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Eine Zeit des Krieges

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Eine Vorahnung von einem neuen Zeitalter war beileibe keine alleinige Angelegenheit von Thelema und The Book of the Law, sondern sie wurde in den Diskursen der okkulten und religiösen Bewegungen des Fin de Siècle insgesamt vertreten.20 Doch in den allermeisten esoterischen Spekulationen um ein Neues Zeitalter sah man dies als einen graduellen und friedlichen Prozess an. Gelehrte wie Wouter Hanegraaff haben beobachtet, dass der Okkultismus (oder die verweltlichte Esoterik) des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts unter anderem von den Einwirkungen des Positivismus und des Darwinschen Evolutionismus geprägt war, mit welchen oft der Glaube an eine persönliche Veränderung wie auch an einen gesellschaftlichen Wandel einherging.21 Der Fortschritt der Menschheit wurde als Ergebnis spiritueller Evolution betrachtet, als ein natürlicher Prozess, der zu einer sich stetig verbessernden und weiter entwickelnden Gesellschaft führen würde. Dennoch würde die bewusste Übertragung eines breiten Spektrums esoterischer Praktiken diesen Prozess beschleunigen helfen. Dieser Glaube, der vielerlei Gestalt annahm und sich auf verschiedene Weise ausdrückte, prägte einen mit Nachdruck geführten Diskurs im Okkultismus des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das Neue Zeitalter wurde gemeinhin auch astrologisch dahingehend definiert, dass das Zeitalter der Fische vom Zeitalter des Wassermanns abgelöst werde. Der daraus folgende Evolutionssprung in der Entwicklung der Menschheit wurde oft als Verkündung eines fundamentalen Wandels im Verständnis der Beziehung zwischen den Menschen und dem Universum geschildert. Dieser Gedanke gipfelte im Aufblühen der New-Age-Bewegung der 1960er und frühen 1970er Jahre, die im Zeitalter des Wassermanns die Verkörperung holistischer Prinzipien sah, die im Kontrast zum Dualismus standen, der das Zeitalter der Fische bestimmt hatte. Der Dualismus des vorangegangenen Zeitalters wurde für die Zwietracht und Streitigkeiten zwischen patriarchalen Religionssystemen wie dem Christentum und dem Islam verantwortlich gemacht, wohingegen das Neue Zeitalter von Frieden und Harmonie gekennzeichnet sein werde.22

Während Vertreter des Wassermannzeitalters den Übergang zwischen den Zeitaltern anscheinend als grundsätzlich harmonisch betrachtet haben und den Konflikt der Dualität langsam durch den Frieden der Einheit ersetzt sahen, wurde die Geburt des Neuen Zeitalters des Horus ganz anders beschrieben. The Book of the Law schildert den Übergang vom Alten zum Neuen Äon als von Krieg und Zerstörung gekennzeichnet. Crowley umreißt dieses im folgenden, offenbar prophetischen Abschnitt, von dem es heißt, dass Crowley ihn 1911 verfasst habe – drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges:

Es ist eine Magische Handlung von höchster Wichtigkeit: die Einleitung eines Neuen Zeitalters. Wenn es nötig wird, ein Wort auszusprechen, muss der ganze Planet in Blut gebadet sein. Bevor der Mensch bereit ist, das Gesetz von Thelema zu akzeptieren, muss der Große Krieg ausgefochten werden. Dieses Blutopfer ist der entscheidende Punkt der Weltzeremonie der Ankündigung des gekrönten und erobernden Kindes Horus als Herrn des Äons.

Diese ganze Sache ist im Buch des Gesetzes selbst prophezeit; lass den Schüler es vermerken und tritt ein in die Reihen der Heerschar der Sonne.23

Nach Crowley lag der Grund für den destruktiven Übergang in der extremen Divergenz zwischen dem Ethos des Äons des Osiris und dem des Horus. Nicht nur, dass sich die zwei Äonen auf grundlegend unterschiedliche magische Formeln stützen – der Äon des Opfers stand im Gegensatz zum Prinzip der Entdeckung des Wahren Willens (Thelema) –, sondern auch, und das ist vielleicht das Wichtigste, dass das Aufblühen des Äons des Horus der Befreiung von den bedrückenden religiösen Systemen des Alten Äons bedarf. Für Crowley bedeutete dies im Besonderen die Freiheit von den Beschränkungen des Christentums. Indem er die Rolle des Verkünders des Neuen Äons mit dem geschmähten Tier 666 aus dem Buch der Offenbarung einnahm, glaubte Crowley, dass er eine kosmische Aufgabe als Befehlshaber jener Kräfte wahrnahm, die das Christentum stürzen würden:

