly beschloss, erst einmal so weiterzumachen wie bisher. Jetzt konnte sie sich noch gründlicher an den Einnahmen bedienen. Umso schneller kam sie hier raus. Sie schnappte sich einen Lappen. Frühschicht.

»Wo ist Danny?« José kam kurz vor Mittag in den Laden.

»Tot.«

»Mhmm.« Er hörte gar nicht zu, schaute auf das Display seines Smartphones, während er sich die Jacke auszog. Akrobatisch, um nicht den Sichtkontakt zum Bildschirm zu verlieren.

Butterfly seufzte. »Hast dir jetzt auch diesen Scheiß besorgt?«

José löste seinen Blick von dem Gerät in seiner Hand und schaute sie unter seinem blondierten Schopf kritisch an. »Was?«

»Bist du jetzt auch so ein Spinner geworden?«, antwortete sie und deutete auf sein Phone.

»Ach so. Ja, haben jetzt alle. Ist aber scheiße, werd’s wieder löschen. Davon kackt mein altes Teil immer ab. Obwohl ich mir geile Zugänge besorgt hab.«

Butterfly nickte. »Will ich hier auch nich sehen. Du sollst kochen, sonst nix.«

José runzelte die Stirn. »Machst du jetzt auf Boss, oder was? Was is’n mit Danny?«

»Tot. War kein Witz.«

José schluckte. »Echt? Puh. Das ist schräg.«

»Schräg?«

»Ja, erst gestern sind zwei Leute in meinem Block draufgegangen.«

»Und?«

»Beim Surfen. Echt unheimlich. Die Kontaktnetze hingen ihnen noch am Schädel. Hirn gegrillt.«

»Und du hast das gesehen, oder hat dir das einer von deinen schlauen Freunden erzählt?«

Er beugte sich näher zu Butterfly. »Die hatten sich richtig krasse TLDs besorgt. .hk und .tw. Da gibt’s eine Menge zu holen. Nicht nur so zerfledderte Fragmente wie auf .de und so.«

»Du spinnst.«

»Ey, was weißt du denn schon? Kennst du dich aus? Wohl nicht, oder?«

Butterfly hielt ihm den ausgestreckten Mittelfinger ins Gesicht.

»Schon gut. Ey, sag mal – was is’n jetzt? Ich mein, wenn Danny tot ist? Wie geht das hier weiter?«

»Ich übernehm den Laden.«

»Ach du Scheiße.«

Level 2

Der Krieger trifft auf ein Tor, davor eine steinerne Brücke, grün von Moos. Das Tor wirkt winzig in der endlos hohen Mauer, deren grauer Fels irgendwo in den Wolken den Himmel durchbricht.

Das Fell der Wölfe dampft, sie keuchen und legen sich ins Laub, während der Krieger nur kurz verharrt, die Brücke und den Eingang in Augenschein nimmt und dann mit weiten Schritten im Dämmerlicht dahinter verschwindet. Als er den Torbogen durchschreitet, blitzen die Klingen der Schwerter auf, die er aus ihren Scheiden zieht.

Am Abend kamen die ersten Gläubiger. Eher so Mafiatypen, Schutzgeld kassieren. Sie waren zu zweit, ein bulliger Riese, sah aus wie ein russischer Boxer. Der andere war klein, trug einen Anzug, nach hinten gegeltes Haar. Einen fiesen Ausdruck in den Augen. José hatte sich nicht blicken lassen, seit sie mit Putzen angefangen hatte. Die Küche sah aus wie Sau, er war weg. Wahrscheinlich für immer.

»Wo ist Danny?«, fragte der Kleinere, während der andere sich hinter ihm in Position brachte. Wohl die Frage des Tages. Butterfly zuckte mit den Schultern.

