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Wie nah lasse ich die Flüchtlinge an mich heran?
ОглавлениеRebekka Gohla
Es ist Mitte des Jahres 2015, und in den Nachrichten verfolge ich die aktuelle Lage. Immer mehr Menschen fliehen aus Ländern wie Syrien oder dem Iran, um dem Krieg zu entkommen. Eine Welle von Videos taucht in den sozialen Netzwerken auf. Darunter immer wieder Bilder von verzweifelten Müttern und Vätern, die ihre Kinder an der Hand halten oder auf dem Arm tragen.
Die Bilder sind zum aktuellen Zeitpunkt für niemanden mehr neu. Und ich könnte auch gar nicht sagen, wann die erste Flüchtlingswelle kam. Es kommt mir so vor, als sei es nie anders gewesen. Ich erinnere mich schon gar nicht mehr an die Zeit ohne die Massenquartiere in den Städten. Kein Wunder, immerhin sind Medien wie Fernsehen, Zeitungen und Radio vom Flüchtlingsdrama überflutet.
Ich fühle Mitleid mit den Menschen, die ihre Heimat verlassen haben. Wie muss das sein? Wie fühlt es sich an, seine Freunde, die eigene Familie und das geliebte Zuhause zu verlassen, ohne zu wissen, wann und wo man landen wird? Was wird den Neuankömmlingen durch den Kopf gehen? Vielleicht Fragen wie diese: Wie werden die Menschen in dem neuen Land sein? Wie kommuniziere ich mit ihnen, wenn wir doch nicht dieselbe Sprache sprechen? Wovon werden wir Lebensmittel und einen Schlafplatz bezahlen?
Im Fernsehen sehe ich Berichte über Schleuser, die Flüchtlinge in ihren Lastwagen mitnehmen. Diese Menschen ersticken mitten in Europa auf dem vermeintlichen Weg in die Freiheit. Ich sehe Polizisten, die an der Grenze ein Interview geben und erzählen, wie sie die Lastwagen vorfinden. Einer dieser LKWs hat in der Verkleidung lauter kleine Beulen, die nach außen hin ausgebuchtet sind.
„Hier müssen Menschen verzweifelt versucht haben, aus dem Wagen zu gelangen“, sagt der Sprecher.
Furchtbare Bilder. Oder das Bild von dem kleinen Jungen in seinem roten Shirt, der am Strand angespült wurde – ertrunken, liegen gelassen. Das Bild geht um die Welt. Empörungsschreie. Betroffenheit. Aber es ist weit weg, trotz allem. Ein anderes Video verbreitet sich so schnell und vehement über die sozialen Medien, dass ich es mir eines Tages auch anschaue. Das Hilfswerk „Samaritan‘s Purse“ hat dieses Video veröffentlicht. Es zeigt, wie Helfer dieser Organisation am Strand nach Flüchtlingsbooten Ausschau halten. Befindet sich ein Boot in der Nähe der Küste, helfen sie den Menschen sicher an den Strand zu gelangen. Sie tragen Kinder aus dem Wasser und stützen Menschen, die sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten können. Sie versorgen die Ankommenden medizinisch und geben ihnen Essen und Trinken. Sie kümmern sich um diese Menschen, die nicht nur äußere Verletzungen davongetragen haben, sondern auch innerlich schwer verwundet worden sind.
Ich sehe das Video an und muss weinen, weil ich mich frage, wie Gott sich wohlfühlt, wenn er die Not dieser Menschen sieht. Könnte ich dort helfen? Würde ich es schaffen, an der Küste auf Menschen zu warten, lebendige und tote, um sie in Empfang zu nehmen? Sicher bin ich mir nicht. Aber es passiert nicht in meinem Land, es passiert Hunderte oder sogar Tausende Kilometer weit weg. Betrifft es mich da? Kann ich überhaupt helfen?
Flüchtlinge in meiner Stadt
In einem Stadtteil in Mülheim an der Ruhr befindet sich das Lagerhaus von „Willkommen in Mülheim“. Diese Initiative erzählt eine echte Erfolgsgeschichte. Schon länger engagieren sich hier Privatmenschen, nehmen Kleiderspenden und Haushaltsartikel entgegen, sortieren sie und teilen sie dann an Flüchtlinge aus. Zu den Öffnungszeiten bilden sich stets Schlangen bis vor die Tür. Die Initiative spricht sich schnell herum, und so bringen immer mehr Menschen Spenden hierher. Eine weitere Besonderheit von „Willkommen in Mülheim“ ist sicherlich, dass hier Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen arbeiten. Vor allem die Flüchtlinge, die schon länger da sind und ein wenig Deutsch sprechen, sind eine große Hilfe. Sie können übersetzen, Fragen beantworten und vermitteln.
