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Vorwort

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VORWORT

In den letzten Jahren hat sich ein bedeutsamer sozialer Wandel im Hinblick auf die Lebensbedingungen in der frühen Kindheit durchgesetzt. Das Modell des Aufwachsens von kleinen Kindern im exklusiven Bereich der eigenen Familie, wie es im Rahmen der Geschichte der Kindheit ab und zu idealisiert worden ist, wurde in der gelebten Wirklichkeit um vielfältige familienexterne Betreuungsangebote wie Kindertagesstätten und Spielgruppen erweitert.

Solche institutionellen Entwicklungen, die sich aus der engen Verzahnung von Erwerbs- und Familienleben und dem damit verbundenen Wandel der familiären Formen ergeben, können Stoff für bildungs- und sozialpolitische Polemiken oder gar kulturpessimistische Deutungen zur Gesellschaft als Ganzem abgeben. Ein Beispiel dafür sind die unter dem Titel »The War over the Family« (vgl. Berger & Berger 1987) bekannt gewordenen Auseinandersetzungen in den 1980er-Jahren in den USA. Dabei ging es darum, auf einer vom damaligen Präsidenten Carter einberufenen Konferenz familienstärkende Programme zu entwerfen. Doch die versammelten Expertinnen und Experten konnten sich noch nicht einmal auf einen Familienbegriff einigen, und demzufolge musste auch die Förderung ausbleiben.

Derartige Entwicklungen können aber auch dazu führen, dass sich die Bildungswissenschaften mit den gewandelten Bedingungen des Aufwachsens von Kindern beschäftigen und dabei – wie das die vorliegende Schrift exemplarisch vorführt – grundsätzliche Fragen des Lernens in frühpädagogischen Einrichtungen professionell aufgreifen und thematisieren. Diese Form der Auseinandersetzung mit der Lebenswelt der Kinder ist für alle jene interessant und bedeutsam, die in irgendeiner Form beruflich mit Kindern zu tun haben. Ich denke hier natürlich in erster Linie an das Personal von frühpädagogischen Einrichtungen, in denen kleine Kinder betreut werden. Aber nicht nur. Denn die Grundthese des Buches, wonach Lernen als eine soziale und eben nicht primär als eine individuelle Angelegenheit zu verstehen sei, richtet sich auch an alle, denen es ein Anliegen ist, dass sich Kinder ganz allgemein als gesellschaftliche Wesen erfreulich entwickeln können. Und damit wird auch der Gegenstand dieses Buches in seiner normativen Dimension erkennbar und in seiner theoretischen Anlage verortet.

Es geht darum zu verstehen, wie, soziologisch gesprochen, der Übergang von der primären zur sekundären Sozialisation sinnvoll und für die kleinen Menschen als Gesellschaftsmitglieder nützlich und ertragreich gestaltet werden kann. Dies ist keineswegs eine triviale oder gar selbstläufig geschehende Sache. Denn die primäre Einweisung in die gesellschaftlichen Dinge im Rahmen der Familie geht immer auch mit einer starken, exklusiven emotionalen Bindung einher, die lebenslänglich als Eltern-Kind-Beziehung bestehen bleibt. Als das erste gelernte Modell der sozialen Beziehung zu anderen Menschen wirkt es als ein Wirklichkeitsgenerator mit überwältigender Kraft auf alle Beteiligten ein. Und diese enorme Kraft muss in den frühpädagogischen Einrichtungen dahin gehend weiterbearbeitet und entwickelt werden, dass aus den Eltern als erste signifikante Andere, die Figuren des generalisierten Gegenübers in der Form von Lehrpersonen, Peers usw. entstehen können. Dieser Lernprozess, der zweifellos als eine Art der Erweiterung von Welt verstanden werden kann, geschieht in komplexen Beziehungsgeflechten mit Gleichaltrigen und Erwachsenen gleichermaßen. Und der Prozess bleibt im Grunde für das Subjekt eine lebenslange Aufgabe und Herausforderung, die aber in der frühen Kindheit beginnt und dort demzufolge richtig eingeleitet werden sollte.