Es ist richtig, dem Tier zu gehorchen, denn Sein Gesetz ist reine Freiheit, und Er wird keinen Befehl geben, der etwas anderes ist als eine richtige Interpretation dieser Freiheit. Doch für die Entwicklung der Freiheit selbst ist es nötig, eine Organisation zu haben; und jede Organisation muss eine höchste zentrale Kontrolle haben. Dies ist besonders in Zeiten des Krieges notwendig, wie selbst die so genannten „demokratischen“ Nationen durch ihre Erfahrung gelehrt wurden. … Nun ist dieses Zeitalter in erster Linie eine „Zeit des Krieges“, vor allem jetzt, da es unser Werk ist, die Sklavengötter zu stürzen.24

Es ist nicht nur offensichtlich, dass Crowley den vielen Hinweisen auf Krieg, Gewalt und Zerstörung in The Book of the Law viel Aufmerksamkeit widmete, sondern auch, dass seine Deutungen der gewaltsamen und apokalyptischen Passagen sich über die Zeit verändert haben. Crowley schrieb zwei wichtige Kommentare zu The Book of the Law, die er einfach als den „Alten Kommentar“ und den „Neuen Kommentar“ bezeichnete; außerdem verfasste er einen dritten Kommentar mit dem Titel „Der D genannte Kommentar“ (oft auch als Djeridensis-Werk bezeichnet) und den „Kurzen“ oder „Tunis-Kommentar“. An ihnen läßt sich deutlich verfolgen, wie sich Crowleys Interpretationen der gewaltsamsten Passagen des Buches über die Zeit gewandelt haben.25 Den „Alten Kommentar“ hatte Crowley vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges geschrieben und 1912 in seiner Zeitschrift The Equinox, Band I, Nr. 7, veröffentlicht. Im „Alten Kommentar“ neigte Crowley dazu, die gewaltsamen Abschnitte mystisch auszudeuten, und bezog sich auf spirituelle Eigenschaften und Übungen. Im „Neuen Kommentar“, den er in den frühen 1920ern schrieb, ist die Interpretation jedoch radikal geschichtsbezogen und apokalyptisch.

Besonders auffällig ist die gewaltsame Sprache und Symbolik im dritten Kapitel von The Book of the Law. Treffenderweise wird dieses Kapitel dem Gott Ra-Hoor-Khuit zugeschrieben, der als Gott „des Krieges und der Vergeltung“ dargestellt wird. Crowley räumte ein, dass die Interpretation dieses Kapitels schwierig sei und dass viele die radikaleren Empfindungen darin abstoßend finden könnten. Dennoch hob Crowley, als er das dritte Kapitel kommentierte, die Wichtigkeit hervor, es wörtlich zu interpretieren, obwohl er weiterhin auch nach subtileren, esoterischen Erklärungen suchte.

Kommentar scheint kaum nötig. Der Große Krieg [gemeint ist der Erste Weltkrieg] ist nur eine Veranschaulichung dieses Textes. Die einzigen Nationen, die gelitten haben, sind die, deren Glaube osirianisch, oder, wie sie es nennen, christlich ist.26

Im „Alten Kommentar“ bemerkt Crowley, dass „es beabsichtigt scheint, dieses ganze Buch wörtlich zu deuten …, dennoch ist eine mystische Erklärung leicht zu finden.“ Crowley schien so für beide Interpretationen offen zu sein, für die wörtliche wie die metaphorische, doch es ist offensichtlich, dass er vor dem Ersten Weltkrieg die mystische Annäherung an The Book of the Law bevorzugte. Drei kurze Abschnitte des dritten Kapitels dienen als guter Einstieg in Crowleys unterschiedliche Interpretationen: „Wählet euch eine Insel!“, „Befestiget sie!“, „Dünget sie mit Kriegsgerät!“27

Im „Alten Kommentar“ werden diese Zeilen so gedeutet, dass sie sich auf die Wichtigkeit beziehen, den Geist auf die Chakren zu konzentrieren, während Crowley im „Neuen Kommentar“ schrieb: „Für die, die je einen in Aktion gesehen haben, deutet diese Redewendung seltsamerweise auf einen ‚Minenleger’ hin.“ Ebenso behauptet Crowley im „Alten Kommentar“, dass jener Vers 7, in dem es heißt, „eine Kriegsmaschine will ich euch geben“, ein Hinweis auf eine neue Meditationstechnik sei; im „Neuen Kommentar“ bemerkte er dazu: „Dies deutet auf den Panzer hin; die gewählte Insel ist England. Aber dies ist wahrscheinlich eine Vorahnung des wirklichen Großen Krieges, in dem Horus gänzlich triumphieren wird.“28

