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REINER ANSELM Natürlichkeit als schwache Norm in der Medizinethik Über Vermeidliches und Unvermeidliches

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„Damit sind wir bei einer der tiefsten ungelösten Fragen der modernen westlichen Kultur angelangt.“1 Was Charles Taylor, sonst nicht gerade bekannt für solch emphatische Formulierungen, dabei in den Blick nehmen möchte, ist das Verhältnis zur eigenen Körperlichkeit. Welche Bedeutung messen wir den naturalen Grundlagen für unser Selbstverständnis und für die Gestaltung unseres Zusammenlebens zu? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für das Christentum und die christliche Theologie?

Der Hintergrund dieser Fragestellung ist offenkundig: Die Entwicklungsdynamik gesellschaftlicher Veränderungen und technischer Innovation haben hier zu nachhaltigen Veränderungen geführt, nämlich zu einer neuen Frage nach der Bedeutung der naturalen Grundlagen für die strittigen Fragen der Lebensführung im Bereich der Biomedizin. Denn hier ist es durch den medizinischen und den technischen Fortschritt zu einer Verschiebung der mit Körperlichkeit verbundenen Grenzen gekommen: Nicht nur hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung in der Moderne nahezu verdoppelt, sondern auch das Risiko, an Krankheiten oder Unfällen früh oder überraschend zu sterben, ist deutlich zurückgegangen. Wir können heute weit mehr Jahre ohne gesundheitliche Einschränkungen verbringen als je zuvor, und dank technologischer Errungenschaften auch nahezu alle Beschränkungen, die uns unsere natürliche Ausstattung auferlegt hatte, überwinden. Dennoch wäre es verkürzt, diese Entwicklung nur als eine Emanzipationsgeschichte zu erzählen. Denn parallel zu der Ablösung von den natürlichen Grenzen ist es auch zu einer neuen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gegenüber dem menschlichen Körper gekommen: Der medizinische Fortschritt basierte zwar zunächst vor allem darauf, den Körper als Maschine zu begreifen, deren Fehlregulationen ersetzt oder ausgeglichen werden müssen. Allerdings haben gerade die Fortschritte und Erfolge der Medizin dazu geführt, dass die Abhängigkeit vom eigenen Körper an den Grenzen des Lebens stärker erlebt wird: Es sind neue Stadien des Alters, aber auch neue Stadien des sehr frühen Lebens entstanden, bei denen die Auswirkungen der physischen Grundlagen auf die Lebensführung, auch auf die Vorstellungen vom guten Leben sehr deutlich wahrnehmbar sind. Darüber hinaus hat die technische Überwindung natürlicher Grenzen nicht nur verstärkte ethische Reflexion über die Regeln für solche Entgrenzungen ausgelöst; insbesondere durch die militärische Verwendung moderner Technologien und ihren fürchterlichen Folgen ist es auch zu einer neuen Sensibilität für die Verletzlichkeit des Körpers und dessen unbedingte Schutzbedürftigkeit durch das Recht gekommen.

Dies vor Augen, formuliert Taylor das angesprochene ungelöste Problem, und zwar nicht primär für die Fragen der Ethik, sondern vielmehr zunächst für das Selbstverständnis des Christentums: Wie lassen sich die gestiegene Aufmerksamkeit für den Körper mit der Hochschätzung des Geistes in den höher entwickelten Religionen, gerade auch dem Christentum zusammendenken?

