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Es begann mit einem „Shereve!“

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Frank Bonkowski

Wie lernt man eigentlich einen Flüchtling kennen?

Seit ein paar Jahren kommen bei uns Syrer in den Gottesdienst. Seitdem wird bei uns viel gelächelt. Das ist gleichzeitig nett, hat aber auch immer so etwas leicht peinlich Berührtes.

Manchmal gibt es einen, der ein bisschen Englisch kann, aber so sehr man sich auch bemüht, Kommunikation ist erst mal einfach nur mühsam, wenn man so gar keine gemeinsame Sprache hat. Wer dann noch schüchtern ist, der ist komplett außen vor.

Vielleicht hilft ja diese Geschichte. Ende September 2015 ist Samir zum ersten Mal bei uns im Gottesdienst. Durch einen anderen Syrer erfahren wir, dass er gerade in einem Nachbardorf untergekommen und ganz frisch in Deutschland ist. Ansonsten wieder viel von dem netten, peinlich berührten gemeinsamen Anlächeln.

Als wir später mit ein paar Leuten zum Mittagessen in ein Oktoberfestzelt fahren wollen – die gibt es tatsächlich auch im hohen Norden –, sehen wir ihn, wie er zu Fuß nach Hause läuft. Wir halten an, lächeln, machen das universell übliche Zeichen für Essen, und Samir steigt ins Auto.

Zum Glück gibt es im Oktoberfestzelt Bilder. Ich zeige auf eine nett gemalte Schweinshaxe, mein Gast lächelt und hebt den Daumen. Gott sei Dank für dieses allgemein gültige Zeichen. Dann zeige ich auf ein Bild von einem enorm großen Bierglas, es folgt ein enorm großes Lächeln auf Samirs Gesicht. Das wäre geklärt. Unser neuer Freund isst Schwein und trinkt Bier.

Als die eingeflogene Bayrische Band das Festzelt zum Prosten auffordert, versuche ich meinem Mittrinker zu erklären, was hier gerade passiert: „Prost? Cheers? Salute? Skoll?“

Er grinst: „Shereve!“

An unserem Tisch sitzt auch noch eine junge Frau aus dem Iran. „Salam ati!“, ruft sie uns zu.

Wir ernten jetzt zwar einige komische, verwirrte Blicke, als unser Tisch nach jeder Schunkeleinlage „Shereve!“ und „Salam ati!“ brüllt, aber keiner hat so viel Spaß wie wir.

Irgendwann zückt Sammy, so heißt er inzwischen, weil das einfacher ist als Samir, sein Handy und zeigt mir ein Bild von seinem Baby, das er noch nie in den Armen gehalten hat, und von seiner Frau.

Wir kennen erst ein gemeinsames Wort, aber der erste Kontakt ist gemacht.

Zwei Wochen später bin ich bei meinem Freund Habib eingeladen, ein Deutschsyrer, der Sammy zum gemeinsamen Frühstück eingeladen hat, um ein Interview zu machen. Zum Schluss erzählt er mir, dass es am Abend für ein paar Neuankömmlinge Pasta geben wird.

„Ich versuche, meine Freunde an die europäische Küche zu gewöhnen“, meint er lachend.

„Super, wenn Sammy die Pasta mag, dann bring ihn Freitag zu mir, zum Pizzaessen. So gegen 19 Uhr“, antworte ich.

Das passiert dann auch. Ich war gerade nach Hause gekommen, es ist 17 Uhr, und Habib bringt Sammy vorbei. Genaue Zeiten werden im arabischen Raum etwas anders gehandhabt als bei uns. Ich bin alleine zu Hause, komme gerade vom Sport und wollte jetzt eigentlich duschen und die Küche vorbereiten.

Egal. Ich bitte Sammy mit einem Getränk an unseren Bistro-Tisch in der Küche. Wir lächeln, als ich anfange, die Küche ein bisschen aufzuräumen.

Aber irgendwie ist das blöd. Wir können uns doch jetzt nicht zwei Stunden lang lächelnd anschweigen, bis die anderen kommen.

Irgendwann kommt mir so eine Idee. Ich bitte meinen neuen Freund, mit mir zu meinem Laptop zu kommen. Auf google earth gebe ich „Homs“ ein. Ich weiß noch von unserem Interview, dass das seine Heimatstadt ist. Für die nächsten zehn Minuten gucken wir uns Bilder aus seiner Heimat an. Vor dem Krieg war das eine wunderschöne Stadt. Wir lächeln viel. Irgendwann zeigt er auf eine Kirche und dann auf sein Herz. Da ist er zur Kirche gegangen. Homs hat auch ganz viel Wasser, und es muss früher wunderschön gewesen sein, dort zu wohnen.

