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Einführung: Ein neues Verständnis braucht das Staatskirchenrecht

Die Pluralisierung der Lebenswelten hat in den letzten 20 Jahren eine weitreichende Veränderung der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse der Bürgerinnen und Bürger zur Religion mit sich gebracht. Als Folge der deutschen Wiedervereinigung war ein erheblicher Säkularisierungsschub festzustellen, der dazu geführt hat, dass sich die deutsche Gesellschaft von einer zu 75 Prozent christlichen zu einer 50 prozentigen Gemeinschaft mit weiterhin fallender Tendenz entwickelt hat.1 Daher und aus systematischen Gründen ist es erforderlich den Begriff der Religion zu klären, der dem Staatskirchenrecht/Religionsrecht zugrunde liegt. Dabei muss es sich aus rechtlichem Blickwinkel sachnotwendig zumindest um eine begriffliche Annäherung an das komplexe System Religion handeln, die grundsätzlich für alle Gemeinschaften anzuwenden ist, die sich selbst als Religionen verstehen. Die dort formulierten Kriterien sind objektiv geeignet, aus verfassungsrechtlicher Sicht Religionsgemeinschaften zu identifizieren und von anderen Vereinigungen abzugrenzen.

Religion bezeichnet eine Deutung der Welt aus einem im Jenseitigen liegenden zumeist in Gott oder einem anderen höheren Wesen begründeten ganzheitlichen Blickwinkel. Objektive Beurteilungskriterien für die Bestimmung einer Weltsicht sind damit deren transzendentaler Bezug und die Individualität des Glaubens und Bekenntnisses der Angehörigen der Religion.2

Die Rechtsverhältnisse von Staat und Kirche ruhten im 20. Jahrhundert noch auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens, so dass sich die Frage nach der Begründung oder Fundierung dieses Rechtsgebietes nicht ohne weiteres stellte. Dennoch schien es vor allem in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg so zu sein, dass sich Autoren kanonistischer Provenienz mit diesem Rechtsgebiet vornehmlich in Bezug auf Einzelfragen geäußert-, die systematische, zusammenfassende Darstellung hingegen den Juristen überlassen haben. Aus kanonistischer Perspektive darf dies durchaus als ein Defizit betrachtet werden, ohne dadurch die verdienstvollen Beiträge von Kanonisten und Juristen schmälern zu wollen. Das 21. Jahrhundert stellt die Kirchenrechtswissenschaft und damit auch ihre Teildisziplin, das Staatskirchenrecht, vor neue Herausforderungen. Diese ergeben sich vor allem aus den politischen Entwicklungen seit 1989, die bis heute zu einer Aufhebung gebietsbezogener religiöser Identitäten geführt haben, die in der europäischen Geschichte ohne Vorbild und Beispiel sind. Daneben erweist sich der fortschreitende Rückgang an Kirchlichkeit und religiöser Bindung in der säkularen Gesellschaft als ein weiterer Aspekt, der eine erneuerte Begründung dieses Rechtsgebiets erforderlich erscheinen lässt. In der deutschen Gesellschaft arbeiten Staat und Kirchen seit über 60 Jahren gedeihlich zusammen und bemühen sich auf ihre je eigene Weise das Gemeinwohl zu fördern. Manche Gruppierungen meinen jedoch, in dem gegenwärtigen Verhältnis von Staat und Kirchen in Deutschland, eine von der Zeitgeschichte überholte und damit ungerechtfertigte Privilegierung der christlichen Kirchen zu erkennen, die angesichts der Multikonfessionalität und Säkularität in dieser Gesellschaft nicht mehr gerechtfertigt sei.

Bevor wir uns dem Begriff Staatskirchenrecht annähern erscheint es angemessen sich zu vergewissern, was wir eigentlich bisher schon unter der Bezeichnung Kirchenrecht verstanden haben.

Kirchenrecht ist allgemein gesprochen all jenes Recht, dass von der (den) Kirche(n) für ihren eigenen Zuständigkeitsbereich selbst gesetzt worden ist. Dieses Recht mag in Einzelfällen das staatliche Recht berühren. In den meisten Fällen existieren jedoch beide Rechtssphären unabhängig voneinander.