»Hey Kleine, wo dein Boss ist, will ich wissen.«

Wo kamen diese Typen her? Was hatten sie mit Danny zu schaffen? Damit es mit dem Laden weiter gehen konnte, musste Butterfly sie loswerden. Irgendwie. Stoisch wischte sie weiter. Immer die gleiche Stelle. Ihre Hände zitterten schon wieder, sie umklammerte den Stiel des Wischmops, als hinge sie daran über einem Abgrund. Was wollten die? Schutzgeld? Butterfly wusste nicht, ob Danny welches zahlen musste. Aber sie wusste vieles nicht. Eigentlich hatte sie gar keine Ahnung, wie sie den Laden führen sollte, sie konnte nur Geld aus der Kasse greifen. Zum Lernen blieb ihr nur leider keine Zeit. Ein schmerzhafter Klumpen bildete sich in ihrem Magen, als der Kerl von hinten an sie herantrat. Eine Wolke von Zigarettenqualm und zu viel Moschus umgab ihn. Grob griff er in ihr Haar, riss es nach hinten. Ihre Augen wurden vom grellen Deckenlicht geblendet. Sie kreischte auf, versuchte, von ihm wegzukommen, doch er hielt ihren Kopf fest. Noch mehr Schmerzen. »Hör auf!«, rief sie. »Was wollt ihr? Danny ist nicht da.« Das war jetzt ihr Laden. Diese Arschlöcher würden ihn ihr nicht sofort wieder wegnehmen.

»Und wieso waren heute die Bullen hier? Verkauf mich nicht für blöd. Ihr Schlampen wisst doch immer am besten Bescheid, habt eure neugierigen Ohren überall.«

Butterfly überlegte, ob sie den Kerl schon mal gesehen hatte, konnte sich aber nicht erinnern.

»Na los, jetzt red schon.« Grob fasste er an ihre linke Brust, sein Mund war nun ganz dicht an ihrem Ohr. »Oder muss ich dafür netter zu dir sein?« Seine Zungenspitze berührte ihr Ohrläppchen. Butterfly zuckte zusammen. Bilder zuckten durch ihren Verstand, löschten alle Überlegungen aus. Übelkeit breitete sich in ihr aus. Mit voller Kraft stieß sie den Wischmop nach hinten. Nie wieder würde jemand sie so anfassen Der Kerl gab ein überraschtes Stöhnen von sich, als ihn der Stiel voll erwischte. Er lockerte den Griff in ihren Haaren, zog die Hand dann ganz weg und klappte zusammen. Er riss ein paar Haarsträhnen mit sich, Tränen schossen Butterfly in die Augen. Sie ließ den Mop fallen, stürmte am Tresen vorbei in die Küche. Hämmerte die Tür zu und legte den metallenen Riegel um. Durch das Fenster in der Tür konnte sie das dümmliche Gesicht des Muskelbergs sehen, das rot anlief. Er donnerte gegen die Tür, konnte aber nichts ausrichten. Butterfly rannte durch die Küche, riss Pfannen und Töpfe zu Boden. Griff instinktiv ihre Jacke mit Schlüsseln und Taser drin, zur Hintertür hinaus, nur weg.

Im Hof, nach rechts. An Müllcontainern vorbei, in die Nebenstraße. Sie rutschte aus, ruinierte ihre Strumpfhose am linken Knie. Dann hörte sie schon Schritte hinter sich. Wie schnell war denn dieser Kerl? Der Muskelberg raste um die Ecke, ihr schien es, als materialisiere er aus dem Nichts. Dem würde sie nicht entkommen. Entmutigt rannte sie noch einige Schritte, dann packte er sie und riss sie von den Füßen. Trug sie zurück nach drinnen.

Der Kerl im Anzug lehnte an einem der Tische. »Da ist sie ja wieder.« Ein schiefes, kaltes Grinsen. »Nun, wenn Danny nicht da ist, nehmen wir sie eben als Pfand mit. Ganz einfach.« Er trat auf sie zu, während der andere ihr die Hände hinter dem Rücken zusammendrückte. »Vielleicht kannst du dich ja in der Zwischenzeit nützlich machen.« Er presste sich an sie, rieb mit seiner Hand über ihren Schritt. Butterfly wurde wieder übel. Der Schmerz von damals, die Erinnerungen, die sie in ein dunkles Loch tief in ihrem Inneren vergraben hatte, brachen wieder hervor. Ihr Körper wurde hart wie Stein, sie konnte sich nicht rühren. Bitte nicht. Bitte nicht.

