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Einführung

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1. Ein Coronavorspiel vorab

Es war im Januar 2016, da titelte Zeit-Online: „>Das neue Normal<: Permanent online, permanent verbunden – für viele ist Handyabstinenz schon heute die Ausnahme.“ Das war kritisch gemeint. Die Sorge der Gastautoren Peter Vorderer und Christoph Klimmt galt damals sozialkulturell riskanten Ersatzfiguren. Sie sorgten sich darum, dass Wissenszugang Wissen, dass Crowd-Befragung Kreativität, dass Big-Data Institution ersetze.1 Bloß kein neues Normal! Auch dieser Tage ist von „Neuer Normalität“ die Rede. Mit ihr verbindet sich auch eine Sorge, aber dieses Mal die Sorge, dass sich gesellschaftliche Kräfte und Mitbürger*innen einer neuen Normalität verweigern und sie sich nicht etablieren kann – mit, so wird vorgegeben, Gefahren für Leib und Leben und mittelfristige Wohlstandsperspektiven. Vor allem Vizekanzler Olaf Scholz annoncierte Mitte April 2020, dass Deutschland bis ins Jahr 2021 mit einer „neuen Normalität“ leben muss: „Was wir jetzt brauchen, ist für lange Zeit eine neue Normalität“, ließ er bündig wissen.2 Neue Normalität als Standard eines neuen Lebensgestaltungsethos! Diese Forderung hatte gleich viele „Väter“. So war im Fernsehen auch von „Jens Spahns neuer Normalität“3 die Rede. Neue Normalität war nicht nur auf Bundesebene unterwegs. Sie gewann auch alsbald Lokalkolorit. „Alltagsmasken sollen in der Region Osnabrück ‚neue Normalität‘ werden“, berichtete die Neue Osnabrücker Zeitung4. Vom Burkaverbot zur Maskenpflicht, das mag ein Wechsel sein. Krisen, so zeigt sich im Jahr 2020, setzen Normalitätsdynamiken der besonderen Art frei. Nicht nur, dass neue Normalitätsstandards beschworen werden, um Kriseneskalationen zu vermeiden. Auf einmal wird eine Bestimmung, die in nicht ganz wenigen wissenschaftlichen Kontexten eher nur mit spitzen Fingern angefasst wird, zur paradigmatischen Figur der Krisenbewältigung. Vorbehalte und Widerstände für ein solidarisches Einschwingen in soziale Enthaltsamkeit der Ausnahmesituation einer Krise sollen im Zeichen einer neuen Normalität eingedämmt werden. Immerhin in Österreich, also dort, wo vermutlich die Renaissance der Figur einer „neuen Normalität“ ihren Ausgang nahm, als Bundeskanzler Kurz Anfang April von „ersten Schritten in Richtung neue Normalität“ sprach5, wurden auch kritische Stimmen laut. Es wurde Mitte April darauf aufmerksam gemacht, dass „Neue Normalität … für Familien Rückfall in die Vergangenheit“ bedeutet.6 Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland konkurriert inzwischen neues Normal mit Normal. „Wann wird unser Leben wieder normal?“, fragte bereits Ende März die Brigitte.7 Wenig später spricht der „Sexpodcast zu Ostern … über Coronavirus, Porno und neue Zeiten im Bett“ und fragt: „Sexualität: Corona und Sex – geht das noch?“8

Bemerkenswert ist: Die Ad-hoc-Stellungnahme zur Coronavirus-Pandemie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, ein Dokument, das die Bundespolitik maßgeblich beeinflusst, verweigert sich einer Adaption der Rede von der neuen Normalität. Es nutzt das Prädikat „normal“ konsequent für einen nach der Krise wieder anzustrebenden gesamtgesellschaftlichen Normalzustand. Es gelte, so kann man da lesen, „Kriterien und Strategien zur allmählichen Rückkehr in die Normalität zu entwickeln“. Aufgabe sei eine „Rückführung in einen gesellschaftlichen Normalzustand … durch passgenaue … Maßnahmen“9.