Die Probleme entstehen in demselben Maße, in dem Gott als der eine, allmächtige, der Welt gegenüberstehende Andere gedacht wird: Pagane Kulte sind, darauf weist auch Taylor nachdrücklich hin2, dadurch gekennzeichnet, dass sie eine Verbindung sehen zwischen Elementarfunktionen des Körpers und der Sphäre der Religion: Es gibt heilige Kriege, es gibt das Menschenopfer, das die Grenze zwischen Gott und Mensch überschreitet. Und es gibt auch so etwas wie eine heilige Sexualität, die ihrerseits die Grenze zwischen Göttlichem und Menschlichem überwindet. Restformen dieses Denkens finden sich auch im Christentum, allerdings treten sie im Verlauf seiner Entwicklung immer weiter zurück. Einen besonderen Schub erfährt dies durch die Kirchen der Reformation. Denn im Zuge von deren scharfer Unterscheidung zwischen Weltlichem und Göttlichem kommt es auch zu einer schroffen Trennung zwischen der Sphäre des Körperlichen, der Welt, und dem Geistigen bzw. Geistlichen. Die Reformatoren beharren ja bekanntlich darauf, dass eine Überwindung der Differenz zwischen Gott und Welt, zwischen der irdischen und der himmlischen Sphäre nicht von der Seite des Menschen, sondern allein von der Seite Gottes möglich sein kann. Inkarnation und Rechtfertigung sind die beiden Stichworte, die sich mit dieser Grundunterscheidung und der entsprechenden Neuvermessung verbinden. Nicht von ungefähr lässt die protestantische liturgische Praxis das Sinnlich-Körperliche fast vollständig vermissen.

Diese Grundentscheidung führt auf der einen Seite zu einer Spiritualisierung der Gottesbeziehung. Sie führt aber auch zu einer Säkularisierung der Welt, mithin zu zwei auseinanderlaufenden Tendenzen – und die Frage, wie diese beiden Fäden zusammenzuführen sind, beschäftigt die Theologie in der Folgezeit ebenso, wie es im Politischen und auch in der Ökonomie zu nicht unproblematischen Re-Sakralisierungstendenzen kommt. Theologisch sind es – nach den so nicht mehr zu haltenden Modellen der Barocktheologie und auch der frühen Aufklärungstheologie – vor allem die Modelle von Friedrich Schleiermacher und Karl Barth, die versuchen, die sich hier ergebende Lücke zu schließen. Schleiermacher favorisiert ein Modell, das die Gottesbeziehung in das Selbstbewusstsein des irdisch-körperlichen Menschen einzeichnet: „Anschauung des Universums [...] ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion.“3 Barth plädiert hingegen dafür, die Spannung so zu radikalisieren, dass außerhalb der Selbstoffenbarung Gottes in Christus keine Verbindung der beiden Sphären möglich ist: Religion, eigene Anschauung des Universums, wird dann zum Unglaube, weil „an die Stelle der göttlichen Wirklichkeit, die sich uns in der Offenbarung darbietet und darstellt, ein Bild von Gott [tritt], das der Mensch sich eigensinnig und eigenmächtig selbst entworfen hat“4. Beide Modelle bleiben aber letztlich auch unbefriedigend: Schleiermacher, weil er den Glauben im Bewusstsein ansiedelte, und damit eben zu keinem befriedigenden Ergebnis für die Frage nach der Bedeutung des Körpers kam, Karl Barth, weil er nicht nur ebenfalls zu keiner produktiven Deutung der Dimension des Körperlichen kommen konnte, sondern auch deswegen, weil sich seine schroffe Trennung letztlich nicht durchhalten ließ und an ihre Stelle entweder eine schwer kontrollierbare Vermittlung über den Geist am Ort des Einzelnen tritt oder aber eine Einholung des Einzelnen durch die ihn kontrollierende Kirche.

Beide Probleme versuchte Dietrich Bonhoeffer zu lösen, indem er vom Inkarnationsgedanken aus von einer besonderen Achtung für die natürliche Wirklichkeit sprach: „So gibt es das Christliche nicht anders als im Weltlichen, das >Übernatürliche< nur im >Natürlichen<, das Heilige nur im Profanen, das Offenbarungsmäßige nur im Vernünftigen.“5 Allerdings führt diese Position – auch wenn sie interessante Aspekte beinhaltet, zu neuen Fragen, nämlich zur Frage, wie sich diese Sicht der Wirklichkeit zu der empirisch wahrnehmbaren Wirklichkeit verhalten könne. Eben diese Frage ist es auch, die hinführt auf eine, vielleicht sogar auf die Grundfrage der Theologie der Gegenwart, dem Verhältnis nämlich von Schöpfungsglaube und Naturwissenschaft. Diese Frage hat viele Facetten, die ich hier nur anreißen möchte, weil ich diese Grundfrage hier nun – Taylor im Rücken – enger fassen und auf die Ethik zuspitzen will.

