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SIMONE BAUER Rama dama!
Оглавление0991/3615777. Eine Nummer, die ich vermutlich nie im Leben wieder vergessen werde. Sie hat sich eingebrannt, ebenso wie der Klingelton der Telefone. Nie stehen sie still. Zuerst war es nur ein Anschluss gewesen, doch inzwischen haben wir zehn dauerschrillende Geräte und über die Hotline sind wir an der Technischen Hochschule Deggendorf ständig erreichbar. Für viele ist es ein Fluch, rund um die Uhr erreichbar zu sein, sei es auf dem Handy oder in den sozialen Netzwerken, doch in Situationen wie der momentanen ist die moderne Technik ein wahrer Segen. Wie haben die Menschen zu Notzeiten das wohl früher geschafft?
Während ich mir selbst diese Frage stelle, kratze ich mich kurz am Kopf. Vermutlich hätte die Feuerwehr massive Probleme gehabt, war sie doch eh schon rund um die Uhr im Einsatz. Sie wäre auf sich alleine gestellt gewesen, denn auch ihre Notrufleitung wäre vielleicht einfach verstummt. Doch zum Glück haben wir diese Mittel und ich konnte die Feuerwehr einfach darauf ansprechen, wie ich mich denn an den Rettungseinsätzen beteiligen könne.
Ich musste mich nicht in Sicherheit bringen, nur ein paar Sachen in der Werkstatt meines studentischen Vereins in Fischerdorf hochstellen. Die Dämme würden brechen, das Hochwasser war nicht zu stoppen, so viel wurde mir dabei klar. Als das erledigt war, konnte ich dann auch nicht herumstehen und nichts tun. So half ich beim Auffüllen der Sandsäcke, doch das reichte mir immer noch nicht. Ich fühlte mich nutzlos und die Atmosphäre vor Ort wühlte mich auf. Wie eigentlich jeder, der sich mit Problemen trägt, landete ich im Internet. Beim Herumgoogeln fiel mir die Seite der Passauer Studenten auf, die via Facebook eine Hilfsaktion für ihre Stadt koordinierten. Warum machten wir das nicht an meiner Hochschule? Und schon war die Idee für all das hier geboren. Über eine Hotline können sich freiwillige Helfer melden und werden dann an Bewohner unserer Stadt, denen unter die Arme gegriffen werden muss, weitervermittelt. Daneben läuft das Meiste über das Internet: Auf unserer Pinnwand bei Facebook melden sich Menschen, die Kleidung übrig haben, oder Menschen, die Schaufeln suchen. Ich lasse meinen Blick schweifen und gähne, aber ich bin nicht der Einzige, der müde ist. Gerade habe ich nachgezählt: Ich bestreite meine fünfundneunzigste Arbeitsstunde in dieser Woche, der ersten Woche unserer Aktion. Es ist für heute bald Zeit, nach Hause zu gehen. Bei dieser einen Woche wird es wohl nicht bleiben.
Mein Rücken tut weh. Als Student der Wirtschaftsinformatik bin ich es gewohnt, einige Zeit vorm Computer zu verbringen. Doch dieser Zustand ist anders, sonst kommuniziere ich ja auch nicht mit beinahe zehntausend Facebook-Fans. Ich darf nicht auf das Brennen meiner Augen, das Schmerzen meines Nackens und schon gar nicht auf die Hitze im Raum achten. Das hier ist so viel wichtiger als ich, der damals dreiundzwanzigjährige Dominik Fischer.
Seit Tagen sind wir damit beschäftigt, unter dem Titel Deggendorf räumt auf die freiwilligen Helfer zu koordinieren: Wir schicken sie zu ihren Einsatzorten. Wer benötigt eine helfende Hand beim Ausräumen der Wohnung? Wir wissen es. Überall auf den Konferenztischen rollen Wasserflaschen und Stifte herum. Wir sind insgesamt dreißig Studierende, die planen und organisieren. Wir haben offizielle Bereitschaftszeiten, doch sind wir eigentlich im Dauereinsatz. Sonst studieren wir miteinander. Nun vermitteln wir gut sechstausend Helfer an konkrete Einsatzorte.
