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Christine Kayser Sommer 1966

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Ein Sonntag, wie immer. Die ganze Familie schläft fest und wie üblich, sehr lange. Durch die nur angelehnte Tür des Elternschlafzimmers ist leichtes Schnarchen zu vernehmen. Es ist Mutter. Der Vater schläft ruhig.

Die „Große“ wird durch einen Sonnenstrahl geweckt. Im Kinderzimmer herrscht noch Ruhe. Ihr Bruder liegt unter seiner Zudecke. Er hat sich bis über beide Ohren eingerollt. Ein wild zerzauster Haarschopf lugt hervor. Der Junge liegt da wie tot. Auch die zwei Schwestern bewegen sich noch nicht. Eng umschlungen liegen sie da. Das Bettzeug ist total zerwurstelt. Zwei kleine Füße hängen heraus. Der Nachttopf steht neben dem Bett. Manchmal ist er fast voll, aber heute nicht. Sicher hat die Kleine wieder mal ins Bett gemacht. Sie will nachts nicht aufs Töpfchen gehen. – Wegen der Mäuse.

Die „Große“ passte nicht mehr ins Kinderzimmer und so wurde ihr im Korridor unter der Dachschräge eine Schlafnische eingerichtet. Sie findet es romantisch und toll. Endlich ein neues Bett, ein eigener Schrank mit zwei Türen und einem Spiegel in der Mitte. Sie kann ihr Glück kaum fassen. Jede Woche nimmt sie alle Sachen heraus und sortiert sie ganz ordentlich wieder ein. Dann lässt sie die Schranktüren eine Weile offen und freut sich über den schönen Anblick. „Habe ich es jetzt gut.“ Sie denkt laut zurück: „Schön war es schon, abends mit kalten Füßen in ein vorgewärmtes Bett der bereits schlafenden Geschwister zu kriechen.“ Nicht so angenehm fand sie es manchmal im Bett der Kleinen, wenn sie plötzlich nachts spürte, wie es um sie herum feucht-warm wurde. Doch die Müdigkeit ließ sie weiter schlafen. Aber morgens! Das Nachthemd war pitschnass und roch. Damals war Winter und es war kalt im Zimmer. „Jetzt ist alles anders.“ Ein Lächeln umspielt ihren Mund und Ihre Gedanken eilen voraus. Nun hält sie nichts mehr in ihrem Bett. Langsam schleicht sie auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und begibt sich ins Bad. Nach einer Katzenwäsche zieht sie sich an. Frühstücken kann sie noch nicht. Vom Vortag der alte Malzkaffee genügt. „Hm, bitter.“ Sie schreibt einen Zettel: „Bin mal zum Feld, nehme Hella mit.“ Leise schließt sie die Haustür. Freudig kommt die Hündin angesprungen und wirft sie fast um. „He, nicht so stürmisch, komm, wir gehen.“

Beide laufen zum Tor hinaus. Die Sonne lacht und gibt ihr Bestes. Der Himmel strahlt blau, ist fast wolkenlos. Sie laufen über Feldwege. Es riecht nach Gras und Erde. In ihrem Innern jauchzt das Herz. Sie ist von der Schönheit der Natur ergriffen. Tief atmet sie auf, lacht. Hella lacht auch. Sie hat das Maul weit offen und zeigt ihre weißen Zähne. Voller Lebensfreude springt und tollt sie über den Acker. Ein verschreckter Hase rennt im Zickzack davon und sie hinterher „Lass das, komm her!“ Sie folgt „Toben darfst du, aber keine Hasen fangen.“ Und Hella versteht. Sie legt sich hin und bekommt jetzt Streicheleinheiten, die sie dankbar genießt. Mit ihrer Zunge leckt sie die Hand ihrer jungen Herrin.

