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2. Innen, Außen, Zwischen: Das ›Inter‹ als neue Kategorie der Metapsychologie
ОглавлениеDas Individuum entwickelt sein Seelenleben nicht wie der Apfel aus dem Kern und wird ebenso wenig durch ein genetisches Programm wie durch Triebschicksale determiniert. Das naturalistische Entwicklungsmodell, demzufolge der Einzelne seine im biologischen Substrat enthaltenen psychischen Dispositionen lediglich entfaltet, verfehlt ebenso wie das kulturalistische Modell sozialer Prägung den eigentümlichen Charakter der conditio humana: Die Menschwerdung verdankt sich in hohem Maße einem ständigen Austausch zwischen dem Individuum und einer soziokulturellen Umwelt, die nicht zuletzt aus anderen Subjekten besteht. Jedes menschliche Wesen wird soziobiologisch wie mental in Gattungsbeziehungen hineingeboren und entwickelt sein Selbst im Rahmen dieser Beziehungen: durch narzisstisch, libidinös oder aggressiv gefärbte Bindungen, durch Akte der Identifizierung und Abgrenzung, durch soziales Feedback und andere reflexive Mechanismen, durch Anpassungszwänge und Widerstandsleistungen hindurch.
Ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis im Sinne einer schlichten Kausalität existiert im Seelischen nicht. Die menschliche Psyche wird nicht hergestellt. Der einzelne Mensch ist nicht das Produkt seiner Natur, aber auch nicht das Produkt von Umständen. Er ist überhaupt kein Produkt – weder das genetisch programmierte Ergebnis bestimmter Sequenzen auf der Doppelhelix noch das Ergebnis in der Tiefe des Unbewussten wirkender Triebkräfte. Andererseits entstehen individuelle seelische Strukturen, die als Ensemble auf der mentalen Hinterbühne wirken und die Persönlichkeit ausmachen, auch nicht aus eigener Schöpfungskraft: Das Subjekt generiert sich nicht selbst und schon gar nicht aus freien Stücken (wie etwa in der romantischen Idee vom Selbstentwurf gedacht). Paradoxerweise individuiert sich der Einzelne gerade dadurch, dass er sich seine lebensgeschichtlich kontingenten Erfahrungen mit sich selbst und anderen intrapsychisch aneignet.
Im Prozess seiner Individuierung verwandelt der Mensch die von den Biowissenschaften unterstellte »Kausalität der Natur« in eine »Kausalität des Schicksals«, und zwar auf dem Wege der Selbstaufklärung, die ihn dazu nötigt, Verantwortung für seine eigene Biografie zu übernehmen (vgl. Habermas 2005, im Anschluss an Kant und Hegel). In diesem Sinne könnte man den psychoanalytischen Prozess als eine nachholende Aneignung der eigenen Lebensgeschichte durch den Patienten begreifen, der zuvor mit seinem Leben hadert und die Verantwortung dafür an seine genetische Ausstattung, an die mangelhafte Erziehung durch seine Eltern, an die Schwächen der gesellschaftlichen Bildungssysteme, an seine ökonomische Unterprivilegierung oder an die sozialen Verhältnisse im Allgemeinen abgeben mochte.
Gewiss ist der zunächst relativ hilflose Säugling in einem elementaren Sinne von Pflege und Versorgung abhängig. Aber von Geburt an besteht er darauf, Rückmeldungen auf seine Lebensäußerungen zu erhalten – und zwar nicht nur in Gestalt der Befriedigung seiner unmittelbaren Existenzbedürfnisse (Nahrung, Wärme, Sicherheit), sondern auch Antworten, die ihm eine Rückmeldung zu den Wirkungen seiner eigenen Aktivitäten bieten, signifikante Reaktionen seiner Bezugspersonen im Sinne einer Bestätigung, eines Echos oder einer Spiegelung. Dieses Bedürfnis nach Reflexion im Anderen begleitet das werdende Subjekt und bleibt ihm lebenslang erhalten. Als Wunsch nach intersubjektiver Anerkennung gehört es offenbar zu unserer mentalen Grundausstattung und schlägt in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit so manche lebensweltliche Kapriolen. So hat sich in den interaktiven Formaten des Fernsehens oder in den sozialen Netzwerken im Internet eine panoptische Kultur etabliert, die an dieses Grundbedürfnis, von anderen gesehen zu werden, andockt – gelegentlich bis zur Auflösung jeglicher Schamgrenze (vgl. Altmeyer 2003).
Was Freud noch als Stufen der Libidoentwicklung unter dem Begriff der »Triebschicksale« zu erfassen suchte, würden wir heute eher als »Beziehungsschicksale« begreifen: Interaktionserfahrungen, die sich in die Psyche des Individuums auf reflexivem Wege einschreiben. Denn erst in der Interaktion mit seiner sozialen Umwelt gewinnt der Mensch eine Ahnung davon, wer er ist. Durch seine Beziehungen hindurch erwirbt er ein Verhältnis zu sich selbst und zur Welt. Es ist die psychische Sedimentierung seiner Beziehungserfahrungen, die die eigene Persönlichkeit formen. Bis ins hohe Alter bleibt der Mensch auf diesen Kontakt zu anderen angewiesen, wenn er seelisch gesund bleiben will.
Wenn solche intersubjektiv vermittelten seelischen Bildungsprozesse aus der Bahn geraten oder gar entgleisen, sprechen wir von psychischer Störung oder Krankheit. Dann finden wir auf der klinischen Ebene die intersubjektive Dimension auch in der Psychopathologie. In aller Regel gilt: Wo die Beziehungen zur sozialen Umwelt gestört sind, erkrankt auch die Seele, und wo die Seele erkrankt, sind auch die Beziehungen zur sozialen Umwelt gestört.