Eine Grundfrage ist es, weil sich die Diochotomie, die von der Erkenntnis der Welt als Schöpfung und der Erkenntnis der Welt in der Perspektive der Naturwissenschaft spricht, als zunehmend unbefriedigend erweist. Denn die theologische Rede von der Schöpfung kann weder an die Stelle naturwissenschaftlich-empirischer Welterklärung treten, noch darf sie in einen Gegensatz zu ihr gebracht werden. Die Schöpfungslehre ist vielmehr an die naturwissenschaftliche Sicht der Welt und des Menschen verwiesen; hier wird das Wissen generiert, das die Erfahrungen von Menschen bestimmt und deren Deutung in der Schöpfungstheologie geleistet werden muss. Umgekehrt aber sind aus einer theologischen Perspektive auch alle Versuche zurückzuweisen, die aus der naturwissenschaftlichempirischen Weltwahrnehmung bereits die Kategorien zu deren Deutung entnehmen möchten. Insofern sind weder eine triumphalistische Überlegenheitsrhetorik gegenüber der Naturwissenschaft, noch eine apologetisch-defensive Rückzugsstrategie sachgerecht.

Während Erstere lange Zeit von den Vertretern der ersten Fakultät gepflegt wurde und auch noch das Denken einiger Vertreter der Dialektischen Theologie bestimmte, begegnet Letztere heute häufig in den an Friedrich Schleiermacher anknüpfenden Theoriemodellen, die Schöpfung strikt von jedem Anspruch der Welterklärung abheben und als einen innerlichen, fast spiritualistischen Akt der Selbstdeutung profilieren, ohne freilich deren Anschlussfähigkeit an das naturwissenschaftliche Denken noch als Herausforderung zu empfinden. Edmund Schlink hat hier durchaus zutreffend von einem „Doketismus in der Schöpfungslehre“ gesprochen.6 Eine solche Rückzugsstrategie liegt auch dort vor, wo Gott vorschnell als Urheber des Urknalls und als Prinzip der Evolutionsprozesse dargestellt wird. Denn hier wird im Grunde nur die alttestamentliche Schöpfungserzählung aktualisierend fortgeschrieben: An die Stelle der Wissenschaftskenntnisse der Babylonier treten nun Astrophysik und Evolutionstheorie, ohne dass es zu einer vertieften Auseinandersetzung zwischen theologischen und nicht-theologischen Zugängen zur Wirklichkeit kommt. Gerade als Deutung muss sich die Rede von der Schöpfung auf die gegenwärtig wahrgenommene Welt beziehen, und dazu gehört es, die naturwissenschaftlichen Theoriemodelle in ihrem Eigensinn und auch in ihrer Abweichung zur traditionellen christlichen Vorstellung ernst zu nehmen.