Das Mädchen entdeckt die Rübenhacke der Mutter am Feldrain „Ich habe Lust, Rüben zu verziehen. Mutter wird sich freuen – und mich loben.“ Sie blickt an sich herunter. Das Kleid, welches sie trägt, ist ein Modellkleid und laut Expertise hochmodisch. Es war ein Geschenk der Eltern zur Jugendweihe. Ihr gefiel es damals einfach nicht. Getragen hatte sie es noch nie. So etwas würde sie sich niemals kaufen. Damals machte sie „gute Miene“ und bedankte sich brav. Nun trägt sie es zum ersten Mal auf dem Feld, denn im Schrank war nichts Rechtes zu finden.

Mit der Rübenhacke macht sie sich voller Eifer über die Rüben her. Es geht ganz gut. Ab und zu jedoch ärgert sie sich: „Wieder mal zu viel weggehackt.“ Nun drückt sie ein Pflänzchen, dass am Boden liegt, ganz fest in die Erde, damit es wieder anwachsen kann. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Nur sie und Hella sind auf dem Feld. Sie stutzt: „He, du.“ Ein kleines Etwas, was sie noch nie gesehen hat, sitzt plötzlich vor ihr. Das reckt sich und spreizt die Arme, kleine Pfötchen zeigen Krallen.

Das seltsame Etwas gibt komische Geräusche von sich. Es hat niedliche, spitze Zähne und ein weißes Unterbauch- und Brustfell. Alles andere ist bräunlich. Weil dieses Tierchen so niedlich ist, will sie es fangen, um es zu streicheln. Das Tierchen flieht. Hella merkt nichts. Die Sonne wird heiß. Ihr Kleid liegt in einer Furche, mitten im Rübenfeld. In einem BH aus weißer Spitze und einem Höschen, die Rübenhacke in der Hand arbeitet sie fleißig weiter. Sie will noch einige Reihen schaffen.

Die Zeit vergeht dabei. Sie denkt laut: „Bald gehe ich nach Hause.“ Doch irgendwie fühlt sie sich beobachtet, sieht aber niemand. Sie erschrickt, als ein Mann auf sie zukommt. Schnell stürzt sie zu ihrem Kleid, schnell hat sie es an. Er ruft: „Keine Angst Mädchen, ich tue dir nichts. Da, hinter dem Hügel, sind meine Kameraden. Sie gucken mit Fernglas. Ich wollte dir das sagen.“ Er bietet sich an, ihr beim Rübenverziehen zu helfen. Sie lehnt ab. Er sagt: „Ich mache das gerne.“ Sie erwidert: „Ich auch.“ Er geht nicht, lächelt, kniet sich nieder und hilft. Sie ist etwas verlegen und wagt sich nicht, ihn anzusehen.

Nun erzählt er von seiner Familie. Dabei erfährt sie, dass seine Schwester Lehrerin ist. Von seinen Eltern spricht er voller Hochachtung. Mit leiser Wehmut denkt er an sein Zuhause zurück Später, als ihre Mutter kommt, traut sie sich, ihn heimlich zu mustern. Er ist blond, hat kurze Haare, blaue Augen, weiße Zähne. Die Uniform ist ordentlich und seine blank geputzten Stiefel bedeckt nur ein wenig Staub vom Feld. Er versteht sich gut mit ihrer Mutter. Diese freut sich, dass er so fleißig ist. Sie bietet Zigaretten an. Er dankt: „Ich rauche nicht.“ Sie: „Gut so, bist ein guter Soldat vielleicht der Beste?“

Er lacht verlegen und verzieht emsig Rüben. Der Abend naht. Sie verabschieden sich. Er muss zurück. Es ist nicht weit. Die Felder grenzen an ein Wäldchen. Darinnen befinden sich die Kasernen. Der Ort nennt sich: „Heiterblick“ – am Stadtrand Leipzigs gelegen, von der Natur erschaffen und reichlich bedacht. Nur die Kasernen sind grau, dafür aber hinter Mauern und Bäumen versteckt.