Es handelt sich also um rein kirchliche Angelegenheiten, welche die Glaubenslehren, die gottesdienstlichen Riten, die kirchliche Mitgliedschaft, die Ämter und Institutionen, das Vermögen und die daraus wachsenden Rechte und Pflichten betreffen. Für diese Bereiche hat die Kirche die ausschließliche Zuständigkeit. In manchen Angelegenheiten besitzt die Kirche zwar von ihrem Selbstverständnis her eine ausschließliche Zuständigkeit, hat diese aber zugunsten des Staates oder aufgrund der obwaltenden Umstände eingeschränkt bzw. fügt sich in die vorgegebenen Einschränkungen. Solche ergeben sich aufgrund staatsrechtlicher Bestimmungen für die kirchliche Organisationsstruktur (als Körperschaft des öffentlichen Rechts oder als gemeinnütziger Verein), Ämterverleihung, Ausbildung der Amtsträger und, besonders heute öffentlich wahrgenommen, die Vermögensverwaltung. Daneben gibt es Angelegenheiten, die zwar nicht in die ausschließliche Ordnungszuständigkeit der Religionsgemeinschaften fallen, aber aus der Natur der Sache am besten von diesen selbst geordnet werden können, wie z.B. der Datenschutz, arbeitsrechtliche Regelungen (Mitbestimmung, Loyalitätspflichten in kirchlichen Arbeitsverhältnisses etc.) soweit hier eigene Zuständigkeiten begründet sind, Denkmalschutz und Stiftungsrecht. Bei der letzten Gruppe zeigt sich aber schon, dass die Nähe zum staatlichen Recht immer enger wird. Es gibt also immer ein Recht, das die Beziehungen von Staat und Kirche betrifft. Daher stehen die besonderen Rechte, die der Staat den Religionsgemeinschaften einräumt, stets unter einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt.

Die hier vorgelegte Einführung möchte die gegenwärtigen Rechtsverhältnisse darstellen und anhand ausgewählter, zentraler Rechtsfragen einen Überblick über das komplexe System der Zusammenarbeit von Staat und Religionsgemeinschaften in Deutschland geben. Dabei reicht es heute nicht mehr nur auf das nationale Recht zu blicken. Internationale, besonders europarechtliche Bezüge sind unbedingt mit zu berücksichtigen.

1. Staatskirchenrecht – ein abgelegenes Rechtsgebiet?

Weniger in der Forschung als mehr in der Lehre wird das Staatskirchenrecht als ein abgelegenes Rechtsgebiet aufgefasst. Hat dieses Rechtsgebiet nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Gegenwart und eine Zukunft? Anders als es bisweilen öffentlich wahrzunehmen ist, muss man erkennen, dass vor allem die beiden großen Kirchen in Deutschland insbesondere mit ihrem beachtlichen Engagement im sozialen Bereich und der Bildung die stärksten Partner des Staates bei der Verwirklichung seines Gemeinwohlauftrags sind. Damit das ohne größere Reibungsverluste funktionieren kann, bedarf es rechtlicher Regelungen und Übereinkommen. Auch wenn das Staatskirchenrecht nicht im Fokus des öffentlichen Interesses steht, kann man dieses Rechtsgebiet dennoch als eines beschreiben, dass sich seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland stets dynamisch fortentwickelt hat. Es bleibt nur für jene abgelegen, denen nicht auffällt, wie sehr der säkulare Verfassungsstaat Partner bedarf, um seine ureigenen Ziele zu verwirklichen.

Es klang schon an: fraglich erscheint, ob der Begriff des Staatskirchenrechts noch das abzubilden vermag, worum es in aller Komplexität des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften heute geht. Der Terminus „Staatskirchenrecht“ beschreibt ganz allgemein und zugleich umfassend jenen Teil des staatlichen Rechts, der sich mit Religion und Religionsgemeinschaften befasst. Dabei handelt es sich nicht nur um die Beziehungen der Institutionen Staat und Kirche, sondern auch um die in den Menschenrechten und dem jeweiligen Verfassungsrecht wurzelnden Rechte der Religionsgemeinschaften und der einzelnen Gläubigen. Es geht hier also in umfassender Weise um alles Kirchliche und Religiöse, das für die staatliche Rechtsordnung relevant ist.3 Das Staatskirchenrecht befasst sich ferner mit dem öffentlich-rechtlichen Status der Religionsgemeinschaft. Die Bandbreite der Beziehungsmöglichkeiten liegt hier zwischen dem Status als Staatskirche (Bsp. England, Griechenland) und der Lebenswirklichkeit einer staatlich bekämpften Untergrundkirche (Bsp. China, Nordkorea).

