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Einführung

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Das „kurze“ 20. Jahrhundert gehört zu den am besten dokumentierten Epochen der Geschichte. Trotzdem gibt es viel mehr Rätsel auf als manche Perioden der Antike und des Mittelalters, deren spärliche dokumentarische Überreste wir nur mühsam rekonstruieren können. Zu den größten Rätseln in diesem Zusammenhang gehört die Frage nach den Ursachen für den beispiellosen Zivilisationsbruch, der sich in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ereignete und alte Kulturnationen erfasste, die so voller Stolz auf ihre großen Dichter und Denker, auf ihre genialen Schriftsteller und Künstler waren. Wie konnte es zu diesem Zivilisationsbruch kommen? Diese Frage erschüttert bis heute das europäische Selbstverständnis.

Diese moralische Katastrophe, die sich im Herzen Europas abspielte, hatte sich scheinbar über Nacht – in der kurzen Zeitspanne zwischen 1917 und 1945 bzw. 1953 (dem Todesjahr Stalins) – vollzogen. Dieses „Plötzliche“ täuscht jedoch, denn Zäsuren bahnen sich in der Regel allmählich an. Auch das totalitäre Jahrhundert der „Ex-treme“ hatte seine lange Vorgeschichte. Ihm ging eine Auflehnung gegen das überlieferte europäische Menschenbild voraus, das seit Jahrhunderten durch die Wertvorstellungen des Alten und des Neuen Testaments geprägt worden war.

Diese Auflehnung hatte den Charakter einer Doppelrevolution. Die Zerstörer der Grundlagen, auf denen die christlich-jüdische Kultur basiert, verwickelten die Verteidiger dieser Kultur in einen Zweifrontenkrieg. Sie wurden sowohl im Namen der Gleichheit, der Gerechtigkeit und der internationalen Solidarität als auch im Namen des hierarchisch-elitären Prinzips, des unversöhnlichen nationalen Egoismus und des Rassegedankens angegriffen.

Dabei waren es einflussreiche Vertreter der Bildungsschicht und nicht die allgemein gefürchteten „Massen“, die solche Werte wie Toleranz oder Humanität mit besonderer Radikalität und Gehässigkeit bekämpften. Nicht der Aufstand der Massen, sondern die Rebellion der intellektuellen Elite habe dem europäischen Humanismus die größten Schläge zugefügt, schrieb in diesem Zusammenhang 1939 der russische Exilhistoriker Georgij Fedotov.1

Welche Lehren zogen die Europäer in Ost und West aus dem Zivilisationsbruch, der sich in den Jahren 1914–1945 ereignete? Dieser Frage sollte sich ursprünglich ein interdisziplinäres und internationales Kolloquium an der KU Eichstätt-Ingolstadt widmen, das für Mai 2020 (anlässlich des 75. Jahrestages des Kriegsendes) eingeplant war. Wegen der Corona-Pandemie mussten die Veranstalter allerdings ihr Konzept ändern. Einige der ursprünglich geplanten Vorträge werden nun im Forum veröffentlicht, und zwar in der ersten Rubrik des vorliegenden Heftes.

Im ersten Beitrag der Rubrik befasst sich der Eichstätter Politikwissenschaftler Bernhard Sutor mit den Lehren, welche die zweite deutsche Demokratie aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie gezogen hat. In diesem Zusammenhang geht er in erster Linie auf das Grundgesetz ein, das in gewisser Hinsicht ein „Gegenbild zur Weimarer Verfassung“ darstellt, dies in erster Linie deshalb, weil es bestimmte Elemente enthält, die in der Weimarer Verfassung trotz ihres demokratischen Charakters gefehlt hatten. Dazu zählen der „Fundamentalsatz von der unantastbaren Würde des Menschen … [und die] sogenannte Ewigkeitsklausel …, welche die Art. 1 und 20 (die Grundrechtsbindung und Staatsgrundprinzipien) von jeder Verfassungsänderung ausnimmt“. Zu den besonders wichtigen Lehren aus dem Scheitern der „ersten“ deutschen Demokratie gehört auch die Tatsache, dass laut Grundgesetz „Gegner der Demokratie ihre Grundrechte verwirken können und dass verfassungsfeindliche Parteien verboten werden können“.