Die Mutter geht mit Tochter und Hund nach Hause. Ein Bauer steht am Zaun und ruft. „Na, Eva, seid Ihr wieder fleißig gewesen.“ Und schon beginnt er, zu flirten: „Wo sind denn deine anderen hübschen Töchter?“ „Ach Walter, die sind doch noch zu klein fürs Feld. Meine Große ist da eher geeignet.“ Lachend geht sie weiter.

Die nächsten Tage verbringen sie wieder auf dem Feld. Viktor, der Soldat kommt täglich und hilft. Seine blauen Augen strahlen und ein Feuer scheint darin zu lodern. Die jungen Leute necken sich. Die Mutter merkt es nicht, als er heiser haucht: „Ich liebe dich.“ Das Mädchen freut sich so über diese schönen Worte. Es gibt jemand, der sie liebt! Sie strahlt.

Tage vergehen und die Arbeit auf dem Feld ist zu Ende.

Abschied. Viktor will sie wieder sehen. Sein Blick ist sehr traurig. Ihre Hand hält er ganz lange fest und sieht ihr dabei tief in die Augen. Seine Stimme zittert, als er leise spricht: „Bitte, ich warte jeden Tag auf dich!“ Sie nickt: „Ich komme.“ Sein Blick ist ungläubig. Sie: „Wirklich.“ Schweren Herzens gehen sie auseinander. Es ist, als ob sie ahnt, dass sie sich nie wieder treffen werden. Sie grübelt. „Wer weiß, was da passiert mit uns?“ Zu gerne hätte sie es gewusst. Das Unerklärliche ist so geheimnisvoll und magisch, fast gefährlich. Sie denkt an ihn und kämpft mit sich. „Etwas zieht mich an, und etwas hält mich zurück.“

Sie versucht ihre Gedanken zu verdrängen, doch so einfach ist das nicht. Währenddessen wird die Zeit vom Alltag verschluckt. Doch immer wieder muss sie an ihn denken. Eines Tages geht sie mit ihrer Schwester spazieren. Ihr Weg führt an einer kleinen Gärtnerei vorbei. Ein buntes Blumenfeld begrüßt sie. Es ist Mittagszeit und ruhig. Nirgends ist ein Mensch zu sehen. Doch sie laufen unbeirrt weiter. Dieses Mal werden keine Blumen gestohlen. Die Zeit der Erdbeeren ist auch vorbei. Hier waren sie größer und schmeckten viel süßer, als die im Garten der Mutter. Besonders im Dunkeln, bei Mondschein, lohnte sich das Naschen. Nur Mutter durfte davon nichts wissen.

Am Ende der Gärtnerei dehnten sich die gut bestellten Felder aus. Bald würde die Ernte eingebracht: das überreife Getreide, der Mais, bestens gewachsen. Das gibt gutes Futter für das Vieh. Vorwitzige Kornblumen lugen hier und da versteckt am Feldrain heraus. Heute aber bleiben sie unberührt. Schließlich haben die Mädchen den Eingang der Kasernen erreicht. Beide sind jetzt aufgeregt, denn sie wissen nicht recht, wie sie sich verhalten sollen. „Da gibt es einen kleinen Laden, lass uns dort Bonbons kaufen.“ Doch bis dahin kommen sie nicht. Neugierig werden die beiden Mädchen gemustert. Lauter junge Burschen tummeln sich auf einem Sportplatz und spielen Fußball. Mutig fragt das Mädchen: „Wo ist Viktor?“

Einer von ihnen ruft: „Ich bin Viktor.“ – Ja, es gibt viele, die so heißen. Doch die Mädchen kennen nur den Vornamen. Sie werden zur Kommandantur geschickt. Dort ist man verwundert und nicht gerade erfreut. Mädchen sind hier verboten. Beschämt verlassen sie das Gelände. Viktor ist längst in seiner russischen Heimat.

Aber vergessen konnte sie ihn nie mehr.

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