Sie musste die Tränen zurückhalten, presste die Lippen aufeinander. Der Riese zog sie zum Vordereingang. In diesem Moment flog die Tür auf, José kam hereingestürmt. »Hey Butterfly, immer noch hier? Hab noch was …« Weiter kam er nicht. Er verstummte, als er vom Display seines Telefons aufblickte und in das Gesicht des Riesen starrte. »Scheiße«, rief er noch, dann drehte er sich um und sprang zur Tür zurück. Der Muskelmann war irritiert, Butterfly spürte, wie sich sein Griff lockerte. Er wusste offenbar nicht, ob er sie weiter festhalten oder den unerwarteten Zeugen verfolgen sollte. Ein Schauer überlief sie, löste ihre Erstarrung. Sie trat nach hinten, traf mit dem Absatz sein Schienbein. Trat nochmal und nochmal zu, bis seine Hände sich ganz gelöst hatten. Dann stürzte sie vorwärts, folgte José in die Nacht. Dann bestand alles nur noch aus vorbeirasenden Lichtern, dem Brennen in ihrer Lunge und dem Knoten der Angst in ihrem Bauch.

Keuchend hockte Butterfly sich an eine Hauswand, als sie sicher war, dass die Typen ihr nicht weiter gefolgt waren. Sie hustete. Über ihr hing eine zerlumpte China-Laterne, der Geruch von gebratenem Hühnchen fettig in der Luft. Wie Pixel umschwirrten Mücken den Lampenschirm.

Butterfly weinte, ihre Tränen zeichneten schwarze Spuren aus Kajal auf die Wangen. Sie fror, steckte die Hände in die Taschen. Stieß auf etwas Knisterndes, zog den verpackten Glückskeks hervor, den sie am Morgen aus dem Kaffeeautomaten bekommen hatte. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, schwarze Spuren blieben an der Regenjacke kleben.

Ihr Magen knurrte. Sie hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen. Ungeduldig riss sie die Verpackung auf und zerbrach den Keks. Sie stopfte die nach nichts schmeckenden Hälften in den Mund. Zurück blieb der kleine Zettel aus dem Inneren des Kekses. Na, du kleiner Bastard, was willst du mir über meine Zukunft sagen? Sie rollte ihn auseinander und las.

Nun ist es an DIR, lieber Leser, zu entscheiden – welche Nachricht findet Butterfly in ihrem Glückskeks?

»Folge dem Weg der Ratte« – dann lies beim gleichnamigen Abschnitt weiter.

»Betritt den Pfad des Schafs« – gehe zum Abschnitt mit diesem Titel.

Der Weg der Ratte

Level 3

Ein Labyrinth aus Dächern und Balken. Treppen aus Holz und Stein führen auf zugige Türme und in feuchte Keller. Knöcheltiefer Schlamm wechselt sich ab mit edlen Teppichen, die jeden Schritt verschlucken.

Überall in den Schatten und Winkeln scheinen Augen zu starren, dem Krieger mit Blicken zu folgen. Seine Miene bleibt unbewegt, seine Klingen teilen Vorhänge oder brechen Holzstützen, um ihm einen Weg zu bahnen. Tiefer hinein ins Dunkel, zum Herzen der Stadt.

Das einzige Licht in der winzigen Wohnung ging von dem Bildschirm aus, auf dem flackernde Videofragmente tanzten. Zed schlief im Sessel davor, leere Sniff-Packungen und Getränkedosen lagen herum. Butterfly nahm sich einen Augenblick, sah ihn an. Ein Bluterguss an ihrer Schulter pulsierte schmerzhaft, als wolle er sie daran erinnern, was Zed ihr angetan hatte. Ihr antat, immer wieder. Warum sie nicht längst gegangen war, konnte sie sich selbst nicht erklären. Doch ihre lähmende Angst war fort, sie hatte sie auf der Flucht vor den Geldeintreibern verloren.

Schnell packte sie ein paar Sachen in ihren Rucksack, riss die türkisfarbene Abdeckplatte von der Küchenwand und holte das Geld aus dem Versteck. Eilig stopfte sie es in eine Seitentasche, als sich eine Hand um ihre Schulter schloss. »Was soll das denn werden?« Zed starrte sie an, blickte zu der Öffnung in der Küchenwand, dann wieder zu ihr.

Sie wich ihm aus, packte weiter.