„Willkommen in Mülheim“ entstand bereits vor einigen Jahren. Der Gründer und Leiter des Vereins suchte damals via Facebook Spenden für eine Familie. Was sich daraus entwickelte, konnte zu dem Zeitpunkt noch keiner ahnen. Selbst von weit her bringen mittlerweile Menschen volle Autoladungen mit Kleidung, Hygieneartikeln, Spielsachen und Möbeln. Längst haben sogar einige Zeitungen und Fernsehsender bundesweit über die Initiative berichtet. Eine beeindruckende Arbeit, gestemmt von Ehrenamtlichen, denen die fremden Menschen am Herzen liegen. Wer hierherkommt, lernt schnell neue Menschen kennen und erfährt auch mehr über die Geschichten der Neuankömmlinge.
Direkt gegenüber dem Lagerhaus befindet sich das Gemeindehaus der Credo-Gemeinde, einer evangelischen Freikirche des Mülheimer Verbandes. Pastor Timm Oelkers und seine Frau wollten schon lange gerne mehr sozial-diakonisch arbeiten – am liebsten mit Menschen mit Migrationshintergrund. Doch der Stadtteil, in dem sich die Gemeinde befindet, ist der wohl gut betuchteste Stadtteil in Mülheim, mit einem geringen Ausländeranteil. Als „Willkommen in Mülheim“ sein Warenhaus ausgerechnet gegenüber eröffnet, scheint das perfekt zu passen. Und als dann im Winter die Wartenden in der Kälte stehen müssen, bis sie ins Lagerhaus können, entsteht die Idee eines Flüchtlingscafés.
„Im Sommer konnten die Menschen auf Plastikstühlen draußen warten und saßen dort, während die Kinder auf dem Hof spielten. Aber im Winter war es zu kalt für sie“, erzählt mir der Pastor.
Kurzerhand öffnet die Gemeinde jeden Samstagnachmittag ihre Türen. Mit ihrem Flüchtlingscafé bietet sie so eine Möglichkeit, in gemütlicher Atmosphäre einen Kaffee zu trinken, Gebäck und Obst zu essen und Kontakte zu knüpfen. Hier könnte ich helfen, in meiner Stadt.
An einem Samstag im Sommer gerate ich „zufällig“ mitten ins Flüchtlingscafé. Eigentlich wollen meine Freundinnen und ich nur schnell Flyer abgeben. Aber es werden dringend helfende Hände gesucht, und so bleiben wir.
Es ist ein wuseliger Nachmittag. Immer mehr arabische Familien kommen, nehmen sich Kaffee und Kuchen und lassen ihre Kinder währenddessen im Spielbereich spielen. Es ist laut, die Kinder rufen und lachen, die Männer unterhalten sich, und die Frauen versuchen, ihre Familien zusammenzuhalten. Ich stehe hinter der Theke und schneide Kuchen und Obst. Einer der Gäste spricht ein paar Brocken Deutsch und Englisch. So wird ein kurzes Gespräch möglich. Er ist schon ein paar Monate in Deutschland und wurde von der Stadt in einer Wohnung untergebracht, in der er mit anderen Flüchtlingen lebt. Er ist vor allem hier, um für seine Landsleute zu übersetzen.
Am Ende des Nachmittags kenne ich zwei Initiativen, bei denen ich mich engagieren könnte, um etwas für die Flüchtlinge zu tun. Aber wie nah will ich sie an mich heranlassen?
Als ich ein paar Tage später im Auto sitze und im Lokalradio die Nachrichten höre, erklärt der Sprecher, dass noch in dieser Woche bis zu 150 Menschen in ein Erstaufnahmelager in einer Sporthalle einziehen werden. Gemeinsam mit drei Freundinnen überlege ich, wie wir den Menschen am besten helfen können.