Was einem bei der Rede von der neuen Normalität irritieren mag, ist ja vor allem dies: Sie ignoriert, dass gesellschaftliche Standards und grundrechtliche Regeln wie Überzeugungen in der Ausnahmesituation der Coronakrise weiter gelten. Die Ausnahmesituation der Krise sistiert eben nicht Normalität so sehr, dass von einer neuen Normalität die Rede sein müsste. Dem ist weiter nachzudenken. Irritierend ist ein Zweites: Verstummt sind jene Stimmen, die in den Vordergrund rückten, dass es normal sei, verschieden zu sein.10 Das Tagblatt legte den Finger sogleich in die Wunde: „Das Virus schadet der Inklusion.“11 Es mag mitten in der Coronakrise noch zu früh sein, semantisch ambitioniert über eine neue Konjunktur der Rede von der Normalität zu räsonieren. Eins macht der öffentliche Austausch über die Coronakrise deutlich. Die Normalitätsvokabel lässt sich nicht so einfach aus der Welt schaffen. Und es ist schon deshalb dringend angezeigt, für einen ebenso kritischen wie durchdachten Gebrauch von Normalität einzutreten. Das ist schon deshalb geboten, weil die Beziehung zwischen Normalität und Normativität aufregend kompliziert erscheint. Wer aber die konstruktive Dialektik von Normalität und Normativität leugnet, gefährdet womöglich ungewollt kostbare Freiheitsrechte und Freiheitsgrade eines freizügigen Zusammenlebens und einer offenen Gesellschaft. Das sei im Folgenden programmatisch für diesen Band in einem ersten Teil dieser Einführung skizziert. Ein zweiter Teil orientiert über die Beiträge des Bandes.

2. Programmatische Hinführung

2.1 Die zwiespältige Reputation des Normalen

Vielleicht nicht immer schon, aber seit Langem wird das Prädikat normal in Alltagsdiskursen mit Empörung eingesetzt. Sex mit zwölf. Botox mit vierzehn. Flächendeckende Körpertattoos. Eine Extradosis Ritalin vor Mathematik und Französisch. „Das ist doch nicht normal!“, heißt es dann. Allerdings sind die Normalitätswächter unserer Tage in Gestalt von (Groß-)Eltern oder Lehrern verunsicherte Kantonisten, entstammten sie doch einer Generation, die mit dem Kürzel 68er charakterisiert wird – und die steht bekanntlich für einen Relaunch des alten Normalitätsverständnisses, das mit einer olfaktorischen Vokabel belegt wurde: Muff. 68er sind Lüftungstheoretiker, die freilich selbst, zumindest in der Gründungsphase, einen Hang zur Normativität aufwiesen, wie der totzitierte Satz belegt: Wer zwei Mal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment. Nach 68 schien der Begriff der Normalität in einem Allzeittief zu verharren, aber die sprunghafte Entwicklung der Biowissenschaften, die Frage nach Enhancement, die nicht gegenstandslose Wissenschaftsfantasie einer Emeritierung des Todes12, aber auch Martin Walsers Paulskirche-Rede von 1998 und politische Bewegungen wie der Populismus setzten das Thema erneut auf die Agenda. Die aktuelle Konjunktur wurde oben aufgegriffen.

2.2 Zur Eigenart von Normalitätsproduktion. Jürgen Links Diskurstheorie des Normalismus

Ausgerüstet mit foucaultschem Besteck und systemtheoretischen, kybernetischen, flexibilistischen psychologischen Theoriemodulen hat der Literaturwissenschaftler Jürgen Link den Normalitätsdiskurs Ende der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts aus dem toten Winkel der theoretischen Reflexion geholt. Seine Grundfrage lautete: „Ist Normalität eine moderne Emergenz oder eine anthropologische Konstante?“13 Seine Antwort fiel eindeutig aus: „(D)ie vorliegende Untersuchung“ fasst „das Normale als strikt soziokulturelle und historische, erst in der Moderne seit dem 18. Jahrhundert emergente Theorie“14. Normalität hat ein „historisches Apriori“15, taucht in westlichen Gesellschaften ab dem 18. Jahrhundert auf, eng verbunden „mit moderner Massenproduktion und moderner Erhebung von Massendaten seit dem 18. und frühen 19. Jahrhundert“16.