Fragt man nach dem Verhältnis von Staat und Religion, so muss auch die Frage beantwortet werden, was der Staat eigentlich unter Religion und Religionsgemeinschaft versteht. Mit dem Ende der Einheit von Staat und Volksreligion und der sich seit 1803 staatlicherseits immer konsequenter durchsetzenden Trennung der kirchlichen und der weltlichen Gewalt und Rechtssphären muss diese Beziehung der beiden Institutionen, die für sich Autonomie beanspruchen, geklärt werden. In den Teilen der Welt, wo sich die Frage des Verhältnisses von Kirche und Staat in eine Trennung der Sphären, sei sie nun absolut oder in einer Art versöhnter Verschiedenheit ausgeprägt, wird die Antwort auf das, was Religion aus der Sicht des Staates ausmacht, anders beantwortet werden. Für viele heutige Nationen der vormaligen Kolonien und Missionsgebiete gilt aber auch, dass sie – vom Geist der französischen Aufklärung geprägte – Revolutionen gegen das Joch der Kolonialstaaten durchgemacht haben und insofern vor einem ähnlichen staatskirchenpolitischen Erbe stehen, wie es in Europa der Fall ist. Daher und weil es hier im Schwerpunkt um das deutsche Staatskirchenrecht geht, ist es nicht verfehlt, von dem Religionsverständnis des religionsneutralen Staates auszugehen.

Die Schwierigkeit besteht nur darin, ein Solches zu bestimmen. Hier scheint vor dem staatlichen Selbstverständnis des nachaufklärerischen Staates ein Dilemma auf. Einerseits kann der Staat, wenn er religiös-weltanschaulich neutral sein will, den Inhalt dieses Begriffs „Religion“ nicht selbst definieren. Andererseits kann er sich, wegen der Gefahr von Missbräuchen, aber auch nicht von einer bestimmten Definition anderer außerstaatlicher Institutionen abhängig machen. Insofern hat sich das Bundesverfassungsgericht für eine Definition entschieden, die in der Literatur als die sog. „Kulturvölkerformel“4 bezeichnet wird. Danach wird eine Religionsgemeinschaft angenommen, wenn folgende Voraussetzungen vorliegen: Es muss sich um einen Glauben handeln, der unter zivilisierten Völkern etabliert ist. Dieser muss allgemeine ethische und moralische Prinzipien entwickelt haben. Diese Grundregel wird heute in einem weiten Auslegungsrahmen aufgefasst, wonach eine bestimmte ganzheitlich angelegte Betrachtungsweise ausreicht um von Religion oder Glaube zu sprechen. Dieser Rechtsgedanke wurde bereits grundlegend in der sog. Lumpensammlerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts5 entfaltet:

„Das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG steht nicht nur Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu, sondern auch Vereinigungen, die sich nicht die allseitige, sondern nur6 die partielle Pflege des religiösen oder weltanschaulichen Lebens ihrer Mitglieder zum Ziel gesetzt haben. Voraussetzung dafür ist aber, daß der Zweck der Vereinigung gerade auf die Erreichung eines solchen Zieles gerichtet ist. (…)

Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht außer Betracht bleiben. Zwar hat der religiös-neutrale Staat grundsätzlich verfassungsrechtliche Begriffe nach neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen7 Gesichtspunkten zu interpretieren8. Wo aber in einer pluralistischen Gesellschaft die Rechtsordnung gerade das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis wie bei der Kultusfreiheit voraussetzt, würde der Staat die den Kirchen, den Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften nach dem Grundgesetz gewährte Eigenständigkeit und ihre Selbständigkeit in ihrem eigenen Bereich verletzen, wenn er bei der Auslegung der sich aus einem bestimmten Bekenntnis oder einer Weltanschauung ergebenden Religionsausübung deren Selbstverständnis nicht berücksichtigen würde.“9