Manfred Pfiffner und Catherine Walter-Laager beschäftigen sich deshalb im ersten Text des Buches ganz grundsätzlich mit dem Menschen als einem sozialen Wesen. Sie thematisieren dazu vielschichtige Bindungstypen, die Rolle persönlicher Beziehungen und der Beziehungsgestaltung über verschiedene Lebensaltersabschnitte von Kindern hinweg und begründen, weshalb und wie selbstbestimmte Aktivitäten dabei relevant sind und wie solches Tun von den Lehrpersonen gefördert werden kann. Susanne Grassmann vertieft im anschließenden Beitrag dazu einen zentralen Typus des sozialen Lernens, die Nachahmung. Sie zeigt dabei den Zusammenhang von Handlung, Nachahmung und sozialer Rolle auf und verweist auf die Bedeutung dieses Lerngeflechts für die Genese des kompetent handelnden Kindes. Ein damit eng verbundenes Thema, das für alle Kinder von allergrößter persönlicher Bedeutung ist, bearbeitet Jasmin Luthardt im Beitrag über Freundschaft im Kindesalter und deren sozial-emotionale Wirkung. Es wird gezeigt, wie sich Freundschaftsverhältnisse über die Altersspanne ausdifferenzieren, wie diese im pädagogischen Alltag von den Professionellen wahrgenommen werden und wie die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder gefördert werden kann. Komplementär dazu steht im darauf folgenden Beitrag von Catherine Walter-Laager und Carmen Plautz die Thematisierung des mindestens so bedeutsamen Streits unter Kindern. Streit kann ja nie aus sozialen Beziehungen ganz wegbedungen werden und sollte – soweit das natürlich überhaupt möglich ist – auch gelehrt und gelernt werden. Diese Überlegungen münden in die Frage von Karin Fasseing Heim, wieweit Regelstrukturen im Kindergarten für das Zusammenleben nützlich und sinnvoll sind. Sie zeigt, in welchem schulpädagogischen Kontext das Thema situiert ist, wie die Perspektive pädagogischer Antinomien zu einem anderen Verständnis von Regelhaftigkeit beiträgt, und nimmt interessante Bezüge zum sozialen Lernen der Kinder und der UN-Konvention über die Rechte des Kindes auf. Eine relevante Reflexion, wenn wir an die vielfältigen zu lernenden Regelsysteme für die Kinder in solchen Einrichtungen denken. Die daran anschließenden Ausführungen von Nathalie Portmann, in denen die sozialen Aspekte des Lernens theaterpädagogisch dargelegt und entwickelt werden, geben Hinweise auf die Möglichkeiten eines konstruktiven Miteinanders und belegen Funktion, Bedeutung und Wert von sozialen Gruppen. Nach so viel Beziehungs-, Regelungs- und Integrationswissen stellt Ariane Gernhardt das Buch beschließend die folgerichtige und m. E. wichtige Frage nach dem Verhältnis von individueller Freiheit und dem Drang zur Anpassung vor dem Hintergrund einer kulturell vielfältigen Gesellschaft. Eine Frage, auf die es selbstverständlich keine einfache und abschließende Antwort gibt und die deshalb auch exemplarisch am Beispiel einer Kindertagesstätte bearbeitet wird.

Zusammengenommen verhelfen die Beiträge zu einer anregenden Einsicht in professionelles Wissen zu sozialem Lernen in frühpädagogischen Einrichtungen. Die Texte verdienen es sicher, von der einschlägigen Fachöffentlichkeit zur Kenntnis genommen zu werden, und können darüber hinaus auch allen anderen nützlich sein, die sich mit der praktischen Gestaltung von frühkindlichen Lebensverhältnissen beschäftigen und dabei auf gehaltvolles Wissen dazu zurückgreifen wollen.

Prof. Dr. Christoph Maeder, Zürich

Beziehungen in der Kindheit

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