Und es hat eigentlich nur einen halben Tag lang gedauert, die offizielle Anlaufstelle für hilfsbereite Hände von überall her zu werden.
Sicher, es war ein Vorteil, dass ich sehr früh meinen Kumpel Beppo eingespannt hatte. Wo ich zu schüchtern bin, spricht er ganz locker mit der Hochschulleitung und regionalen Politikern. Mit einem ernsten Gesichtsausdruck brauchte er nur zu sagen: „Wir sind kein Kasperlverein!“ Und schon waren die zufrieden. So ein recht großes Team bedeutete auch für sie Entlastung. Besagtes Team hatten Beppo und ich gemeinsam zusammengerufen – Leute, von denen wir wussten, dass die so ein Vorhaben stemmen können –, und dann brachten die wiederum Bekannte mit. Vielleicht werde ich später sagen dürfen, hier einige gute, neue Freunde gefunden zu haben. Immerhin befinden wir uns nun auf einer Basis, auf der man sich nicht voreinander verstellt. Wir stoßen täglich an unsere Grenzen, das kann schon ganz schön zusammenschweißen. So ein Teamwork wie hier lernt man in den teuersten Seminaren nicht – und auch nicht, wie man die Zähne zusammenbeißt.
Doch bevor ich nach Hause gehen kann, muss ich erst ein paar andere nach Hause schicken. Ein Blick in das fahle Gesicht einer Mitstudierenden genügt: „Du brauchst eine Pause!“
Sie seufzt: „Nein, ich muss das hier noch fertig machen.“
Ich schüttle vehement den Kopf: „Du musst jetzt eine Pause einlegen, sonst kippst du um.“
Sie seufzt wieder, resigniert aber dann und hört schließlich auf mich. Ich bin einer der Teamleiter hier und fühle mich mittlerweile wie der Chef eines mittelständischen Unternehmens. Da empfinde ich schon etwas Wehmut – natürlich packe ich an, aber wirklich die Finger schmutzig mache ich mir nicht. Ich kenne meine Produkte und meine Mitarbeiter, doch wie kommen die alle da draußen an im Krisengebiet? Bevor auch ich mich auf den Weg nach Hause mache, beschließe ich, morgen mal wieder einen Bezug zu den Dingen vor Ort herzustellen.
Nach einer kurzen Nacht kehre ich nicht an den Rechner zurück, sondern ziehe mir meine orangefarbene Weste mit der Aufschrift „Team Deggendorf räumt auf“ über. Besser als mit diesem Wort – „Team“ – kann man nicht auf den Punkt bringen, welcher Zusammenhalt in diesen Tagen vorherrscht. Die Menschen kommen von überall her, um anzupacken, nicht nur aus ganz Bayern, sondern auch aus anderen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg. Unser Beitrag zur Fluthilfe ist schließlich, den Helfer gut zu betreuen. Findet dieser online keine Infos, wird er nicht losfahren. Kommt dieser an und findet keine Aufgabe, wird er frustriert sein.
Viele Betroffene sind überfordert. Ich plaudere mit ihnen, während ich als „Späher“ in Fischerdorf unterwegs bin. Zu Fuß, denn mit dem Auto ist es wegen des ganzen Schutts noch sehr schwierig, voranzukommen. Von meiner gelegentlichen Schüchternheit und Zurückhaltung keine Spur mehr – gewisse Dinge müssen nun einfach erledigt werden. Inzwischen kann man diesen Stadtteil wieder zu Fuß durchqueren, doch es riecht noch immer nach dem braungelben Brackwasser, das alles verschluckt hat, bis hin zu ganzen Verkehrsschildern und natürlich alles, was größenmäßig darunter lag. Obwohl viele Häuser kaum mehr bewohnbar sind, leben noch Menschen dort. Wo sollen sie auch sonst hin? Nun heißt es, das wieder aufzubauen, was die Flut ihnen genommen hat. Doch für viele wird es zu spät sein. Diese beklemmende Atmosphäre mag lähmen, doch uns ist es ein Bedürfnis, etwas dagegen zu tun, die Ärmel hochzukrempeln und das Beste aus einer furchtbaren Situation zu machen. Ich schirme meine Augen vor der Sonne ab, dieser unerbittlich brennenden Sonne.