Der Begriff bleibt also so weit, dass er für eine Fülle von religiösweltanschaulichen Auffassungen, die mehr oder weniger organisiert auftreten, anwendbar. Das Bundesverfassungsgericht hat in weiteren Entscheidungen (siehe Fn. 4) diese grundlegende Betrachtungsweise entfaltet. Stellvertretend für diese sei hier die „Bahá’í Entscheidung“ angeführt. In dieser Verfassungsbeschwerde ging es zentral um die Frage der Anerkennung der persischen Glaubensgemeinschaft als Religion im Sinne des deutschen Staatskirchenrechts. Dabei kommt es dem Staat lediglich zu, „den von der Verfassung gemeinten oder vorausgesetzten, dem Sinn und Zweck der grundrechtlichen Verbürgung entsprechenden Begriff der Religion zugrundezulegen.“10 Eine entsprechende Prüfung entfällt, wenn nach aktueller Lebenswirklichkeit, Kulturtradition und allgemeinem wie auch religionswissenschaftlichem Verständnis die betreffende Gemeinschaft unstrittig als eine Religionsgemeinschaft wahrgenommen wird.11 Diese Sichtweise erlangt gerade im Lichte der religiös-weltanschaulich pluralen Gesellschaften zunehmende Bedeutung.

Merke: Kriterien zur Anerkennung als Religion/Religionsgemeinschaft:

1. Ziel der Gemeinschaft ist wenigstens die partielle Pflege des religiösen oder weltanschaulichen Lebens ihrer Mitglieder.

2. Unbestreitbarkeit der Wahrnehmung der Gemeinschaft als Religionsgemeinschaft nach der aktuellen Lebenswirklichkeit, Kulturtradition und dem allgemeinem wie auch dem religionswissenschaftlichem Verständnis.

3. Aus verfassungsrechtlicher Sicht halten wir fest: Eine Religionsgemeinschaft ist unabhängig von einer bestimmten Rechtsform jede freie Gemeinschaft von Gläubigen, die durch ein gemeinsames oder verwandtes Glaubensbekenntnis verbunden sind und sich die allumfassende Erfüllung der sich aus dem Glaubensbekenntnis ergebenden Aufgaben zur Aufgabe gemacht hat.

Aufgrund der Besonderheit des deutschen Staat-Kirche-Verhältnisses zwischen den Extremen von Staatskirche und Laizismus lohnt es sich dieses Rechtsgebiet zu erschließen. Und das beginnt mit der Definition und ihren historischen Wurzeln.

Der Begriff „Staatskirchenrecht“ scheint in der deutschen Rechtssprache erstmals im Jahre 1855 verwendet worden zu sein.12 Das war die Zeit in Europa, als die Staaten nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 versucht haben ihr Verhältnis zur römischen Kirche auf ein neues Fundament zu stellen. Dabei standen sich zunächst die über Jahrhunderte tradierte kuriale Auffassung von der Superiorität der Kirche über den säkularen Staat und die staatswissenschaftliche Ideologie der Superiorität des Staates über die Kirche nahezu unversöhnlich gegenüber. Die erste Begegnung der katholischen Kirche mit einem auf Volkssouveränität gestützten demokratisch-republikanischen Staat wurde für die Kirche zu einem tief traumatischen Erlebnis. Daher erklären sich die von da an noch über 100 Jahre währenden Ressentiments gegen bürgerliche Gesellschaften.

Der Terminus „Staatskirchenrecht“ beschreibt nach diesem überlieferten Verständnis, ganz allgemein und zugleich umfassend, jenen Teil des staatlichen Rechts, der sich mit Religion und Religionsgemeinschaften befasst.