Link unterscheidet zwei nahezu gegensätzliche Strategien der Normalisierung und kontrastiert eine „protonormalistische“ gegen eine „flexibel-normalistische“ Strategie. Die protonormalistische Strategie, von der er sich absetzen will, arbeitet mit stabilen Grenzen, stigmatisiert und exkludiert „Auffällige“, arbeitet mit Dressur und besitzt eine „Tendenz zur >Anlehnung< der Normalität an materielle Sonderterritorien (z.B. Gefängnis, Irrenanstalt)“17. Dem entspricht aufseiten der Subjekt-Technik die Haltung, sich der „Außenlenkung“ zu unterstellen mit der Folgelast einer „Fassaden-Normalität“. Als Leitdiskurse nennt Link „Medizin/Psychiatrie, Biologie, Industrialismus“ und entziffert als Geschichtskonzepte die „Teleologie, Historizismus mit definitiver Zielphase“18.

Demgegenüber reißt die „flexibel-normalistische Strategie“, mit der Link sympathisiert, die Abgrenzungen ein. Link ist ein Enthusiast des Fluidalen. Entsprechend verabschiedet Link die Idee der Außenlenkung und nennt als „Subjekt-Techniken“: „Selbst-Normalisierung, Selbst-Adjustierung, selbständiges Risiko- und Kompensationskalkül. Chance: >Authentizität< durch Coming out und Outing).“ Konsequent werden teleologische Geschichtskonzepte emeritiert und für eine „>offene< Posthistoire, Postmoderne“ plädiert.19 Link feiert Kunst als Motor der Flexibilisierung und destilliert seine Analysen in Sätze wie diesen: „Im Normalismus läßt sich die Hauptfunktion von Kunst und Literatur als Bereitstellung von Applikations-Vorlagen für Denormalisierungen (z.B. „Marginalisierungen“) auffassen, mit dem Grundtyp der (nicht) normalen Fahrt, die ein Subjekt irreversibel aus der Normalität abweichen lässt. Dieser Narrationstyp dient – in Kofunktion mit statistischen Daten – der Markierung von Normalitätsgrenzen, die wiederum >innere Bildschirme< zur lebensweltlichen Orientierung normalistischer Subjekte generieren.“20

Im Zuge seiner Analysen entschränkt Link Normalität und Normativität, nicht zuletzt, um der Inklusion von Minderheiten zu dienen. Das wird hochproblematisch, wenn Link ethische Themen gleichsam nebenbei anspielt. Leichthändig plädiert Link für einen „transnormativen, transjuridischen und transethischen Typ von >Gewissen<. […] (W)ährend das normative Gewissen angesichts der Prä-Implantations-Diagnostik die Grundsatzfrage nach der Zuverlässigkeit von Selektion in jedem Einzelfall aufwirft, verweist das normalistische Gewissen auf die bereits längst hohen statistischen Werte der In-vitro-Fertilisierung, d.h. deren Normalität, und zieht daraus die Folgerung, daß die menschliche Generativität historisch unwiderruflich artifiziell und also normaliter gentechnisch geworden ist.“ Zwar gibt Link zu, es gebe durchaus „Koexistenzen zweier Gewissensinstanzen“, auch deshalb, weil „Normativität ja niemals in toto durch Normalität ersetzt werden kann“. Aber: „Was die Kollisionen betrifft, so zwingt das historische Material der vorliegenden Studie zu der Einsicht, daß bei >störender< Abweichung der Normativität von der Normalität die erste eher der zweiten angeglichen werden kann, als umgekehrt.“21 Solche Aufstellungen sind gefährlich.

2.3 Wider einen Abschied von der Normativität

Mit seiner Rede von dispositiven und diskursiven Praktiken beschreibt Link anonyme Strukturen, die ein Subjekt allererst konstituieren sollen und die als solche keine direkte Rückadressierung zulassen. Wer aber sagt denn, dass diese anonymen Strukturen, die sich einer Sprach- und/oder Gesellschaftsform verdanken, gute Strukturen sind?22 Unter der Hand plädiert Link für ein höchst normatives Gesellschaftsmodell, das fluidal und inklusiv ist, und geht dabei unausgesprochen von normativen Menschenrechten und einem inklusiven Würdeverständnis aus. Was aber, wenn anonyme Strukturen so lange ein am Rassismus orientiertes Modell adressieren, bis irgendwann eine kritische Masse erreicht wird, die das angepriesene Modell als normal empfindet?