Im Angesicht der Flut spürt man Demut. Wenn die Isar von einem ruhigen Gewässer zu einem reißenden Fluss geworden ist und man selbst verschont bleibt, wird einem klar, wie gut es einem geht. Und wie kann man nur ruhig herumsitzen, während andere leiden? Da mag es noch so heiß, und man selbst noch so müde sein. So beschäftige ich mich den Vormittag über damit, per Funk Benzin für Notstromaggregate klarzumachen, Schaufeln, Handschuhe zu besorgen. Als ich in unser kleines Büro zurückkomme, wo die Infrastruktur bestens ist, bin ich frisch motiviert.
Solche Begegnungen sind wichtiger als die mit VIPs. Vor ein paar Tagen stand plötzlich der Staatssekretär bei uns im Büro, und ich schickte ihn einfach weiter zu einer Kollegin, damit die sich mit ihm beschäftigte – im ganzen Stress hatte ich ihn nicht erkannt. So bin ich auch nicht allzu erpicht auf das Treffen mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck – denn das wird eineinhalb Stunden wertvolle Arbeitszeit füllen. Und das sage ich auch nur so halb im Scherz.
Natürlich ist sein Lob schon sehr nett, als wir alle im Büro zusammensitzen und es dort sehr eng wird – Platz für die Presse ist da zum Glück keiner. Während es in meinen Fingern nach einem schnellen Statusupdate juckt, wird der Politiker sehr persönlich.
Er ist ja auch stark couragiert und pusht uns für die letzten Tage – glücklich sei er, dass es, wenn es drauf ankommt, Leute gibt, die nicht abstumpfen. Vor allem junge Leute, bei denen es immer heiße, die lägen nur noch auf der faulen Haut rum, allen voran die Studenten. Er sei stolz darauf, sagt er fast großväterlich, diese Geschichte noch in fünfzig Jahren als mustergültiges Beispiel hernehmen zu dürfen. Beppo guckt ernst, ich reibe mir die Augen. Bald ist es geschafft. Doch dann geht der Trubel weiter, die Prüfungsphase steht uns bevor.
Oh, und ein weiteres Ereignis kündigt sich in den nächsten Tagen an: Ich werde vierundzwanzig.
Für eine große Feier hätte ich ohnehin nicht die Energie gehabt, und so machen wir zum ersten Mal das Beste aus dem sonnigen Wetter und setzen uns am vorletzten Tag unserer Aktion abends in den Biergarten. Das ganze Team ist anwesend; es ist wie ein Abschlussessen.
Mit hintergründigem Blick erhebt sich Beppo, um dem Team zu Ehren eine Rede zu halten. Er redet laut und mit stolzgeschwellter Brust, als er sich für die letzten Tage bedankt.
„Habe ich richtig gehört?“, erhebt sich in diesem Moment ein Herr vom Nachbartisch, „Ihr habt die Hilfsaktion durchgeführt?“
Überschwänglich schüttelt er uns nacheinander die Hand und stellt sich als Chef einer Firma vor, die komplett untergegangen ist.
„Was ihr getan habt, war brutal gut! Ohne euch wäre unser Betrieb so schnell nicht mehr auf die Beine gekommen!“ Ein paar seiner Mitarbeiter kommen hinzu, bedanken sich. Er fährt fort und treibt mir fast die Nässe in die Augen, so tief rein ins Herz gehen seine Worte: „Es ist nicht nur wichtig, dass ihr helft, sondern dass die Leute auch merken, dass sie nicht alleine sind!“
Für unsere Solidarität bekommen wir von ihm Freigetränke. Weniger wegen des Biers, mehr wegen seiner Worte hätte ich mir einen besseren Geburtstag kaum vorstellen können.
Das Blitzlichtgewitter und die Aufmerksamkeit der Leute endeten abrupt, als wir uns für zwei Tage zurückzogen, um uns auszuruhen und neue Kräfte zu tanken. Ich fuhr zu meinen Eltern in den Bayerischen Wald. Dort gab es zwar eine Grillparty, aber nicht mir zu Ehren, und ich wurde auch nicht wie ein Lokalmatador behandelt. Ich konnte mich gleich aufs Lernen konzentrieren.