Staatskirchenrecht ist: „die Summe jener staatlichen Rechtsnormen (Gesetze, Verordnungen, Staatsverträge), welche Kirchen und Religionsgemeinschaften in ihrem Verhältnis zum Staat, untereinander und zum einzelnen Mitglied oder Nichtmitglied sowie die Rechtsstellung einzelner physischer und juristischer Personen unter dem Gesichtspunkt von Glaube, Gewissen und Weltanschauung betreffen.“13

Der Begriff erscheint im Kontext der wachsenden religiösen Pluralisierung etwas einseitig. Zudem wird rein sprachlich der Eindruck erweckt, als seien Staat und Kirchen miteinander institutionell verwoben. Um die Weite und Neutralität des historisch überkommenen Begriffs zu erfassen14, bedarf es erläuternder Bemerkungen. Es geht nicht nur um die Beziehungen der Institutionen Staat und Kirche, sondern auch um die in den Menschenrechten und dem jeweiligen Verfassungsrecht wurzelnden Rechte der Religionsgemeinschaften und der einzelnen Gläubigen. Das Staatskirchen- und Religionsrecht behandelt also in umfassender Weise alles Kirchliche und Religiöse, das für die staatliche Rechtsordnung relevant ist.15 Auch wenn der Begriff damit nur einen Teil der tatsächlichen Wirklichkeit des rechtlichen Verhältnisses von Staat und Religion abbildet, ist er nach wie vor der üblicherweise verwendete Begriff und daher auch heute, trotz der veränderten Rahmenbedingungen, nicht obsolet. Freilich eignet er sich im religionspluralen Staat nur noch, wenn es um die rechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat und den (christlichen) Kirchen geht, weil hier aufseiten der Religionen typische Verkirchlichungstendenzen begrifflich vorauszusetzen sind. Allein die Berufung auf den systemprägenden Charakter der Beziehungen zwischen dem Staat und den Kirchen16 vermag heute nicht mehr zu überzeugen.

2. Religions- und/oder Religionsverfassungsrecht?

Der aus dem 19. Jahrhundert überlieferte und bis heute definitorisch verwendete, aber nicht mehr ideologisch belastete Begriff „Staatskirchenrecht“ insinuiert die soeben angesprochene Verwobenheit als eine Superiorität des Staates über die Kirche und wird daher bisweilen nicht als glücklich angesehen. Synonym kann dazu in der multireligiösen Gesellschaft auch der Begriff des „staatlichen Religionsrechts“ verwendet werden, den der Bochumer Jurist und zeitweilige nordrhein-westfälische Kultusminister Paul Mikat bereits 1980 in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht hat.17 Dieser Begriff ist bisher aber (noch) eher weniger verbreitet, wird aber im Hinblick auf eine multireligiöse oder multiweltanschauliche Gesellschaft an Bedeutung gewinnen18 und scheint auch für den internationalen Dialog, z.B. das Religionsrecht in der EU betreffend, besser geeignet zu sein.19 Als weiterer Begriff taucht in der wissenschaftlichen Literatur der des „Religionsverfassungsrechts“ auf. Dieser unterscheidet sich von dem neutraleren des Religionsrechts durch die zumindest latente Ein- bzw. Unterordnung dieses Rechtsgebiets unter die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes.20 Das muss vor dem Hintergrund der Grundrechte der Art. 1-19 GG nicht negativ gesehen werden, weist aber auf eine weitere Tendenz hin, die dazu neigt, das gesamte Rechtsgebiet nur aus staatlicher Sicht zu betrachten. Geht man jedoch davon aus, dass es sich bei dem Staat und den Religionsgemeinschaften um jeweils autonome Entitäten handelt, greift dieser Begriff zu kurz. Daher wird das hier zu beschreibende Rechtsgebiet, wenn und insofern es nicht nur um die christlichen Konfessionen geht, besser mit Religionsrecht umschrieben.

Der Begriff bleibt so weit, dass er für eine Fülle von religiösweltanschaulichen Auffassungen, die mehr oder weniger organisiert auftreten, anwendbar ist. Daneben muss man die Tatsache berücksichtigen, dass durch die Pluralisierung der Bekenntnisse in Deutschland Religionen und Weltanschauungen heimisch geworden sind, die keinerlei Verkirchlichungstendenzen aufweisen. Das gilt im Besonderen für den Islam und das Judentum. Daher ist die Etablierung des Begriffs Religionsrecht angemessen, wenn damit nicht eine dezidiert antichristliche Haltung verbunden ist. Dieser Begriff entspricht auch der Wortwahl in den religionsrechtlichen Artikeln des Grundgesetzes und der Weimarer Reichverfassung.