Die späte Kehre seines Patrons hat er jedenfalls verschwiegen. Foucault hat vielleicht nicht zufällig in seiner letzten Vorlesung am Collège de France die Parrhesia für sich entdeckt und für eine Ethik der ungeschützten Rede plädiert, die auf Schmeichelei verzichtet, keine falschen Kompromisse eingeht und auch Statusfragen nicht ins Kalkül zieht.23 Parrhesia ist in der Antike eine Tugend, später auch – zumindest zeitweise – eine urchristliche Tugend. Die Rede von Tugend impliziert (nahezu zwingend) die Rede von Charakter. Und Wahrheit wird hier gegen das, was als normal gelten soll, ins Feld geführt.

Inklusion setzt ein liberales Gemeinschaftsverständnis voraus, das hoch sensibel auch auf die Rechte von sogenannten Minderheiten reagiert. Ein solches Modell fordert normative Tugenden, auf die man sich reziprok verständigen kann: Was können wir gegenseitig voneinander fordern? Der Berliner Philosoph Ernst Tugendhat hat im Anschluss an die schottischen Aufklärer, namentlich an Adam Smith, zwei Basisnormen oder Tugenden ausgezeichnet, die wir gegenseitig voneinander fordern können: Selbstbeherrschung und Sensibilität. Es sind zwei Grundnormen oder Tugenden einer liberalen Bürgergemeinschaft, historisch geronnen in der englischen Gesellschaft, die aber flexibel genug sind, auch für sich liberal weiterentwickelnde inklusive Gesellschaftsformen gültig zu sein. Selbstbeherrschung ist ein Aggressionsstopper schlechthin, die in Kombination mit Sensibilität befriedend wirkt. Tugendhat hat nicht nur die oft sehr unterschiedlich ausgeprägten Interessen von Mitgliedern einer Gesellschaft im Blick, vielmehr zielt er auch auf eine „Harmonie der Affekte“24. Bei abweichendem Verhalten, das ist die Pointe von Tugendhat, muss derjenige, der gegen die Normen verstößt, mit Scham reagieren und entsprechend die Schamzeugen mit Empörung. Die anderen, die Schamzeugen, sind die Instanz, die mein Handeln bewerten und die Neujustierung der Basisnormen einfordern. Bei Übertritten müssen Scham und Empörung eintreten. Scham ist also ein notwendig geteiltes Gefühl. So gesehen ist Scham in der Lage, eine autonome Ethik zu begründen, sofern sie an Basisnormen oder Tugenden, die wir als Mitglieder in einer liberalen Gesellschaft gegenseitig voneinander fordern können, rückgebunden wird.

Die Triebfeder zur Bereitschaft der Normverfolgung ist der Dritte. Dabei ist eine auf Scham basierende Moral keine Gewissensmoral, sondern eine außengelenkte normative Moral. Scham hinterfragt den Charakter, lädt ein zur Charakterschulung, sprich zur Neubalancierung der zwei Basisnormen oder Tugenden.25

Vor diesem Hintergrund ist gegen Jürgen Link darauf aufmerksam zu machen, dass auf einen starken Begriff von Charakter in einer liberalen inklusiven Gesellschaft nicht zu verzichten ist, weil ein durch Scham stets neujustierter Charakter Bedingung einer friedfertigen Gesellschaft ist. Gewalt entsteht, wenn der schamgesteuerte Aufruf zur Charakterbildung verpufft und Scham in Schuld verschoben wird, weil man offenbar mit Scham besser als mit Schuld leben kann.26