Im folgenden Beitrag der Rubrik geht der Eichstätter Germanist Ruprecht Wimmer auf die komplizierte Wiederannäherung Thomas Manns an Deutschland nach der Katastrophe von 1933–1945 ein. In der vorletzten Forum-Ausgabe befasste sich der Autor bereits mit der fortwährenden Auseinandersetzung Thomas Manns mit der NS-Diktatur und mit dessen eindringlichen Warnungen vor der nationalsozialistischen Gefahr. Wie gestaltete sich das Verhältnis des Schriftstellers zu seinem Heimatland nach dem Zusammenbruch des Regimes, das er jahrelang so leidenschaftlich bekämpft hatte? Über die ersten Reaktionen Thomas Manns auf die neue deutsche Wirklichkeit schreibt Wimmer Folgendes: „Sofort wendet sich Thomas Mann der neuen Lage in Deutschland zu. Zu seinem Misstrauen, ob der Nationalsozialismus nun wirklich Vergangenheit sei, tritt das mitleidende Entsetzen über das kulturelle und soziale Chaos in der alten Heimat“. Was die Wiederannäherung Thomas Manns an Deutschland zusätzlich erschwerte, sei die Zweiteilung des Landes seit 1949 gewesen, wobei sich beide deutsche Staaten um die Sympathien des berühmten Exilautors bemüht hätten. Wimmer weist darauf hin, dass der alte Glaube Thomas Manns „an einen humanen Kern des marxistischen Weltbildes“ dazu führte, dass er die DDR nicht nur in einem negativen Licht sah. Auf der anderen Seite musste er „rasch erkennen, dass die reale Politik des Ostblocks, dass dessen inhumane Skrupellosigkeit die angeblichen Ideale nur zu deutlich ad absurdum führte“.

Der Paradigmenwechsel, der sich im Westen nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches vollzog, fand auch in der Sowjetunion statt, allerdings einige Jahre früher als im Westen, und zwar kurz nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges. Das stalinistische Regime, das bis dahin gegen imaginäre „Volksfeinde“ gekämpft hatte und die eigene Bevölkerung in einer beispiellosen Weise terrorisierte, wurde nun mit wirklichen Feinden konfrontiert. Vieles sprach dafür, dass es diese harte Bewährungsprobe nicht überstehen würde. So hatten die Machthaber keine andere Wahl als die halbherzige Duldung einer partiellen Emanzipation ihrer Untertanen, die nun als Verteidiger ihrer bedrohten Heimat zu einem neuen Selbstbewusstsein gelangten. Es fand damals in der UdSSR ein Prozess statt, den der Moskauer Historiker Michael Gefter später als „spontane Entstalinisierung“ bezeichnete. Mit diesem Prozess befasse ich mich im letzten Beitrag der Rubrik. Zwar gelang es der stalinistischen Führung kurz nach der Bezwingung des Dritten Reiches, die auf ihren Sieg so stolze Nation erneut zu disziplinieren. Die Sehnsucht nach einem würdevollen Leben, die den sowjetischen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland mitbedingt hatte, war aber aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein niemals verschwunden. Dieser Sehnsucht kamen die Nachfolger Stalins entgegen, als sie bereits wenige Tage nach dem Tod des Diktators mit der Demontage des von ihm errichteten Systems begannen. All diesen Vorgängen ist der abschließende Teil meines Beitrags gewidmet.

In der Rubrik „Ideengeschichte“ veröffentlichen wir ein Kapitel aus den „Philosophischen Memoiren“ des am 19. September 2019 verstorbenen Philosophen und Zimos-Gründers Prof. Dr. Nikolaus Lobkowicz. Das Kapitel trägt den Titel „Hegel und Marx“. Für die Veröffentlichung dieses Textes erhielten wir die ausdrückliche Genehmigung der Witwe des Autors, Frau Nawojka Lobkowicz, und des EOS Verlages, in dem das Buch von Nikolaus Lobkowicz erschienen ist. Wir möchten uns dafür herzlich bedanken.

Nun einige Worte zu dem hier abgedruckten Text.

