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ОглавлениеEdith Kürpick FMJ | Köln
geb. 1967, Priorin der Monastischen Gemeinschaft der Schwestern von Jerusalem, Köln
priorin.koeln@jerusalemgemeinschaften.de
Zeit der Kathedralen
Als am Abend des 15. April 2019 Notre-Dame de Paris zu einem einzigen Flammenmeer wurde, brannten nicht nur Holz und alte, vor Jahrhunderten gesalbte Steine. Es brannten auch alte Mauern zwischen denen, die an den Himmel glauben und denen, die nicht an ihn glauben. „Mit anzusehen“, schrieb am nächsten Tag die kommunistische Tageszeitung L’Humanité, „wie der Vierungsturm dieses heiligen Bauwerks, das doch die Erde mit dem Himmel und die Menschen mit ihren Träumen verbindet, in sich zusammenstürzte, brach selbst das Herz der Abgehärtetsten.“1 Fünf Tage später notierte aus der Ferne ein ebenso unverdächtiges Magazin: „Notre-Dame de Paris gehört, das konnte man ahnen, aber seit Montag steht es fest, zu den Quellen, aus denen die Menschheit Kraft und Gewissheit schöpft.“2 Noch am gleichen Abend war klar: Die Kathedrale wird wieder aufgebaut. Schnell, innerhalb von fünf Jahren, fordert der ehrgeizige Präsident. Schritt für Schritt, nach den genauen Regeln des Denkmalschutzes, mahnen die Experten. Originalgetreu, mit einem Spitzturm wie aus dem 19. Jahrhundert, verlangen die einen. Originell und kreativ, als Ausdruck unserer Zeit, insistieren die anderen. Als Haus Gottes und des Gebetes, beharren die Christen. Als Bauwerk nationaler Identität und Versammlung, drängen die Laizisten. Und so steht sie heute da: „gerettet, doch so wie durch Feuer hindurch“ (1 Kor 3,15), erhalten, Gott sei Dank, in ihrer Bausubstanz, das leuchtend goldene Kreuz in ihrer Mitte und die Gottesmutter immer noch an ihrem Pfeiler – aber ansonsten schwer verwundet, angeschwärzt, eingerüstet und wohl immer noch nicht ganz gesichert. Ein stummes Gleichnis der Kirche in schwieriger Zeit.
Vor Jahrzehnten, als ganz Europa in Schutt und Asche lag, schrieb Gertrud von Le Fort ein heute vergessenes Gedicht3. Sie widmete es den zerstörten Domen mit ihrem entschmückten Antlitz und ihren fallenden Türmen, von denen sie ahnte: Sie stürzen uns doch ins Herz! Das Innere, die Seele, aus der sie einst geboren wurden, erschien ihr jetzt als deren lebendiges Grab, dessen Liebe sie aber schon zu Auferstandenen machte. Vielleicht teilte sie damit die Intuition eines anderen Zeugen, Alfred Delp, der mit gefesselten Händen auf ein Stück Papier kritzeln konnte: „Von innen her muss man alles neu beginnen.“4 Von innen her, auch heute noch, wo doch alles nach Ausdruck ruft. Auch bei der Erneuerung der Kirche.
Mit den Händen ist das so eine Sache. Die sind uns in der Regel nicht gefesselt, aber dennoch oft gebunden durch ein massives Gefühl der Ratlosigkeit, Ohnmacht und Resignation. Wofür legt man schon die Hand ins Feuer? Andererseits vergeht kaum ein Tag, an dem die Gläubigen nicht umworben, eingeladen oder aufgefordert werden, Neuaufbrüche anzupacken und mitzugestalten. „Geh und stell mein Haus wieder her“, hatte Franziskus eines Tages gehört. Doch wissen wir längst, dass ein Neubeginn nicht einfach das Werk eines Einzelnen ist, auch nicht nur das des Papstes, der heute diesen Namen trägt. Dass es im Grunde noch nicht einmal Menschenwerk, sondern Gottes Werk ist, als solches dann aber wieder ein Werk für lange Zeit und viele Hände; ein Werk, das sich einschreibt in eine lebendige Tradition, die nicht mit uns beginnt und auch nicht mit uns untergeht. Es wird uns die Sorge aus dem Herzen genommen, wir müssten alles tun. Ja, wir sollen mit Hand anlegen … doch ohne die Hand auf etwas zu legen, ohne Hand an jemanden oder etwas zu legen: der gierige Griff nach Macht, sei er nun männlich oder weiblich, war Jesus zeitlebens fremd; die Anmaßung, alles im Griff zu haben, entspricht auf keiner Seite der Bibel seinem Weg; die Effizienz der schnellen Gewalt missachtet seine freilassende, frohmachende Botschaft.
Wer zweifelt noch daran, dass es männliche und weibliche Hände braucht, um die Kirche mithilfe des Geistes aufzurichten? Dort, wo es nicht mehr nur um ein unverbundenes Nebeneinander oder ein unausgesprochenes Gegeneinander geht, da kann eine Berührung geschehen, die nicht zugreift, sondern ein Dazwischen ermöglicht, einen Freiraum, der etwas Kostbares birgt, das uns aufeinander bezieht und zugleich über uns hinausweist. Einen weiten Raum, in dem alle mit ihren brennenden Wunden einen Platz finden, um dort, wie es in einem alten Gebet der Pariser Kathedrale heißt, „Hilfe für die Notleidenden, Unterstützung für die Armen, Trost für die Weinenden, Heilung für die Kranken zu erlangen“. Nur gemeinsam werden wir zu Hüter(inne)n einer Verheißung, die die Erneuerung immer wieder von innen her beginnen lässt. Vielleicht kann man uns auch nur so „anspüren, dass wir aus Geheimnissen leben“.5 Auch dafür gibt es ein Gleichnis. Rodin hat es durch zwei rechte Hände ausgedrückt, eine männliche und eine weibliche Hand, die im Moment der behutsamen Annäherung einen offenen, aber geschützten Raum entstehen lassen. Die Skulptur heißt: „Die Kathedrale“.
1 Vgl. URL: https://www.humanite.fr/les-passagers-de-la-cathedrale-670994 (Stand: 09.07.2019).
2 Der Spiegel 17/20. April 2019, 112.
3 G. von Le Fort, Den zerstörten Domen, in: dies., Gedichte. Wiesbaden 1949, 42.
4 A. Delp, Kassiber. Frankfurt/M. 1987, 33.
5 A. Delp, Das Menschenbild der Konstitutionen der Gesellschaft Jesu, in: F. Schulte (Hrsg.), Allen Dingen gewachsen sein. Frankfurt/M. 2005, 260.