Schon die Kain-und-Abel-Erzählung geht auf eine Verschränkung von Normativität und Normalität und bezieht sich dabei gerade nicht auf Konventionen oder etwa ästhetische Standards, sondern auf Grundfragen der Moralität, nämlich auf die Grundfrage nach dem Ursprung und der Vermeidung von Gewalt. In Genesis 4 schult die literarische Figur Gott Kains Charakter, provoziert ihn dadurch, dass er sein Opfer, das Opfer des Erstgeborenen, ablehnt, um Kain auf seine problematische, von Neid- und Eifersucht gesteuerte Charakterstruktur aufmerksam zu machen. Dieser weisheitlich coachende Gott plädiert für Selbstbeherrschung und Selbstbeschränkung, sagt an entscheidender Stelle, die Sünde stünde vor der Tür, wenn Kain sich nicht fromm, also gemeinschaftsverträglich oder gemeinschaftstreu verhalte. In Gen 4,7 ist zum ersten Mal von Sünde in der Bibel die Rede, und es wird deutlich gemacht: sie ist beherrschbar, sofern man sich den Basistugenden entsprechend verhält. Kain tut das bekanntlich nicht, sondern wählt die Schuld, um wieder Handlungssouveränität zu erlangen. Er verschiebt Scham in Schuld.

Zwischen einer autonom begründeten Moral im Anschluss an Tugendhat und den biblischen Texten gibt es einen erstaunlichen überlappenden Konsens, denn auch die Meistererzählung aus Gen 4 fordert die Tugenden der Selbstbeherrschung und Sensibilität ein, plädiert darüber hinaus aber für expliziten Ehrverzicht (Stichwort: Erstgeburtsrecht). Dafür motivational zu werben ist das Surplus dieser Texte, anders gewendet: (Religiöse) Hintergrundtheorien können über den überlappenden Konsens hinaus für eine kräftigere, oft einseitige Selbstbeschränkung werben, mehr, als es säkulare Theorien jemals vermögen. Für Anhänger dieser Tradition ist das normal, oder sollte normal sein.

Und noch in einer anderen Hinsicht inszeniert der alte Text Standards, die auch heute noch nicht selbstverständlich sind. Bekanntlich geht der Text weiter nach dem Mord von Kain, der die Schuld attraktiver empfunden hat als die schamgesteuerte Bearbeitung des eigenen Charakters. Die literarische Figur Gott stattet Kain mit dem berüchtigten Kainsmal aus, man darf den Begriff nicht pejorativ lesen. Dieses geistliche Tattoo ist kein Stigma, sondern ein Aggressionsstopper, der Rachespiralen eindämmt. Die gute Botschaft ist eindeutig: Gott macht eine Differenz auf zwischen den Handlungen von Kain und seinem Personsein, das geschont wird. Sehr viele Jahrhunderte später hat ein Mann namens Luther diese Differenz zum Spezifikum seiner Rechtfertigungslehre gemacht, in dieser Meistererzählung hat sie ihren Ort. Wie unerlässlich die Tugenden von Selbstbeherrschung und Sensibilität sind, mag ein kurzer Blick auf aktuelle populistische Strömungen zeigen, die diese normativen Tugenden und damit implizit auch ein inklusives Modell einer liberalen, offenen Gesellschaft und jede Pluralisierung27 strikt ablehnen.