Zu Beginn des Kapitels verweist Nikolaus Lobkowicz auf sein 1967 erschienenes Buch Theory and Practice: History of Concept from Aristotle to Marx und hebt hervor, dass er beim Verfassen dieser Schrift ursprünglich das Ziel verfolgt habe „den intellektuellen Werdegang des Philosophierens des ‚jungen Marx‘ vor Abfassung der Deutschen Ideologie nachzuvollziehen“. Besonders wichtig schienen ihm in diesem Zusammenhang die berühmt gewordenen „Feuerbach-Thesen“ von Marx aus dem Jahre 1844, die mit dem Satz schließen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern“. Diese im Grunde „linkshegelianische Konzeption“ habe Marx indes bereits ein Jahr später „hinter sich gelassen“, fügt Lobkowicz hinzu: „(Es) kommt von nun an nicht mehr darauf an, die Welt zu verändern; angesichts von historischen Gesetzmäßigkeiten, die er meint, entdeckt zu haben …, will Marx mit Gewissheit voraussagen können, sie würde sich radikal verändern. Aus einem Programm ist eine Prognose geworden“.

Diese deterministische Sicht, das angebliche Wissen um den weiteren Verlauf der Weltgeschichte, habe ein großes Dilemma für die Anhänger des Marxschen Geschichtsmodells dargestellt, setzt Lobkowicz seine Ausführungen fort: „(Zwar) war sicher, welchen Weg die Weltgeschichte einschlagen würde, aber man durfte dennoch nicht unterlassen, ihr auf diesem Wege nachzuhelfen. Ob dieses Nachhelfen bloß der Beschleunigung der Entwicklung dienen sollte oder ob ‚die Revolution‘ ohne eine solche Nachhilfe am Ende möglicherweise gar nicht stattfinden würde, blieb immer unklar“.

Nach diesen einleitenden Bemerkungen befasst sich Nikolaus Lobkowicz mit der philosophischen Genese des Marxschen Ideengebäudes, so vor allem mit Hegel und mit den Linksgehelianern, zu denen Marx ursprünglich auch zählte. Beim Vergleich zwischen dem Marxschen und dem Hegelschen Denkmodell betont Lobkowicz, dass das futuristische Pathos, das Marx eigen war, Hegel weitgehend fehlte: „Im Gegensatz zu Marx … spricht ja Hegel nie von der Zukunft, stellt nie Zukunftsprognosen auf. Vermeintliches Wissen um Künftiges kann es für ihn nur als ‚subjektive Vorstellung‘, als ‚Furcht oder Hoffnung‘ geben“.

Am Ende des Kapitels befasst sich Nikolaus Lobkowicz erneut mit den Marxschen Zukunftsprognosen und weist darauf hin, dass sie in der Regel nicht eintrafen. Nicht zuletzt Marx’ These von einer permanenten Verelendung des Proletariats.

Wie dem auch sei. Man konnte in der Tat nicht leugnen, dass um die Jahrhundertwende, zumindest in den hochentwickelten Industrienationen des Westens, es statt zu der von Marx vorausgesagten Verschärfung des Klassenkampfes zu einer Abmilderung der Klassengegensätze kam. Die industrielle Revolution, mit der Marx so viele Hoffnungen verknüpft hatte, trug nun ihre Früchte, und die Arbeiter hatten mehr zu verlieren als nur ihre Ketten. Nicht zuletzt deshalb begannen manche marxistische Theoretiker von der Unversöhnlichkeit gegenüber dem bestehenden Staat abzurücken und, zum Entsetzen vieler „orthodoxer Marxisten“, an die Reformierbarkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu glauben. Dies war die Geburtsstunde der „revisionistischen“ Strömung innerhalb der Sozialdemokratie, mit der sich Nikolaus Lobkowicz in seinem Text ebenfalls befasst.

Noch einige Worte zur Rubrik „Tribüne“, mit der wir dieses Forum-Heft abschließen. Ich befasse mich hier aus aktuellem Anlass mit den Verschwörungstheorien, die insbesondere für die erste Hälfte des „kurzen“ 20. Jahrhunderts charakteristisch waren und die die damaligen politischen Auseinandersetzungen in Europa entscheidend prägten.

Auch dieses Forum-Heft wurde sorgfältig von Herrn Dr. Peter Paul Bornhausen lektoriert und von Frau Dr. Marina Tsoi technisch betreut. Ich danke ihnen herzlich dafür.

Leonid Luks

1 Fedotov, Georgij: K smerti ili k slave?, in: Novyj Grad 14, 1939, S. 102.

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