Die beiden Bezugspunkte der theologischen Rede von Schöpfung, die Anschlussfähigkeit an die Wirklichkeitssicht der empirischen und gleichzeitig deren deutendinterpretierende Strukturierung durch transempirische Kategorien bedingen es, dass die theologische Lehrbildung zum Topos der Schöpfung in demselben Maße sensibel auf modernitätsspezifische Veränderungsprozesse reagieren muss, wie sie gleichzeitig auch ein Widerlager gegen eben diese Veränderungen aufzubieten hat. Denn sosehr auf der einen Seite eine beständige Anpassung der Lehrbildung an die sich verändernde Gegenwartswahrnehmung zu leisten ist, so sehr verlangen auf der anderen Seite Deutung und Orientierungsbildung nach einer Konstanz der Interpretationskategorien. Das Bemühen, Veränderung und Konstanz zusammenzudenken, stellt daher einen wichtigen hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis der Schöpfungstheologie dar. Sowohl die dogmatischen als auch die ethischen Traditionsbestände der Schöpfungslehre sind durch diese Komplementarität bestimmt: Im Gegenüber von creatio ex nihilo und creatio continua kommen Veränderung und Konstanz ebenso zum Ausdruck wie, im Blick auf die Ethik, in der Komplementarität der Rede von der dem Menschen als Geschöpf Gottes eignenden Würde, die seinen Auftrag und seine Fähigkeit zur Weltveränderung und zur Weltgestaltung begründet, und den Schöpfungsordnungen, die mit ihrer spezifischen Kombination von naturalen und sozialen Faktoren zugleich Grenzen dieses an den Menschen ergangenen Gestaltungsauftrags definieren.

Diese Struktur lässt sich nun für die Ethik in folgende Frage kleiden: Wie lässt sich beides zugleich aussagen, die Hochschätzung der Leiblichkeit und eine Sensibilität für die naturalen Grundlagen unserer Existenz auf der einen, die Freiheit und der Gestaltungsspielraum gegenüber den biologischen Determinanten auf der anderen Seite? Ein Blick in die abendländische Tradition zeigt, wie sehr sich die Koordinaten für die Einordnung dieses Problems verschoben haben. Sie zeigt aber auch, wie unsicher und schwankend die abendländische Tradition sich seit den Anfängen des Christentums in dieser Sache verhalten hat: Aus seiner Umwelt sickerte die Unterscheidung von Fleisch und Geist in die Lehrbildung des Christentums ein, verbunden mit der Überordnung des Geistes über das Fleisch. Das „Fleisch“, die Leiblichkeit des Menschen, wird zum Zeichen seiner Sündhaftigkeit und Vergänglichkeit. Es muss vom „Geist“, Ausdruck der Gottesbeziehung und der Reinheit, kontrolliert werden. Diese Abwertung des Leibes, die gerade mit Blick auf die Sexualität zu einer klaren Leibfeindlichkeit gesteigert werden konnte, wurde freilich überlagert und konterkariert durch die ebenfalls aus der Umwelt übernommene Ausrichtung der ethischen Normen am Naturrecht: Nun sind es unter dem Leitprinzip des „agere sequitur esse“ gerade die natürlichen Merkmale, die den Maßstab des Handelns vorgeben. Prominentestes Beispiel hierfür ist das Geschlechterverhältnis, bei dem die Unterordnung der Frau unter den Mann aus vermeintlich natürlichen Eigenschaften gefolgert wurde.