»Ich rede mit dir!« Er wurde laut. Gleich würde es losgehen. Butterfly nahm einen Pullover von der Sessellehne, packte ihn ein, zog den Reißverschluss zu und wandte sich zum Gehen. Zed holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Weiße Sterne tanzten vor ihren Augen. Sie biss sich auf die Lippe, bis sie Blut schmeckte. Dann griff sie in die Jackentasche, holte den Taser hervor, drückte ihn dem wutschnaubenden Zed vor den Bauch und drückte ab. Er gurgelte, taumelte unkontrolliert zurück und sackte stöhnend in sich zusammen.

Ohne einen Blick zurück verließ Butterfly die Wohnung. Sie bemerkte nicht, wie sich mehrere Männer von der anderen Treppe aus näherten. Männer, die Zed suchten.

Level 4

Ein Teich unter steinernem Himmel, Moos leuchtet, das Wasser tanzt. Seerosen blühen in zahllosen Farben. Acht Brücken, die hinüberführen, auf die Insel im Inneren. Darauf, leuchtend, wirbelnd und zu schön, um direkt hineinzusehen – das Herz der Stadt. Sein Pulsieren so grausam, ehrfurchtgebietend, alles unterwerfend, aber auch warm, empfangend, wie der Schoß einer Mutter.

Zum ersten Mal zögert der Krieger, bevor sein Schritt wieder an Entschluss gewinnt und ihn hinüberträgt, über eine der Brücken und hinein ins rot lodernde Herz.

Ständig musste sie fliehen, nirgends konnte sie länger als ein paar Tage Unterschlupf finden. Sicher, sie hätte das Terminal abschalten können oder es ganz loswerden. Teure Tarnsoftware besorgen, um ungesehen im Internet unterwegs zu sein. Aber zu nichts davon war sie in der Lage. Das billige Gerät, für das sie auf dem Schwarzmarkt den Großteil ihres Geldes ausgegeben hatte, war träge und auffällig. Trotzdem brauchte sie es – es war das, was ihr einen Weg hier raus ebnen konnte. Sie tat es für die kleine Future, die in ihrem Bauch heranwuchs. Butterfly hatte das System verstanden. Das System, mit dem die meisten der Sucher ins Internet gingen, wurde überwacht. Und wenn tatsächlich jemand etwas Bemerkenswertes fand, kamen sie und holten es sich. Meist überlebten die Sucher dieses Treffen nicht. Deshalb musste sie flink sein, kleine Funde sofort zu Geld machen, ständig unterwegs sein. Flucht in ihr neues Leben. Im Moment bestand es nur aus Bahnstationen, Plastikschalensitzen und Essen aus Automaten. Genaugenommen war sie obdachlos, aber sie hatte ein Ziel. Einen Ort zu finden, an dem sie ihre Tochter zur Welt bringen konnte. An dem die kleine Future aufwachsen und gedeihen konnte. An dem sie es besser hätte als ihre Mutter. Eine Hoffnung, so alt wie die Menschheit. Ein paar Monate hatte sie noch Zeit. Diese Zeit galt es zu nutzen. Schnell loggte sie sich wieder ein.

E N D E

Der Pfad des Schafs

Level 3

Ein Labyrinth aus Dächern und Balken. Treppen aus Holz und Stein führen auf zugige Türme und in feuchte Keller. Knöcheltiefer Schlamm wechselt sich ab mit edlen Teppichen, die jeden Schritt verschlucken.

Der Krieger stolpert zum ersten Mal, verfängt sich in dornigem Gestrüpp. Bedrohliches Knurren aus den Schatten, dann hat er sich befreit, wirbelt die Klingen, verjagt die Dämonen und schreitet voran. Tiefer hinein ins Dunkel, zum Herzen der Stadt.

Das einzige Licht in der winzigen Wohnung ging von dem Bildschirm aus, auf dem flackernde Videofragmente tanzten. In der Fensterscheibe spiegelten sich die Umrisse von mehreren Männern. Butterfly wich zurück, als sie die Schläger im Wohnzimmer erblickte. Doch zu spät, einer hatte sie bemerkt, griff sie am Arm und zerrte sie hinein.

Auf dem Boden lag Zed, im fast dunklen Raum kaum zu erkennen, sein Gesicht erschien grau im Licht des Screens. Alles wirkte uralt, dunkle Flecken bedeckten Zeds Gesicht an den falschen Stellen. Jemand schaltete eine Lampe an, die Flecken färbten sich rot, alles gewann an Farbe. Zed zitterte, seine Augen flackerten unruhig. Butterfly konnte die Pisse riechen, die seine Hose durchnässte. Sie selbst spürte kaum Angst, sie war wie betäubt. Ihr Blick huschte zum Versteck in der Küche – niemand hatte es bislang entdeckt.

