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Demographie und Geschichte
ОглавлениеEs ist kein Zufall, dass die Demographie in einer Weltgeschichte ein eigenes Kapitel einnimmt, und zwar besonders in dem Band, der sich mit der Entstehung der Moderne befasst. Die demographischen Entwicklungen dieser Epoche sind ziemlich gewichtig. Sie sind aber auch im Verhältnis zu anderen Aspekten der Geschichte etwas Eigenes. Demographie ist viel weniger als die Geschichte der Staaten und Gesellschaften, des Wissens und des Glaubens einem verstehenden und interpretierenden Blick zugänglich, auch wenn ihre Auswirkungen auf all diese Bereiche nicht zu ignorieren sind. Was man von der Historischen Demographie nicht erwarten sollte, ist, dass sie auf Grund der sehr persönlichen Daten, die sie verarbeitet (Namen, Geburts-, Heirats- und Todesdaten) und mit Hilfe geheimnisvoller Methoden irgendwie die Menschen in ihrem Kern und in allem, was ihnen wirklich wichtig war, erfasst und so den vielen von der politischen Geschichte nicht zum Sprechen gebrachten Menschen ein eigenes Gesicht und eine Stimme in der Geschichte gibt. In der Demographie geht es zunächst einmal nur um das blanke Präsent-Sein von zählbaren Menschen. Dazu gehören auch die Fragen, wie es zu diesem Präsent-Sein kommt (Kinder werden gezeugt, Zuwanderer kommen ins Land), wie es sein Ende findet (durch Abwanderung und Tod) und was für Konsequenzen das Präsent-Sein von Menschen hat – es kann nämlich ebenso gut das Blühen aufstrebender Landstriche anzeigen, wie es drangvolle Enge verursachen kann.
Untersuchung der Präsenz von Menschen
Präsent-Sein mag ein trockenes und sperriges Thema sein, aber ohne Menschen gibt es keine Geschichte, ohne Geburt und Tod keinen Lebenslauf, ohne Familien keine Wirtschaft. Die eigentümlichen Methoden der Demographie – bei denen es im Kern um mathematische Eigenschaften nicht der Individuen, sondern von Kohorten gleichzeitig geborener Menschen über die Zeit hinweg geht – bieten dabei eine Chance, die Ebenen des Einzelnen und des Kollektivs auf eine spezielle Art zu verbinden. Es geht hier nämlich nicht darum, dass das Einzelschicksal multipliziert mit Hundert oder mit einer Milliarde eben eine sehr große Zahl ergibt. Vielmehr hat das Vorhandensein der Hunderte oder Milliarden in einem bestimmten Raum (oder auch ihre kollektive Lebenserwartung und Fruchtbarkeit) Konsequenzen für die Einzelnen: Wo niedrige Lebenserwartung und niedrige Fruchtbarkeit vorwiegen, haben die meisten Menschen nur wenige Verwandte; wo die Bevölkerung wächst, kann es zum Verfall der Arbeitslöhne kommen; wo der Anteil der arbeitsfähigen Jahrgänge gering ist, muss man darüber nachdenken, wie die Gesellschaft Transferleistungen für die Alten und die Jungen organisiert. Mit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte ist die Demographie also eng verbunden.
Demographie und Kultur
Da es bei der Demographie nicht nur um das Zustandekommen der Bevölkerungszahl geht, sondern auch um ihre Konsequenzen, hat sie letztlich aber auch ganz erhebliche Implikationen für die Kulturgeschichte – nicht, wie es die ältere Forschung in nur selten gelingender Weise versucht hat, in der Art, dass aus der Zuständigkeit der Historischen Demographen für das Thema Heirat auch eine Expertise für das Thema Liebe und Emotion erwüchse, aus ihrer Zuständigkeit für illegitime Geburten eine Expertise für das Thema der Sexualität oder aus ihrer Zuständigkeit für das Thema Tod eine Expertise für die Frage der Kunst des Sterbens. Zu Liebe und Tod können wir bei Theologen, Soziologen und Literaturwissenschaftlern oft Kompetenteres anstelle solcher „demographischer Psychologie“ lesen. Es ist aber so, dass die Bevölkerung – vom Einzelnen aus betrachtet – immer aus anderen Menschen besteht, die auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmungen werden ganz besonders dort akut, wo jemand kommt oder geht. Demographische Ereignisse und Strukturen stellen also Bruchlinien dar, an denen in historisch unterschiedlicher Weise „demographische Konflikte“ auftreten. Heute sind bei uns Zuwanderung, Altersversorgung, Abtreibung und Sterbehilfe solche aktuellen, heißen Themen. Im Übergang zur Moderne stritt man eher über Familiengründung, Abwanderung und die Verantwortung für Kinder. Historische Demographie hat also auch viel damit zu tun, Wahrnehmungen und Regulierungen an diesen Bruchlinien zu untersuchen. Hierin und nicht in der nur scheinbar aufregenden Geschichte von Sex und Tod liegt ihre kulturhistorische Relevanz.