Wie schwierig, wie ambivalent auch die Justierung zwischen der Ausrichtung an den naturalen Grundlagen und der Ablehnung eines solchen Vorgehens sein kann, wie sehr also Charles Taylor mit seiner Einschätzung im Recht sein dürfte, wird deutlich, wenn man aktuelle bioethische Debatten unter dieser Fragestellung betrachtet. Dann wird nämlich deutlich, dass nach wie vor beide Elemente in der Diskussion zu finden sind und zugleich in ihrer unterschiedlichen Zuordnung die jeweilige Positionsbestimmung steuern: So ist der Emanzipationsdiskurs der 1960er-Jahre, der zu einer umfassenden Revision der bis dahin vorherrschenden Normen im Bereich des Zusammenlebens der Geschlechter führt, maßgeblich davon getragen, der Zurückdrängung der Körperlichkeit und damit auch der Triebhaftigkeit in der christlichen Tradition entgegenzutreten. Im Hintergrund steht dabei eine Umstellung im Verständnis des Natürlichen: Dieses wird nun nicht mehr als der Gegensatz zum Sittlichen verstanden, sondern umgekehrt muss sich das Sittliche daran messen lassen, ob es mit dem Erleben der eigenen Leiblichkeit kompatibel ist. Besonders deutlich wird dies in der Neubewertung der Homosexualität, bei der die körperliche Verfasstheit, nicht die kulturelle Norm zur Grundlage wird. Flankiert wird diese Entwicklung durch die nun aufkommende ökologische Bewegung, die sich parallel anschickt, die naturalen Grundlagen zum Referenzpunkt sittlicher Urteilsbildung zu erheben. Schon hier sieht man allerdings die Doppelstämmigkeit des Natur-Arguments, das bereits die abendländische Naturrechtstradition prägte: Denn das Naturrecht konnte nicht nur, wie zumeist im kirchlich-theologischen Kontext, konservativ ausgelegt werden, sondern auch emanzipativ: In dieser Perspektive tritt es über die Vorstellung, alle Menschen seien von Natur aus gleich und darum auch gleichberechtigt zu behandeln, den traditionellen, hierarchischen gesellschaftlichen Ordnungsmustern entgegen. Vergleicht man nun den Rekurs auf die naturalen Grundlagen im Zusammenhang der Revision der Geschlechterverhältnisse und in dem Ökologiediskurs, dann lässt sich dieser unterschiedliche Gebrauch erneut identifizieren. Die Diffusität der Problemlage wird allerdings erst vollständig deutlich, wenn man ein weiteres Element hinzunimmt, nämlich das ebenfalls in dieser Zeit rapide steigende Bewusstsein für die kulturelle Prägung und damit auch die Formbarkeit sittlicher Urteile. Die Differenzierung von sex und gender ist für diesen Prozess besonders aufschlussreich: Geschlecht erscheint nun nicht mehr als eine biologische Kategorie, sondern in der gegebenen Allgemeinheit als eine kulturelle Konstruktion.

Führt man sich diese Entwicklung vor Augen, dann zeichnet sich ab, dass die prägenden Veränderungen für die Orientierungsfindung im Bereich der Bioethik weder als Biologisierung bzw. Naturalisierung, noch als Kulturalisierung adäquat beschrieben werden können. Vielmehr werden beide in Dienst genommen für die entscheidende Modifikation der Gegenwart: Nun wird die Einzigartigkeit konkreter Individuen in den Mittelpunkt gerückt. Die maßgebliche Verschiebung in der Bedeutung, die dem Körper und damit den naturalen Grundlagen der Lebensführung zugemessen wird, dürfte dementsprechend in der strikten Individualität der Körperbeziehung liegen: Anders als im Naturrecht, anders auch als in der Verwendung des Natur-Arguments in der Ökologiedebatte ist es die Einzigartigkeit des eigenen Körpers, die nun in den Mittelpunkt gerückt wird. Die Dekonstruktion der kulturellen Prägungen dient demselben Ziel: Auch hier gilt es, die Einzigartigkeit des Individuums als Referenzpunkt festzuhalten.

Die Folge dieser Entwicklung ist eine Konzentration ethischer und politischer Fragen auf die Ermöglichung von Selbstbestimmung. Aber der Rekurs auf die Einzigartigkeit wirft die Frage auf, wie hier Vorstellungen vom gemeinsamen guten Leben entwickelt werden sollen. Dies gilt umso mehr, als mit dem Rückgriff auf den eigenen Körper als Referenzpunkt für die Legitimation sittlicher Normen natürlich auch die Abhängigkeit von den verschiedenen Lebensstadien unabdingbar gegeben ist. Gerade hinsichtlich einer Ethik des Alterns sind solche Überlegungen von Interesse. Nimmt man die im eigenen Körpererleben begründete Individualität ernst, so kann es keine Ethik geben, die sich an einem fixen Menschenbild orientiert, sondern nur eine Ausrichtung an den individuellen Bedürfnissen. Das Bundesverfassungsgericht ist mit seinem Urteil zum assistierten Suizid dieser Linie gefolgt.