Als sich die Bilder nur noch wiederholen, gebe ich „Sechelt, BC“ ein. Die Stadt, in der ich fast 15 Jahre lang gewohnt habe und wo meine Kinder zur Welt gekommen sind. Wir finden die alte Kirche, in der ich früher gearbeitet habe, und nun zeige ich auf mein Herz. Wir sehen den Strand, an dem wir als Familie gespielt haben, und vieles mehr.

Als sich die Bilder wiederholen, suchen wir Bad Segeberg, das jetzt unsere gemeinsame Heimatstadt ist. Wir müssen beide lachen. Aber auch hier gibt es wunderschöne Ecken.

Als sich die Bilder wiederholen, gebe ich auf Englisch „Homs im Krieg“ an. Wir sehen kurze Videos, die uns zum Lachen bringen, wenn Bürger eine Sperre immer wieder wegschaffen, sobald das Militär verschwunden ist. Wenn wir zerbombte Stadtteile sehen, dann teilen wir ein paar Tränen.

Und irgendwann haben wir ganz viel miteinander geredet, obwohl sich unser gemeinsames Vokabular immer noch nicht entscheidend erweitert hat.

Am nächsten Tag bin ich in unserer arabischen Kirche zu Gast, und mein Freund Sammy und ich feiern gemeinsam Abendmahl. Wieder ganz viel Kommunikation ohne Worte.

Aus diesen Momenten entsteht Freundschaft, und aus dieser Freundschaft werden oft auch ganz tolle Programme. Hier ein paar Bespiele.

Es dauert manchmal Monate, um die offiziellen Sprachkurse zu bekommen, also gründeten wir einen inoffiziellen Deutschkurs.

Ich weiß von Sammy und den anderen, dass ihnen langweilig ist, also gründeten wir gemeinsame Kochkurse, auch eine Volleyballgruppe hat sich gebildet. Wir haben einen 44 Jahre alten Basar gegen einen internationalen Weihnachtsmarkt eingetauscht. Ein Ort der Begegnung, an dem wir gemeinsam feiern und arbeiten konnten. Und die Resonanz war überwältigend. Denn wir alle brauchen es, etwas für andere tun zu können.

Sammy wünschte sich nichts mehr, als seine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, damit die Familienzusammenführung in Angriff genommen werden kann. Mirko, ein Experte, hat sich bei uns gemeldet und kommt nun regelmäßig in unseren syrischen Gottesdienst mit dem anschließenden Café, um bei den Anträgen zu helfen. Seit wir Sammys Baby auf dem Handy gesehen haben, wussten wir, dass wir ihm in dieser Angelegenheit helfen müssen. Heute, während ich dies schreibe, ist Sammys Wunsch übrigens in Erfüllung gegangen: Er hat seine Aufenthaltsgenehmigung. Jetzt kann der nächste Schritt geplant werden, und natürlich wird Mirko wieder helfen, damit Sammy seine Frau und sein Baby hoffentlich bald in den Arm nehmen kann.

Ein weiteres Beispiel zeigt vielleicht, warum es uns so wichtig ist, dass Programme organisch aus Beziehungen entstehen.

Es gibt in unserer Gemeinde seit Kurzem einen Kleidermarkt für Flüchtlinge. Ein paar nette deutsche Damen haben sich sofort freiwillig gemeldet, weil sie gerne mit den netten syrischen Frauen zusammenarbeiten wollten. Die Aktion ist daran gescheitert, dass die netten syrischen Frauen Angst vor den netten, effektiven deutschen Frauen hatten. Diese Reaktion stieß auf Unverständnis, konnte in diesem Fall aber schnell geklärt werden: Ein Araber wird dir dann vertrauen, wenn du bei ihm zu Hause zum Essen warst. Nicht wie man in unserer Kultur denken könnte, wenn ich etwas für ihn getan habe. In dieser Kultur sind Beziehung und Gastfreundschaft unglaublich wichtig.

Ich werde oft gefragt, ob ich unsere Programme erklären kann, für die wir hier in unserer Stadt in letzter Zeit einiges an Aufmerksamkeit bekommen haben. Meine Antwort ist dann immer: „Programme ohne die Beziehung wären irgendwie leblos, und es kann zu viel Frust führen, ein Programm nur auf die Beine zu stellen, weil das im Moment eben zum guten Ton gehört.“

Was würdest du dir wünschen, wenn du neu in einem fremden Land wärst? Programme oder Menschen, die dich mögen?

In diesem Sinne: „Shereve!“

Warum wir das schaffen müssen

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