Merke: Das Staatskirchen- und/oder Religionsrecht ist ein Teilgebiet des deutschen öffentlichen Rechts. Es umfasst die vom Staat erlassenen Gesetze und Verwaltungsvorschriften, die sich auf die Rechtsstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sowie deren Verhältnis zum Staat beziehen. Das Staatskirchenrecht ist nicht der Anwendung auf die in Deutschland etablierten Religionsgemeinschaften vorbehalten. Solange jedoch bewusst ist, dass durch den Gebrauch des Begriffs „Staatskirchenrecht“ nicht eine vorweggenommene Einordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche erreicht werden soll, sondern er als neutraler Begriff für eine juristische Disziplin verwendet wird, welche als einen Schwerpunkt das Verhältnis von Staat und Kirche zum Gegenstand hat, kann an diesem Begriff festgehalten werden.21

Der Begriff Religionsrecht greift auf die Terminologie in den religionsrechtlichen Artikeln des Grundgesetzes zurück und eignet sich für die Diskussion der Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und allen Religionen unbeachtlich seines historischen Herkommens.

1 Vgl. Ansgar Hense, Kirche und Staat in Deutschland, in: Stephan Haering, Wilhelm Rees, Heribert Schmitz (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts (HdbkathKR), Regensburg 32015, 1830-1865,1836.

2 Vgl. Friedhelm Hufen, Staatsrecht II. Grundrechte, München 22009, 371.

3 Vgl. Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee, Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, Heidelberg 1989, 471-556, 472.

4 Vgl. BVerfGE 24, 236 (247 f.); 32, 98 (106); 33, 23 (28 f.); 41, 29 (50).

5 Die nachfolgenden kursiv gedruckten Entscheidungsnachweise sind dem Urteil entnommen und wegen der Lesbarkeit in die Fußnoten verschoben worden.

6 BVerfGE 24, 236 (246) BVerfGE 24, 236 (247).

7 BVerfGE 24, 236 (247) BVerfGE 24, 236 (248).

8 BVerfGE 10, 59 (84 f.); 12, 45 (54); 19, 1 (8); 19, 226 (238 ff.); 19, 268 (278 ff.).

9 BVerfGE 18, 385 (386 f.).

10 BVerfGE 83, 341(353).

11 Vgl. ebd.

12 Siehe dazu: Dietrich Pirson, Die geschichtlichen Wurzeln des deutschen Staatskirchenrechts, in: Joseph Listl, Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland (HdbStKR), Bd. II, Berlin 21994/95, 3-46, 11, Anm. 18; Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Josef Isensee, Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, Heidelberg 22001, 471-556, 472.

13 Helmuth Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1984, 1.

14 Vgl. Ansgar Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: Andreas Haratsch, Norbert Janz, Sonja Rademacher, Stefanie Schmahl, Norman Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat: 41. Tagung der Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachrichtung „Öffentliches Recht“, Potsdam 2001, 9-47, 9 ff.

15 Vgl. Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, (Fn. 3), 472.

16 Vgl. Alexander Hollerbach, Staatskirchenrecht, in: Stephan Haering, Heribert Schmitz (Hrsg.), Lexikon des Kirchenrechts, Freiburg 2004, 904-909, 905.

17 Vgl. Paul Mikat, Zur rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen, in: ders. (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, Darmstadt 1980, 319 ff, 323, Anm. 9.

18 Als erste wissenschaftliche Einrichtung hat sich der Lehrstuhl für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Fribourg in Institut für Religionsrecht umbenannt. Heinrich de Wall, Christian Walter und Stefan Korioth haben 2010 eine neue Schriftenreihe zum Religionsrecht etabliert (Nomos). 2014 wurde an der Johannes Gutenberg-Universität das Zentrum für Interdisziplinäre Studien zum Religions- und Religionsverfassungsrecht gegründet.

19 Vgl. zum Stand der Diskussion: Axel Frhr. von Campenhausen, Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, München 42006, 38 f.

20 Vgl. Ansgar Hense, Kirche und Staat in Deutschland, (Fn. 1), 1836ff.

21 Vgl. hierzu Ansgar Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht (Fn. 14), 9 ff.

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