So sympathisch eine solche Sicht ist, weil sie der aus der Erfahrung totalitärer Herrschaft erwachsenen Hochschätzung des Einzelnen entspricht, so sehr zeigen sich doch bei näherer Betrachtung auch die Schwierigkeiten: Gerade im Bereich der Bioethik bleibt ein normatives Konzept des Normalen, bleibt also ein überindividueller Bezugspunkt der Körperlichkeit unverzichtbar, und zwar dann, wenn es um die Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit geht. Die Kritik an dem eben erwähnten Urteil des Bundesverfassungsgerichts, die ein Recht auf assistierten Suizid auch schon bei Liebeskummer eines Heranwachsenden annehmen wollte, mag überzogen sein, verweist aber dennoch genau auf dieses Problem. Denn auch wenn mit Recht von verschiedenen Autoren darauf hingewiesen wurde, dass ein rein naturalistisches Verständnis von Krankheit und Gesundheit unzureichend ist und stattdessen beide als eine Kombination biologischer, psychischer und sozialer Faktoren verstanden werden müssten, dass vor allem die Erste-Person-Perspektive bei der Bestimmung von Krankheit und Gesundheit nicht ausgeblendet werden dürfe7, bedarf es dennoch einer Kriteriologie, die es erlaubt, über die Zulässigkeit und das Geboten-Sein medizinischer Eingriffe zu entscheiden. Dabei ist das Feld derartiger medizinischer Maßnahmen weit zu fassen, es gilt sowohl für die Anti-Aging-Medizin und für die Fragen des Enhancements, als auch für die Problembereiche am Lebensanfang und am Lebensende. Und da die Zuschreibung der Krankenrolle immer auch eine gesellschaftliche Dimension beinhaltet – Kranke haben Anspruch auf Heilbehandlung (§ 27 I SGB V) und sind zugleich von bestimmten gesellschaftlichen Pflichten entbunden –, lässt sich der Kreis der Maßnahmen letztlich auf alle Formen medizinisch-professionellen Handelns am Patienten ausweiten. Nicht ohne Grund kennt darum das deutsche Recht das Zwei-Säulen-Prinzip für die Zulässigkeit medizinischer Interventionen: Solche Maßnahmen dürfen nur ausgeführt werden, wenn (1) eine vom Arzt festgestellte medizinische Indikation vorliegt und (2) der bzw. die Betroffene dieser Maßnahme seine informierte Zustimmung erteilt hat (informed consent). Wollte man auf eine solche an einer überindividuellen, biostatistischen Normen ausgerichtete Grenzziehung verzichten, so könnte der Wunsch nach medizinischer Therapie nicht begrenzt werden, weder am Anfang noch am Ende des Lebens. Gleichzeitig aber wäre es schwer, gesellschaftliche Unterstützung für ein nur subjektiv empfundenes Krankheitsbild einzufordern. Medizinische Unterstützung stünde dann in der Gefahr, von einem Anspruchsrecht zur Freiwilligkeit degradiert zu werden. Die hier aufgeworfenen Fragen werden derzeit in der Debatte um die Fortpflanzungsmedizin konkret: Unter welchen Umständen haben ungewollt Kinderlose Anspruch auf medizinische Unterstützung? Nur dann, wenn die körperlichen Voraussetzungen eines Paares grundsätzlich gegeben sind und lediglich aktuale Beeinträchtigungen Empfängnis und Geburt eines Kindes unmöglich machen? Oder auch dann, wo im Falle gleichgeschlechtlicher Partnerschaften diese Voraussetzungen eben nicht gegeben, aber durch Fortpflanzungsmedizin substituiert werden können? Und genügen im letztgenannten Fall das individuelle Recht auf Fortpflanzung und das subjektiv empfundene Leiden, oder müssen solche Leistungen von der sozialen Akzeptanz entsprechender Maßnahmen sowie der Lebensformen, die damit verbunden sind, getragen sein?