Die Flüchtlinge kommen von der ersten Registrierung in Dortmund mit Bussen in unsere Stadt, und als sie aussteigen, haben sie all das bei sich, was ihnen noch gehört – das ist meist nur die Kleidung, die sie am Körper tragen. Meine Freundinnen und ich möchten gerne in irgendeiner Form helfen. Durch den Verein „Willkommen in Mülheim“ sind die Menschen mit Kleidung und Hygieneartikeln versorgt, sodass wir überlegen, an einer anderen Stelle anzusetzen: Wenn wir Spielsachen mitnehmen und Bastelmaterial, könnten wir den Kindern etwas Abwechslung bieten. Ein Programm oder feste Aktionen gibt es im Quartier nicht. Die Credo-Gemeinde hat bereits Kontakte zur Leitung des Erstaufnahmelagers geknüpft, sodass wir uns mit einigen ehrenamtlichen Helfern verabreden und gemeinsam mit ihnen ein Spiele-Angebot ausarbeiten.
An einem sonnigen Nachmittag ist es so weit. Vor dem Quartier treffe ich mich mit einigen anderen Helfern. Wir haben Spiele und Bastelsachen dabei, um mit den Kindern auf dem Schulgelände, auf dem die Turnhalle steht, zu spielen. Im Massenquartier angekommen, begrüßen uns Mitarbeiter der Johanniter Unfallhilfe. Sie leiten das Quartier gemeinsam mit dem Deutschen Roten Kreuz. Innerhalb von Stunden haben sie in dieser Woche Betten aufgebaut und mit Bauzäunen Parzellen abgetrennt, damit die Menschen wenigstens einen Hauch von Privatsphäre haben. Es ist ruhig – fast so, als seien die Menschen noch gar nicht da. Der hintere Bereich des Schulhofs ist voll mit großen Zelten. Eines zum Essen, eines als Aufenthaltsraum und eines für Gebete. Eine der Frauen aus unserer Gruppe spricht ein wenig Arabisch. Das macht den Anfang leichter. Wir gehen durch die Turnhalle und laden die Kinder ein, mit uns zu kommen.
Den Nachmittag verbringen wir mit den Kindern und ihren Müttern. Eine von ihnen ist mit Drillingen schwanger. Wie es wohl sein muss, so eine beschwerliche Reise zu machen, während man nicht nur die eigenen Kinder an der Hand hat, sondern auch die Verantwortung für drei kleine Wesen in seinem Körper? Wir hören von der abenteuerlichen und gefährlichen Reise einer anderen Familie. Sie sind drei Tage und drei Nächte in einem Lastwagen mitgefahren, haben nur Bananen gehabt, die sie den Kindern und ihrem Baby zu essen geben konnten. Am Ende der Reise setzte der Fahrer sie an einer Hauptstraße ab und fuhr weiter. Erst an einer Tankstelle erfuhren sie, in welchem Teil des Landes sie sich aufhielten. Diese Geschichten klingen wie aus einem falschen Film. Wie können diese Menschen vor uns tatsächlich solche Dinge erlebt haben?
Wir verständigen uns mit Händen und Füßen. Einer der Bewohner spricht Italienisch, sodass sich eine von uns mit ihm unterhalten kann. Alles andere läuft über Zeichen und viel Lachen. Die Menschen sind unheimlich wissbegierig und reden alles nach, was sie an deutschen Worten aufschnappen. Sie zeigen auf den Stift oder die Schere, auf den Ball und das Springseil und wollen wissen, wie all diese Dinge heißen. Ein Junge kommt angelaufen und möchte Seilspringen. Bei jeder Umdrehung zählt er auf Deutsch, bis er nach der Zwölf nicht mehr weiterweiß.
Ich sitze in einem der Zelte neben einer Jugendlichen. Ihr Name ist Ania (Name geändert), und sie überrascht mich, denn sie spricht gut Englisch. Das habe ich nicht erwartet. Wir unterhalten uns, und sie erzählt mir etwas über ihre Familie.
„Ich bin mit meiner Mutter und meinem Bruder hierhergekommen“, erzählt sie. „Mein Vater musste in Albanien bleiben.“
Während wir reden, setzen sich ihre Mutter und ihr Bruder zu uns. Plötzlich beginnt Ania zu weinen.
„Ich möchte einfach nur in Freiheit leben. Ich möchte frei sein und Ärztin werden. Das ist mein größter Wunsch. Dann kann ich auch Menschen helfen.“
Sie sieht zu ihrer Mutter herüber. Auch sie weint jetzt. Ich nehme Ania in den Arm und lege meine andere Hand auf den Arm ihrer Mutter. Mir ist mehr als bewusst, dass ich ihnen nicht helfen kann. Ich kann ihre Situation nicht verändern und auch nicht dafür sorgen, dass sie bleiben können. Wenn ich ein Wort für sie einlegen könnte, würde ich das tun. Aber ich wüsste nicht einmal, wo! Also sitze ich einfach bei ihnen am Tisch und versuche da zu sein, zu trösten, mitzufühlen. Ihre Mutter spricht kein Englisch.