2.4 Normalität nach rückwärts. Leben in Echokammern

Um Identitätsentwürfe nach rückwärts anzubieten, die die von Tugendhat anvisierte affektive Harmonie stören und zerstören, kündigen rechtspopulistische Kritiker die Tugendgefolgschaft auf und verhalten sich strategisch unbeherrscht. Es wird in unterschiedlichen Hitzegraden gestänkert, gepöbelt, beleidigt – gegen Minderheiten, Flüchtlinge, Vertreter*innen liberaler Kulturen. Zivile Verkehrsformen werden absichtlich ausgesetzt und ein hemdsärmeliger Ton angeschlagen, Hässlichkeit und Gemeinheit28 gepflegt. Oft folgt am anderen Tag eine sehr lau vorgetragene Entschuldigung, die unter der Aufmerksamkeitsschwelle der aktuellen Nachrichten verbleibt. Irgendetwas bleibt immer hängen und wird erinnert. Strategisch bedient werden unterschiedliche Ängste: Statusverlustängste, Existenzängste oder Demütigungsängste. Carolin Emcke bemerkt treffend, „Angst und Sorge“ seien häufig nur „rhetorische Tarnkappen“, die „den bloßen Rassismus verdecken“29. Wer Hass pflegt, glaubt – das ist die entscheidende Pointe –, aus der Passivität herauszukommen, glaubt Handlungssouveränität zu erlangen. Mit diesem Gefühl von Souveränität lockt der Rechtspopulismus. Er trifft auf eine Gesellschaft, die auch von ihren Eliten in Fragen der Emotionalität unterversorgt geblieben ist. Um die rechtspopulistische Weltsicht zu normalisieren, geht diese Bewegung medientheoretisch einen inzwischen geradezu klassisch erscheinenden Weg. Sie erobert Echoräume, in denen sich die Bewegung gegenseitig bestätigt. Kommunikationswissenschaftler bezeichnen diesen Effekt als Echokammer. Mit Echokammer wird dabei das Phänomen beschrieben, dass viele Menschen in den sozialen Netzwerken dazu neigen, sich mit Gleichgesinnten zu umgeben und sich dabei gegenseitig in der eigenen Position zu verstärken. Befeuert durch die Echokammer verbreiten sich in fataler Dynamik nicht nur konsensfähige Inhalte, sondern auch Kommentare innerhalb der Netzwerke wie ein Lauffeuer. Wer den Konsens der Gruppe am besten trifft, wird „geteilt“ und „gelikt“ und erhält aus anderen, harmonierenden Kreisen Freundschaftsanfragen. Dadurch entsteht selbst für Angehörige von Minderheiten das Gefühl, einer gesellschaftlich relevanten Mehrheit anzugehören. Soziale Medienplattformen unterstützen diesen Effekt durch Algorithmen, die prioritär Inhalte von Gleichgesinnten anzeigen. Informatiker bezeichnen diesen Effekt als Filterblase. Der moderne Nutzer sozialer Netzwerke befindet sich also in einem bequemen Informationskokon.30 Solche Informationskokons petrifizieren Selbstbilder und immunisieren so gegen Scham. Damit wird eine schamlose Gesellschaft promoviert, die sich um eine liberale Normalität nicht länger schert. Allein solche Tendenzen machen das Nachdenken über normative Normalität unverzichtbar. Eine solche normative Normalität verweigert sich einer Stabilisierung eines Selbstbildes, das sich nicht mehr hinterfragen lässt und eine gruppengemäße In-sich-Verkrümmung, die von Luther als Sünde charakterisierte incurvatio in se ipsum generiert.

Es gilt, sich der Macht eines sich je und je einer normativen Kritik stellenden Normalitätsdiskurses auszusetzen, um zu verhindern, dass eine schamlose Gesellschaft eine kritische Masse von Anhängern erreicht, die diese andere, nichtliberale Gesellschaft mit ihren protonormalistischen Strategien normal finden.

Genau dieser Ambition sind die in diesem Band versammelten Beiträge, die aus einer Diskussion während einer Tagung an der Evangelischen Akademie Loccum hervorgegangen sind, verpflichtet.

3. Orientierung über die Beiträge des Bandes

Die fünf in diesem Band dokumentierten Beiträge verfolgen die in der programmatischen Hinführung formulierte Intention in fünf verschiedenen, für die evangelische Ethik relevanten Kontexten, nämlich für medientheoretische, medizinethische, familiale, sportethische und tierethische Aspekte. Sie verbindet bei dezidiert unterschiedlichen Zugangsweisen zur evangelischen Ehtik die Überzeugung, dass eine Kritik an einem unreflektierten Gebrauch von Normalität gerade nicht in eine Abschaffung der Normalitätsbestimmung mündet. Vielmehr machen sie sich in je eigener Weise dafür stark, die ethische Stabilisierungsleistung der Bestimmung normal nicht zu unterschätzen. Eine Welt ohne Sinn fürs Normale ist eine libertinistisch hoch gefährdete Welt.

