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3. Im klinischen Fokus der zeitgenössischen Psychoanalyse: Die psychotherapeutische Beziehung
ОглавлениеWas für das normale Seelenleben gilt, hat Gültigkeit auch für jene seelischen Erkrankungen, mit denen wir es in aller Regel im Behandlungszimmer zu tun haben. Sie werden nicht länger als isolierte Normabweichungen im Rahmen eines bestimmten Krankheitsmodells verstanden, sondern als Resultat einer gestörten Beziehungsgeschichte, die in neurotischen und psychotischen Symptomen, Borderline-Strukturen oder anderen Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten mit Krankheitscharakter ihren Niederschlag gefunden hat. Solche Einsichten verändern unser Verständnis der psychotherapeutischen Situation ebenso wie unser Selbstverständnis als Therapeuten.
Vereinfacht gesagt steht klinisch nicht mehr der intrapsychische Konflikt des Patienten im Zentrum, den der Therapeut qua Deutung aufzulösen hat, sondern die Beziehung zwischen Patient und Therapeut, in der sich das problematische Verhältnis des Patienten zur Welt und zu sich selbst entfaltet. In der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung, aber auch in den vielfältigen Enactments, die den therapeutischen Prozess begleiten, erkennen wir Beziehungsangebote des Patienten, in die wir uns unvermeidlich verwickeln lassen und die wir eben deshalb gemeinsam mit ihm bearbeiten können.
Zwar bleibt die psychotherapeutische Beziehung auch in dieser Neujustierung asymmetrisch, weil Analytiker und Analysant nach wie vor in unterschiedlichen Rollen am analytischen Prozess beteiligt sind. Sie bekommt aber eine egalitäre Färbung, weil der Analytiker der Wechselseitigkeit in der Beziehung mehr Aufmerksamkeit widmet, z. B. lässt er den Patienten an seinen therapeutischen Überlegungen teilhaben. Indem er seine Deutungen als probatorisch deklariert, anstatt sein Wissen mehr oder weniger autoritativ anzuwenden, verringert sich das Machtgefälle. Dass er sich – anders als in der klassischen Psychoanalyse – mehr im »Hier und Jetzt« bewegt und stärker als Person, als emotional engagierter und mitfühlender Teilnehmer zu erkennen gibt, verändert auch die Atmosphäre in der psychoanalytischen Situation.
Diese Entwicklung hat freilich auch eine Kehrseite. Bestand das Ziel der Kur früher darin, den Patienten in die Lage zu versetzen, am Ende der Behandlung seine wirkliche Lebensgeschichte möglichst wahrhaftig zu erzählen, haben sich einflussreiche Schulen der Psychoanalyse im letzten Vierteljahrhundert von der Leitidee einer lebensgeschichtlichen Rekonstruktion zunehmend entfernt: In der psychoanalytischen Moderne wird eher konstruiert als rekonstruiert. Wo Übertragung einst als Widerstandsphänomen gegen unerträgliche Erinnerungen galt, geraten tatsächliche Erinnerungen unter Verdacht, im Dienste des Widerstands gegen die Übertragungsbeziehung zu stehen.
In der auf Melanie Klein und Winfried Bion zurückgehenden Schule der Objektbeziehungstheorie geht es nahezu ausschließlich um die Beziehungsdynamik in der analytischen Situation: »History is rumor« (Bion). Es verwundert deshalb nicht, dass wir in manchen ihrer Falldarstellungen mehr über die Feinheiten des therapeutischen Mikrokosmos erfahren als über die wirkliche Biografie des Patienten. Und in den narrativen Ansätzen, die sich auf die phänomenologisch-hermeneutischen Traditionen der Philosophie berufen, wird gemeinsam mit dem Patienten bloß noch eine kohärente Geschichte erzeugt, ein Narrativ, das ohne Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit auszukommen meint.
Im amerikanischen Intersubjektivismus wiederum neigt man epistemologisch einem radikalen Konstruktivismus zu, der Subjektivität und Intersubjektivität so stark in den Blick nimmt, dass Objektivität in Gestalt von lebensgeschichtlicher Vergangenheit und äußerer Realität weitgehend ausgeblendet wird. Dabei genügt ein »schwacher« Konstruktivismus (vgl. Cavell 2006), um den seelischen Paradoxien im Sinne Winnicotts erkenntnistheoretisch gerecht zu werden. Was Winnicott als lebenslange Aufgabe des Einzelnen betrachtete, nämlich innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in Verbindung zu halten, gilt auch für die psychoanalytische Situation: Wie der Säugling eine objektive Außenwelt vorfindet, die er subjektiv dennoch erfinden muss, wird die tatsächliche Vergangenheit des Patienten unter Mitwirkung des Therapeuten rekonstruiert und zugleich konstruiert. Es gibt eine biografische Wahrheit, nach der beide am therapeutischen Prozess Beteiligten suchen – und die sie in demselben Prozess gemeinsam neu erschaffen.
Ungeachtet aller Unterschiede hat gerade die Konzentration der Gegenwartspsychoanalyse auf das Beziehungsgeschehen in der analytischen Situation die Kluft zu psychotherapeutischen Verfahren anderer Provenienz verringert. In dem Maße wie die therapeutische Interaktion in den Fokus gerät, ergeben sich Annäherungen an nicht-psychoanalytische Therapieverfahren wie die Gesprächspsychotherapie, die Gestalttherapie oder bestimmte Spielarten der Körperpsychotherapie (vgl. den ausgezeichneten Übersichtsband zum Körpergeschehen in der psychoanalytischen Therapie von Geißler und Heisterkamp, 2007), die dem »Hier und Jetzt« in der therapeutischen Beziehung immer schon Bedeutung zuerkannt haben. Bei allen Unterschieden in klinischer Theorie und therapeutischer Praxis nähert man sich einander an, ohne dass sich schon von einer Konvergenz der Psychotherapieschulen sprechen ließe.
Bestätigt wird diese Entwicklung durch den Zentralbefund der komparativen Psychotherapieforschung. Der entscheidende Faktor für die Wirksamkeit einer Psychotherapie scheint weniger die psychotherapeutische Methode zu sein als vielmehr die Person des Therapeuten und damit die therapeutische Beziehung. Diese Einsicht sollte die gesamte Profession ermuntern, die alten Schlachtfelder zu verlassen und sich in komparativen Studien dem Beziehungsgeschehen in der Psychotherapie zu widmen.