„Ania, kannst du deiner Mama übersetzen, dass ich es schön finde, euch kennenzulernen?“, bitte ich die 17-Jährige.
Sie übersetzt diesen einfachen Satz für ihre Mutter, und diese antwortet mir auf Albanisch. Ania dolmetscht: „Wir haben Angst, dass wir zurückmüssen. Wir wissen nicht, was mit uns passiert und wie es weitergeht – aber wir haben Angst, dass alles umsonst war und wir nicht bleiben dürfen.“
In diesem Moment fehlen mir die Worte. Denn ich weiß sehr genau, dass nur 0,03 Prozent der Menschen aus diesen „sicheren“ Staaten bleiben dürfen. Die Bleibechancen, um ihren Traum von einem Leben in Deutschland zu verwirklichen, sind verschwindend gering. Umso schwerer ist es, nun die richtigen Worte zu finden. Es ist nicht meine Aufgabe, sie über diese Fakten aufzuklären, und so sitzen wir weiterhin zusammen und sprechen miteinander.
Die Flüchtlingsströme nehmen in einem Ausmaß zu, das sich niemand so vorgestellt hätte. Recht schnell zeigen sich erste große Schwierigkeiten. Die Situation im Land und in der Politik scheint unübersichtlich. Die Neuankömmlinge im Massenquartier wechseln alle drei Wochen und werden auf andere Flüchtlingsquartiere verteilt. Mittlerweile hat sich ein fester Stamm an Helfern entwickelt, die an zwei Nachmittagen in der Woche ins Quartier fahren. Seifenblasen, Springseil, Bälle, Notizblöcke und Bastelmaterialien werden zum ständigen Begleiter. Die Familien sind nach wie vor sehr dankbar über die Abwechslung, die ihnen etwas von ihrer Langeweile nimmt. Aber auch die hauptamtlichen Helfer versuchen, sich Zeit zu nehmen, und üben mit den Bewohnern auf Zeit ein paar Worte Deutsch. Das Gespräch mit der Familie aber, die Angst vor einer Abweisung hat, hängt mir noch lange nach. Erst auf dem Rückweg nach Hause merke ich, wie anstrengend diese Begegnungen waren. Anstrengend, weil so viele neue Reize auf mich eingeströmt sind und weil es schwer ist, eine emotionale Distanz zu halten, wenn die Schicksale der Menschen so real werden.
Die Flüchtlinge in meiner Gemeinde
Im ganzen Land kommen täglich immer neue Flüchtlinge an. Auch bei uns in der Stadt entstehen mehr Wohnräume für sie. Kleine Dörfer aus Containern und Holzhütten werden geplant und aufgebaut. In dieser Zeit passieren viele Dinge parallel. Einige dieser Arbeiten laufen bereits länger, andere entstehen kurzfristig. Schnell zeigt sich, dass auch unsere Gemeinde vor neuen Herausforderungen steht. Es ist klar, dass wir als Christen mit von der Partie sein wollen, wenn es darum geht, den Menschen zu helfen, die hier Zuflucht suchen.
Eines Tages stehen einige junge Männer vor der Tür meines Gemeindehauses und klingeln. Sie suchen nicht speziell Hilfe, sondern möchten Kontakte knüpfen. Sie sind erst seit ein paar Tagen in einem großen Wohnhaus in der Nähe der Gemeinde untergebracht. Hier leben sie immer zu viert in einer Wohnung – wie eine multikulturelle WG.
Mit der Zeit finden immer mehr Menschen den Weg in unsere Gemeinde. Klar, dass die Flüchtlinge Deutsch lernen müssen, um hier leben und sich integrieren zu können. Die Sprachkurse der Volkshochschule und anderer Anbieter sind überfüllt. Es fehlt an Lehrkräften, um den Bedarf komplett abzudecken. Deshalb entscheidet unsere Gemeinde, Deutschkurse anzubieten. Im Internet gibt es hilfreiches Material im Bereich „Deutsch als Zweitsprache“ oder „Deutsch für Migranten“. Im Gemeindehaus können die Flüchtlinge an mehreren Tagen pro Woche an Computern lernen. Immer sind ehrenamtliche Helfer anwesend, die als Lehrer einspringen. Auch Nichtgemeindemitglieder engagieren sich in diesen Kursen. Sie wollen helfen und so Teil dieser Arbeit werden.