Das Benefizkonzert auf dem Campus der Hochschule mit Xavier Naidoo und viertausend Besuchern, die um die vierundvierzigtausend Euro spendeten, verwischte vor meinen Augen, zu sehr musste ich mich auf den versäumten Studienstoff konzentrieren. Aber es war wohl schon ganz nett.
Und nun stehen wir hier. Es ist ein kühler Dezembertag. Wir tragen keine orangefarbenen Westen mehr, aber ganz überwunden haben wir die Ereignisse immer noch nicht. Die damalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder überreicht uns den Sonderpreis des Deutschen Engagementpreises. Fünftausend Euro. Noch ahnen wir nicht, dass das Geld auf dem Haufen der anderen Preisgelder landen und später einmal der Hochschule zukommen wird – irgendwann einmal, wenn alles dazu geklärt ist.
Als Sportler, wie ich einer bin, befasst man sich wenig mit solchen Rechtslagen – und findet Preisverleihungen auch gar nicht mehr so spannend, dennoch steht man nicht jeden Vormittag vor rund vierhundert Menschen im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin. Dies ist der inzwischen dritte hochoffizielle Preis. An solche Auszeichnungen mit solchen Titeln hatten wir keinen Gedanken verschwendet, denn wir wollten weder angeben noch irgendjemandem irgendetwas beweisen. Doch es ist trotzdem schön, sie jetzt verliehen zu bekommen – vor allem, weil es auch eine Anerkennung für jeden einzelnen Helfer ist. Noch immer unterstützen wir online Helfer und Opfer. Ich traf und treffe auf so viel berührende Selbstlosigkeit, Hilfsbereitschaft und einen so großen Zusammenhalt, dass ich gar nicht mehr anders kann, als mich zu engagieren.
Ich habe recht behalten – ich stehe zwischen einer großen Anzahl guter, neuer Freunde. Auch mein seitdem bester Freund, den ich in dem kleinen, chaotischen Büro kennengelernt habe, ist dabei – mit dem mache ich mich in den Semesterferien auf, um den Opfern des Taifuns Haiyan, der vor einem Monat auf den Philippinen gewütet hat, zu helfen. Dieser hat im November sechsmal so viele Häuser zerstört wie das tragische Erdbeben auf Haiti – es starben insgesamt sechstausend Menschen. Als wir davon erfuhren, sagte mein Kumpel zu mir: „Fahren wir halt da rüber und helfen!“
Es folgte mein „Warum nicht?“ und daraufhin intensives Kontaktknüpfen. Im Frühjahr 2014 werden wir drei Wochen vor Ort die Schäden begutachten. Noch wissen wir nicht, dass es danach unser neues Ziel sein wird, den Ureinwohnern eines versteckten Inselparadieses namens Culion – einer ehemaligen Leprakolonie –, im August dann beim Aufstellen von Solaranlagen zu helfen. In diesem Eingeborenendorf gibt es kein elektrisches Licht, dort sind Kerosinlampen sehr teuer und es sind auch keine Wasseraufbereitungsanlagen vorhanden. Wir werden im Rahmen unserer Hochschulaktivitäten genau das ermöglichen.
Momentan denke ich mir noch: Irgendwie wird es schon klappen. Immerhin hat mich die Flut in Deggendorf eins gelehrt: Ohne unsere Maßnahmen wäre der Wiederaufbau lange nicht so gut geworden – wenn keiner hingeht und Courage entwickelt, dann wird’s nichts.
All diese Erfahrungen haben sich in unsere Seele eingebrannt. So wie diese eine Telefonnummer.
Nachtrag:
Deggendorf räumt auf war während der Aufräumarbeiten im Flutgebiet um Deggendorf für die Koordination der freiwilligen Helfer zuständig. Zwei Wochen lang haben dreißig Teammitglieder der Hochschule Deggendorf 6.000 Helfer vermittelt. Durch ihren Telefondienst und unterwegs als Späher erfassten sie rund um die Uhr, wer Hilfe benötigte oder Hilfe anbot. Dafür erhielt die Hilfsaktion drei staatliche Preise.
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