Zwei der Männer schrien auf Zed ein, nannten irgendwelche Geldbeträge, schlugen ihn. Kraftlos hob er die Arme, versuchte, die Angriffe abzuwehren. Immer wieder fiel sein Kopf von einer Seite zu anderen. Der Kerl, der Butterfly mit eisernem Griff festhielt, fing jetzt an, an ihr rumzufummeln, während er mit breitem Grinsen die Prügelei anstarrte. Der war sicher auf Sniff. Zed hoffentlich auch, das würde zumindest seine Schmerzen lindern.

Es ging immer weiter, sie ließen nicht von ihm ab. Mit der Faust ins Gesicht, dass Blut aus der Nase schoss, mit den Füßen in den Bauch. Bis Butterfly es nicht mehr aushielt.

»Hört auf!«, schrie sie. Tu es nicht, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Doch Butterfly riss sich von dem Kerl los, der sie betatschte, und ging in die Küche. Tränen strömten jetzt unkontrolliert über ihr Gesicht. Sie zerrte an der Wandverkleidung, brach sie ab. Zwei Finger bluteten, als sie das Geld aus dem Fach zog und es den Schlägern vor die Füße warf. »Nehmt das und dann verpisst euch!« Schrie sie. Halb vor Zorn, halb vor Fassungslosigkeit über das, was sie gerade getan hatte.

Einer der Männer bückte sich und hob das Geld auf, ließ es im Inneren seiner Jacke verschwinden. Dann nickte er dem anderen kurz zu, musterte Butterfly noch einmal mit einem abschätzigen Blick. Endlich setzten sie sich in Bewegung und verließen die Wohnung.

Butterfly hockte sich neben Zed und weinte, boxte ihn, sprang auf, suchte Verbandszeug, nahm sein Terminal und warf es aus dem Fenster, verband ihn, weinte wieder, bis sie schließlich entkräftet auf dem Teppich neben ihm einschlief.

Level 4

Ein Teich unter steinernem Himmel, Moos leuchtet, das Wasser liegt still da. Acht Brücken, die hinüberführen, auf die Insel im Inneren. Einige zerfallen. Auf der Insel ein Wald, schlanke Stämme, dicht an dicht, die Äste eng miteinander verschlungen. Blasses Licht dringt aus dem Inneren des Waldes, kühl und starr.

Der Krieger zögert, bevor er vorsichtig die Brücke vor sich überquert. Steinbrocken fallen heraus und versinken im Wasser. Der Wald zeichnet verwirrende Muster mit seinen Schatten auf den Boden. Der Krieger lässt die Klingen wieder an ihren Platz auf seinem Rücken gleiten und tritt zwischen die Bäume, dem Licht entgegen.

Die Trennung von Zed fiel ihr plötzlich nicht mehr schwer. Ein paar Sachen packen und dann los. Die Angst, dass er sie suchen, finden und zurückschleppen würde, war weg. Eine neue, noch kleinere Wohnung, ein neues Versteck hinter den Küchenfliesen.

Mit den Suchern, die ihr Glück in den Trümmern des alten Netzes suchten, wollte sie nichts mehr zu tun haben. Immer mehr von ihnen starben dabei. Danny war nur einer von vielen gewesen. Schnell hatten sich Banden gebildet, die ein Überwachungsnetz eingerichtet hatten. Hacker, die aufspürten, wenn jemandem tatsächlich einmal etwas Wertvolles in die Hände fiel. Und Schläger, die es ihm schnell wieder abnahmen. Doch Butterfly kannte all das nur noch vom Hörensagen. Sie hielt den Kopf unten, suchte sich einen neuen Job und trainierte ihre Geduld. Niemand würde sie mehr schlagen, das hatte sie sich geschworen. Sie fügte sich in ihren Platz in der Welt, wartete ab und sparte eisern. Die kleine Future sollte es einmal besser haben als ihre Mutter. Dafür kämpfte sie, und dieser Kampf ging leise vonstatten. Schritt für Schritt.

E N D E

Gamer

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