Ein paar Monate später melden sich einige der Kursbesucher zur Taufe an. Sie sind gekommen, um Hilfe zu suchen, haben Fragen im Gepäck und wollen mehr über Gott und Jesus wissen. Ihr traditioneller Glaube hat ihnen nicht den Halt in ihrem Leben gegeben, den sie gesucht haben. Teilweise wurden sie sogar ihres Glaubens wegen aus ihrer Heimat vertrieben. Und so entscheiden sich ganze Familien für Gott. Die Freude ist groß, und es wird ein bunter Gottesdienst, in dem sie Zeugnis von dem geben, was sie mit Gott erleben. Ich spüre neben der Freude aber auch meine Zweifel und Ängste. Ich habe von anderen gehört, dass sich viele Menschen aus den arabischen Ländern auch deshalb taufen lassen, weil sie dann als religiös verfolgt gelten und nicht mehr abgeschoben werden können. Sind die Motive dieser Menschen, die sich taufen lassen wollen, echt, oder suchen sie eine Möglichkeit, bleiben zu dürfen?
Ich denke über diese Frage nach und komme schnell zu dem Schluss, dass es nicht in meinem Ermessen liegt, das zu beurteilen. Gott sieht jeden von uns, und er weiß, wie es in unserem Inneren aussieht. Aber manchmal spüre ich auch meine Angst. Wenn Muslime zum Christentum konvertieren, sind sie der Gefahr ausgesetzt, von Freunden oder Familie drangsaliert zu werden. Immer wieder habe ich von Christen gehört, die als ehemalige Muslime ihre Familien und ihr Land verlassen mussten, weil diese ihnen mit dem Tode drohten. Was, wenn die Familien davon hören? Wie werden sie reagieren? Werden wir als Gemeinde eines Tages dadurch Schwierigkeiten haben?
Diese Gedanken gehen mir immer wieder durch den Kopf und werden für mich zur Herausforderung, wenn ich den Gästen und neuen Mitgliedern der Gemeinde offen begegnen will. Gleichzeitig muss ich lernen, mit meiner Skepsis umzugehen. Ich glaube aber auch, dass es ein großes Privileg ist, als Gemeinde auch solche Taufen zu erleben, bei denen sich ehemalige Muslime oder eben anders Glaubende Jesus zuwenden. Das ist es, was ich versuche in meinen Gedanken überwiegen zu lassen.
Gerade in einer großen Gemeinde wie meiner ist es aber leicht, den Menschen aus dem Weg zu gehen. Die Flüchtlinge sind in meiner Gemeinde – aber wie nah lasse ich sie wirklich an mich heran?
Der Fremde auf meinem Sofa
Im Internet lese ich von Mandy. Sie ist Bloggerin und lässt täglich viele Leser über Facebook und auf ihrer Homepage an ihren Erlebnissen und Gedanken teilhaben. So erfahre ich, dass sie und ihr Mann Flüchtlinge bei sich aufnehmen und ihnen für ein oder zwei Nächte einen Schlafplatz anbieten. Das finde ich spannend, und so stelle ich ihr meine Fragen, weil mich nun doch interessiert, wie das so ist!
In Berlin, vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales, stehen die Neuankömmlinge mitunter mehrere Wochen Tag für Tag an, um sich registrieren zu lassen. Zwar werden viele von ihnen in Bussen zu anderen Quartieren gebracht, aber einige finden keinen Platz mehr im Bus. Sie müssen bis zum nächsten Tag warten – immer in der Hoffnung, dass dieser Tag eine Registrierung und somit auch eine Unterkunft für sie mit sich bringt. Es ist Ende November, und die Nächte sind eisig kalt.
Mandy kommt immer wieder an diesem Ort vorbei, und sie merkt bald, dass es ihr abends auf ihrem Sofa immer schwerer fällt, in Ruhe den Abend zu genießen, während draußen in der Kälte Menschen mit Temperaturen um den Gefrierpunkt zu kämpfen haben. Sie erkundigt sich, wie sie helfen kann, und kommt so über eine Facebook-Gruppe auf eine Webseite, auf der sie ihr Sofa anmeldet. Ein Gästezimmer hat sie nicht, aber das Sofa reicht völlig. Das ist keine Lösung auf Dauer, aber für kurze Zeit ist das in Ordnung. Mandy und ihr Mann sind Christen und versuchen zu helfen, wo sie können. Allerdings sind sie nicht der Meinung, dass es speziell für uns Christen wichtig ist, zu helfen.