Laut Crowley war die kosmische Aufgabe Thelemas nicht auf den Sturz der alten Religionen und die Verkündung des neuen Gesetzes beschränkt; sie hatte auch das Potential, direkt auf die globale politische Situation einzuwirken. Crowley hatte politische Erwartungen für Thelema und glaubte fest daran, dass die erste Regierung, die das neue Gesetz annahm, unbesiegbar werden würde. Eine deutsche Anhängerin Crowleys, Martha Küntzel (1857 - 1941) übersetzte The Book of the Law ins Deutsche sandte 1925 angeblich ein Exemplar an Adolf Hitler. Wie Crowley schreibt, war der deutsche Diktator von dem Buch beeindruckt genug, um für einige Jahre mit Küntzel zu korrepondieren, wobei es sehr unwahrscheinlich scheint, dass sich dies wirklich so zugetragen hat. Crowley versuchte angeblich im Herbst 1930 auch, über seinen ehemaligen Schüler J. F. C. Fuller (1878 - 1966) mit Hitler Kontakt aufzunehmen und gleichzeitig über den Journalisten Walter Duranty (1884 - 1957) zu Stalin durchzudringen.29 Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass diese Annäherungen aus reinem Opportunismus erfolgten, der eher von Crowleys Ambitionen angetrieben war, Thelema zu verbreiten, als dass er Anzeichen irgendeiner Sympathie Crowleys für die jeweiligen Ideologien gewesen wäre.30

Über die zuvor zitierten Passagen aus The Book of the Law reflektierend, drückte Crowley in seinem „Neuen Kommentar“ seine Gewissheit aus, dass diese die potentielle politische Wirkmächtigkeit des Glaubensbekenntnisses von Thelema bestätigen:

Dies ist eine praktische Instruktion; und – wie ein „Militärgeheimnis“ – nicht in irgendeiner Form aufzudecken. Ich sage nur, dass die Pläne vollständig sind und dass die erste Nation, die das Gesetz von Thelema annimmt, zur alleinigen Herrin der Welt wird.31

In einer seltsamen Bekräftigung seiner apokalyptischen Interpretation von The Book of the Law behauptet Crowley auch, dass die Publikation des Buches selbst direkt mit den Ausbrüchen einer Anzahl von Kriegen in Verbindung stehe. So legt er nahe, dass die ersten vier Veröffentlichungen des Buches nacheinander zum Balkankrieg, zum Ersten Weltkrieg, zum Chinesisch-Japanischen Krieg und zum Zweiten Weltkrieg geführt hätten.32 Crowley betrachtete diese Kriege als notwendige Schritte zur Errichtung des Neuen Äons: die Menschheit musste eine Phase der Kriege, des Chaos und der Zerstörung durchlaufen, um die Gesellschaft von den Ketten und Beschränkungen der alten Götter zu befreien und dem Neuen Äon des Lichts, der Liebe und der Freiheit den Weg zu ebnen. Während diese Betrachtungsweise zu anderen esoterischen Visionen jener Zeit von einem kommenden Neuen Zeitalter in scharfem Kontrast stand, war sie – und ist es immer noch – ein wiederkehrender Gedanke in vielen prämillenaristischen christlichen Gruppen, die eine apokalyptische Phase der Trübsal als Voraussetzung für den Beginn der tausendjährigen Herrschaft Christi betrachteten.

Tabelle 4.1. Vergleich von Crowleys „Alten Kommentaren“ und „Neuen Kommentaren“ zu Liber AL vel Legis

Liber AL vel Legis Alter Kommentar Neuer Kommentar
AL III:4: „Wählet euch eine Insel!“ Eine Insel = eines der Chakren oder Nervenzentren in der Wirbelsäule. Dies ist eine praktische Instruktion und – wie ein „Militärgeheimnis“ – nicht in irgendeiner Form aufzudecken. Ich sage nur, dass die Pläne vollständig sind und dass die erste Nation, die das Gesetz von Thelema annimmt, zur alleinigen Herrin der Welt wird.
AL III:5: „Befestiget sie!“ Befestiget sie = konzentriert den Geist darauf. Befestiget sie = konzentriert den Geist darauf.
AL III:6: „Dünget sie mit Kriegsgerät!“ Haltet jeden Eindruck von ihr fern. Für die, die je einen in Aktion gesehen haben, deutet diese Redewendung seltsamerweise auf einen ‚Minenleger’ hin.
AL III:7: „Eine Kriegsmaschine will ich euch geben.“ Ich werde eine neue Meditationsmethode beschreiben, mit welcher … [siehe Vers 8, Alter Kommentar]. Dies deutet auf den Panzer hin; die gewählte Insel ist England. Aber dies ist wahrscheinlich eine Vorahnung des wirklichen Großen Krieges, in dem Horus gänzlich triumphieren wird.
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