In dieser Debatte ist häufig darauf hingewiesen worden, dass – entgegen der Auffassungen, die mit der Figur des Naturrechts oder der Schöpfungsordnung argumentieren – die vorausgesetzten Normen als kulturelle Konstruktionen und damit zugleich auch als wandelbare Vorgaben betrachtet werden müssen. Insbesondere Judith Butlers frühe Arbeiten zum diskursiven und Macht repräsentierenden Charakter der Geschlechteridentität haben diesen Aspekt hervorgehoben8: Geschlecht, Identität, Subjekt und Körper haben keine naturale Grundlage, sondern kommen durch diskursive Praktiken zustande. In der daran anschließenden Diskussion ist allerdings – auch unter dem Eindruck gewisser Konzessionen in Butlers späteren Texten9 – hervorgehoben worden, dass eine solche Position Gefahr läuft, nach der Dekonstruktion des Subjekts keine Basis mehr bieten zu können für grundlegende Rechte, auch keine Basis mehr für den Widerstand gegen die Verletzung körperlicher Integrität. Zudem negiere eine solche Position des diskursiv hergestellten Körpers die nicht dekonstruierbaren weiblichen Besonderheiten von Schwangerschaft und Geburt. Statt sich, wie intendiert, der Emanzipation verpflichtet zu fühlen, leiste eine solche Theorie nur einem Machbarkeitswahn Vorschub, bei dem die menschliche Reproduktion selbst den Kräften der technischen Gestaltung und Normierung unterzogen werde. Dabei zeigt sich aber erneut die bereits angesprochene Ambivalenz eines Rekurses auf die naturalen Grundlagen unserer Existenz: Auf diese Weise kann nicht nur eine Norm begründet werden, die von den Einzelnen mit Blick auf ihre Lebensführung lediglich als Einschränkung individueller Freiheiten verstanden werden kann, sondern hier findet sich auch die Grundlage für eine Opposition gegenüber der beschränkenden Macht gesellschaftlicher Verhältnisse.

Für die Ethik bedeutet das, einen Mittelweg zu suchen zwischen einer Position, die, wie der Hauptstrang kirchlicher Naturrechtsethik, die Individualität konkreter Personen unter eine allgemeine Norm zu fassen und darin beschränken wollte, und einer Position, die Natur und Körper als kulturelle Konstruktionen fasst und dabei selbst die emanzipativen Ziele in Gefahr zu bringen droht, für die sie sich eigentlich einsetzen wollte. Es gilt, wenn man so möchte, ebenso wenig einem ethischen Doketismus das Wort zu reden wie einer undifferenzierten Naturrechtsethik. Nur auf dieser Grundlage kann eine Sensibilität für die Einzigartigkeit, aber auch Verletzlichkeit von konkreten Personen erhalten und bestärkt werden. Dieser Mittelweg operiert mit einer schwach normativen Naturalität: Abweichungen, nicht zuletzt auch technisch assistierte Überwindungen dieser Naturalität sind nicht schon unter Verweis auf die Ordnung der Natur zurückzuweisen, sie sind aber begründungspflichtig. Dabei wächst die Begründungspflicht mit dem Maß der Abweichung, weil mit der bewussten Abweichung, erst recht mit deren technischer Gestaltung auch eine höhere Verantwortlichkeit einhergeht: Verantwortung kann nur im Blick auf disponible, nicht durch die biologischen Grundlagen festgelegte Handlungen übernommen werden. Dass die Grenzen hier im Einzelnen schwer zu ziehen sind und immer wieder neu abgewogen werden müssen, sollte deutlich geworden sein. Der besondere Beitrag der christlichen Ethik liegt dabei in der Kategorie der Geschöpflichkeit, die genau im Zwischenraum naturaler Festlegung und kulturalistischer Verflüssigung angesiedelt ist.

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