„Ich habe als Christ keine besondere Verantwortung. Jeder Mensch hat die Verantwortung für sein Leben und das der Menschen um ihn herum“, sagt Mandy.
Für sie steht dabei die Menschlichkeit im Fokus, aber vielleicht hat sie als Christin, die Gottes Liebe in ihrem Leben erlebt, mehr zu geben?! Dennoch frage ich mich, wie die beiden die Zeit mit den ausländischen Gästen erleben.
„Mit Brahim aus Syrien haben wir einen Apfelkuchen gebacken, Pizza gemacht, mein Mann war mit ihm beim Angeln, ich habe mit ihm Tischtennis gespielt, und wir saßen gemeinsam vor dem Kamin.“ Mit diesen Worten gibt Mandy einen Einblick in diese Begegnungen.
Meist wollen ihre Gäste sich im Warmen ausruhen, schlafen und duschen. Mittlerweile waren mehrere Gäste nach und nach über Nacht bei ihnen zu Besuch, und noch immer stehen sie vor kleineren oder größeren Herausforderungen. Das beginnt schon beim Frühstück. Was essen Menschen aus Syrien oder dem Iran zum Frühstück? Wenn sie das deutsche Müsli nicht wollen – liegt das dann am Müsli? Es klingt nach vielen spannenden Erlebnissen, die bei solchen Übernachtungsbesuchen entstehen.
Mandy erhält aber auch Anfeindungen. Im Internet liest sie immer wieder hässliche Botschaften von Menschen, die ihr unterstellen, mit den Flüchtlingen auch den IS in ihr Haus zu holen. Dies tut ihrer Hilfsbereitschaft allerdings keinen Abbruch. Sie hat eine weitere Idee, wie man helfen kann. Im Internet können Schlafsäcke und Isomatten bestellt werden. Viele Gleichgesinnte beteiligten sich schon an dieser Idee, und so lieferten ihr die Postboten mehrere Wagenladungen. Diese verteilte Mandy Abend für Abend vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales. An jedem Schlafsack steckte ein Zettel, auf dem in verschiedenen Sprachen zu lesen ist, dass dies ein Geschenk von mitfühlenden Menschen ist.
„Viele dieser Leute sind Christen und glauben, dass Gott dich unendlich liebt. Wir hoffen, dass der Sack dich warm hält und dir ein wenig hilft, durch diese kalte, harte Zeit zu kommen“, steht beispielsweise darauf. Wer seinen Schlafsack nicht mehr benötigt, kann ihn an andere Menschen weitergeben, die noch keinen Schlafplatz im Warmen erhalten haben. Eine weitere Aktion, an der sich jeder ganz praktisch und leicht beteiligen kann.
Wie nah lasse ich die Flüchtlinge nun tatsächlich an mich heran? Die Nächte auf dem Sofa kommen für mich nicht infrage. Es klingt toll, was Mandy und ihr Mann erleben, und es sind sicherlich viele bereichernde Begegnungen. Aber ich wohne alleine, und da halte ich das Einquartieren von Männern bei mir zu Hause für wenig klug.
Ich habe in den letzten Monaten auch immer mal mit dem Gedanken gespielt, hauptamtlich mit Flüchtlingen zu arbeiten. Ich könnte meinen Arbeitsplatz aufgeben, um in einem Massenquartier als Sozialarbeiterin tätig zu sein. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, weil ich auf Dauer mit der Belastung und den Geschichten und Schicksalen der Menschen emotional wahrscheinlich nicht umgehen könnte.
Manche Familien haben es auf dem Herzen, Kinder, die alleine gekommen sind, aufzunehmen. Für andere kommt das nicht infrage. Für manche bedeutet Flüchtlingshilfe, im Café der Gemeinde zu helfen, Kleidung zu spenden oder Deutsch zu unterrichten. Vielleicht laden meine Freundinnen und ich ja irgendwann mal eine junge Frau zum Essen ein. Wie nah wir die Flüchtlinge in unser Leben lassen, muss letztendlich jeder für sich selbst entscheiden. Wer sich allerdings in der Bibel mit den Themen „Fremdlinge“, „Hilfsbereitschaft“ und „Gastfreundschaft“ auseinandersetzt, weiß, dass es nicht allein meine menschliche Entscheidung sein kann, die darüber bestimmt, wie ich den Flüchtlingen in meinem Umfeld begegne.