Reiner Anselm fragt mit Charles Taylor nach der Bedeutung der naturalen Grundlagen in Fragen der Lebensführung. Einerseits haben technologische Innovationen und gesellschaftliche Dynamiken zu einer Emanzipation von den körperlichen Grenzen beigetragen, andererseits entwickelt sich parallel dazu eine neue Achtsamkeit für den Körper. Die neue Hochschätzung des Körpers reibt sich mit der traditionell im Christentum gepflegten Hochschätzung des Geistlichen, die zu einer Spiritualisierung der Gottesbeziehung und einer Säkularisierung der Welt führten. Mind the gap! Jene von Schleiermacher, Barth und Bonhoeffer gemachten Vorschläge, den gap zu schließen, führen nach Anselm nicht ins Ziel. Neu formatiert, geht es um die Grundfrage von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft. Die interpretierende Deutungsleistung der empirisch erforschten Wirklichkeitssicht durch transempirische Kategorien wie die Schöpfung muss Veränderung und Konstanz zusammendenken: Die Würde des Geschöpfs als Gestalter der Welt bleibt angesiedelt im Horizont der „Schöpfungsordnungen“. Biologisierung und Kulturalisierung werden aktuell in Dienst genommen, um die Einzigartigkeit des Individuums ins Zentrum zu rücken. Einem fixen Menschenbild wird der Abschied gegeben. Anselms Kritik: Wir benötigen ein überindividuelles, normatives Konzept des Normalen, um etwa zwischen Gesundheit und Krankheit zu unterscheiden. Dieses normative Konzept wird als schwach prädiziert, weil Abweichungen möglich, aber begründungspflichtig sind. Geschöpflichkeit beschreibt glücklich den Zwischenraum von „naturaler Festlegung und kulturalistischer Verflüssigung“.

Stephan Schaede fordert in seiner theologisch-ethischen Reflexion der Normalitätsdynamik, in Fragen von Partnerschaft und Familie durchaus die zentrale Frage zu wagen: „Was ist in Sachen Familie und Partnerschaft eigentlich normal?“ Es komme allerdings darauf an, sich mit dieser Frage schwerzutun. Das unterlegt Schaede, indem er zunächst in einem ersten Teil acht Schwierigkeiten konturiert, Familie und Partnerschaft mit der Normalitätsbestimmung zusammenzuführen. Ein zweiter Teil expliziert, wie die Normalitätsfrage in Sachen Familie und schwierige Antworten Kontur gewinnen können. Schaede empfiehlt einen dialektischen Zugang zum Normalitäts- und Normativitätstopos. Der erlaube eine Normalitätsreflexion von Familie, die wenigstens vier Gewinne generiere. So könne ein Abschied vom überzogenen christlichen familialen Heiligkeitspathos eröffnet werden, über wirklich bewohnbare Lebensformen als Normalitätsgeneratoren neu nachgedacht werden, normalitätskritische Interventionen gegenüber neueren gesellschaftlichen Entwicklungen formuliert und Normalitätsstandards für eine sozialpolitische prägnante Positionierung etwa in Fragen der Steuergerechtigkeit herausgestellt werden.

Arnulf von Scheliha führt in seinen Überlegungen zu einer Körperlichkeits- und Sportethik in fünf Schritten vor, wie eine christliche Normalitätsethik in Rückbindung an die christliche Überlieferung für die Sportethik produktiv werden kann. Erstens seien methodisch grundlegend Fitness, Spiel und Sport als Formen des menschlichen Selbstumgangs zu begreifen. Zweitens identifiziert er Spuren einer „Prädisposition“ von Sport und Spiel durch einen Normalitätsethos in der christlichen Anthropologie. Drittens markiert er „Grund- und Grenzreflexionen“ von Geschöpflichkeit in der protestantischen Theologie. Von Scheliha zeigt, wie in der Überwindung der klassischen Erbsündenlehre Körperlichkeit in die freiheitliche Entfaltung eigener Anlagen integriert wurde. Viertens entfaltet von Scheliha die Stärken der Figur des Spiels. Spiel sei Training in (christlicher) Exzentrizität (Wolfhart Pannenberg) und Einführung in die Sphäre des Sozialen mit ihren Rollen (Trutz Rendtorff), somit Einübung in die Normalität symmetrischer Rollen und ihrer Regelbeachtung. Fünftens steigert, wie von Scheliha abschließend exponiert, Sport so gesehen Körpertraining in der Perspektive von Spiel. Ein protestantischer Normalitätsethos kann plausibel machen, weshalb (Breiten-)Sport für einen Selbstbildungs- und Selbsttranszendierungsprozess produktiv wird.

Cornelia Mügge orientiert in ihrem Beitrag zu Normalität und Normen in der Tierethik einleitend über Normalitätsverschiebungen in Sachen Zuschreibung von Normalität im Blick auf Ernährung. Zu beobachten sei folgende Tendenz: Die Rechtfertigungspflicht kehre sich allmählich um. Veganer*innen und Vegetarier*innen gelten nicht länger als transnormale Sonderlinge. Vielmehr werde Verzehr von tierischen Produkten und Tierhaltung zunehmend begründungspflichtig. Vor diesem Hintergrund blättert sie zunächst vier gängige Muster auf, mit denen die Normalität von tierischer Ernährung begründet wird. Es werde sich erstens entweder auf das Verhalten der Mehrheit berufen, oder es werde zweitens auf Tradition und Gewohnheit verwiesen. Drittens werde die Produktivität tierischer Ernährung für die Gesundheit ins Feld geführt. Viertens schließlich werde an die Natürlichkeit von Fleischverzehr appelliert. Diese vier Begründungslinien unterzieht Mügge der Kritik. Vorgestellt wird sodann eine vehement vegetarisch-vegan optierende Minderheitenposition in den Reihen des Protestantismus und die von der Mehrheit protestantischer Ethiker*innen vertretene kategoriale Differenz zwischen Mensch und Tier gegenübergestellt, die sich gleichwohl gegen Massentierhaltung und kosmetische Tierexperimente einsetzt. Mügge attestiert hier Normalität eine unübersehbare faktische Macht, die zwischen normativ ethischen Einsichten und dem realen Verhalten auszumachen ist. Es komme, so ergibt sich abschließend, alles an auf die Situationsbeschreibung des Normalen und auf eine präzise Konturierung des dialektischen Verhältnisses von Normen und Normalität.

Ausgrenzungs- und Integrationspotenziale des Netzes untersucht in einem Essay Klaas Huizing. Normalitätsfiktionen sollen, so der Vorschlag, anhand der Idee einer gelingenden Lebensführung im Kontext mit anderen bewertet werden. In der Gelehrtenrepublik stehen sich zwei Deutungen gegenüber: Gelingende Lebensführung wird durch das Stichwort Steigerung (Korsch) und Steigerungsunabhängigkeit (Rosa) definiert. Rosa unterstellt, dass das Steigerungsmodell zwangsläufig in die Entfremdung führt, die durch Resonanzerfahrungen zu kurieren ist. Resonanzerfahrungen sind allerdings unverfügbar, verlangen Achtsamkeit, entschleunigen und garantieren gerade aufgrund ihrer zumindest partiellen Unverfügbarkeit Konstanz. Auch Leben im Netz kann eine Praxis der Freiheit sein. Als Kooperationsmonster vermag das Netz Normalität nahezu unbegrenzt zu fiktionalisieren, ist von der Idee her also eine Technik, die durchaus Spielräume der Flexibilisierung eröffnet und inklusiv wirkt. Zwingend freilich muss sich das Netz nicht in den Dienst von Freiheit und der Flexibilisierung von Identitätsmustern stellen, das Netz arbeitet auch als Normierungsmaschine, wie exemplarisch an den Selfies gezeigt wird: Selfies können als Ausdrucksnormierungsprozess gelesen werden oder aber als Ritualisierung einer gemeinsamen Lebenswelt. Die Funktion der alten Dame Literatur besteht darin, diesen Prozess distanziert zu begleiten, sich als Medium der Entschleunigung zu empfehlen und als Agentur des Außeralltäglichen zumindest eine Linderung der Entfremdung anzubieten.

Wir danken dem Claudius Verlag, namentlich Dr. Martin Scherer für diesen feinen Publikationsort. Der Leiterin der Bildungsabteilung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover, OLKRin Dr. Kerstin Gäfgen-Track, sowie der Bundeszentrale für Politische Bildung sei für die namhafte Unterstützung der Tagung gedankt, aus der diese Beiträge hervorgegangen sind.

Im April 2020

Klaas Huizing, Würzburg Stephan Schaede, Loccum

Was ist eigentlich normal?

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