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Demographie und Weltgeschichte
ОглавлениеWir können abschließend darüber nachdenken, ob die Bevölkerungsgeschichte des langen 19. Jahrhunderts eigentlich Weltgeschichte ist. In einem der wichtigsten neueren Versuche einer Weltgeschichte des 19. Jahrhunderts (von Jürgen Osterhammel) kommt die Demographie nur halbiert vor, als Geschichte des Todes und der Medizin, aber ohne Bezüge zur Fertilität, also zum Heiraten und Kinderbekommen. In gewisser Weise ist das berechtigt. Die Biologie, die Geschichte der Menschen und der Mikroben, war bereits zu Beginn der Neuzeit global geworden. Seuchen wie die Syphilis waren die Konsequenz des großen interkontinentalen Näherrückens; schon seit dem Mittelalter tummelten sich die Pesterreger im ganzen eurasischen Raum. Im 19. Jahrhundert wurde auch die Ernährung Welternährung: nicht nur, weil die europäischen Unterschichten sich von der amerikanischen Kartoffel ernährten, sondern auch, weil mit der Dampfschifffahrt ein interkontinentaler Getreidemarkt entstand. Dass Fertilitätsgeschichte von weltweiten Abhängigkeiten handelt, kann man dagegen erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sagen. Um 1945 entstand, in Reaktion auf den Verlust Chinas für den Westen, erstmals so etwas wie eine Welt-Entwicklungspolitik. Bevölkerungspolitik, besonders der Versuch, in armen Ländern einen Fertilitätsrückgang zu beschleunigen, war (und ist) ein wichtiger Teil dieser Entwicklungspolitik. Welche demographischen Modelle und Theorien wir vertreten, hat insofern heute durchaus Auswirkungen auf globaler Ebene. Dennoch ist Weltgeschichte nicht nur eine Geschichte der wechselseitigen Abhängigkeiten, sondern auch eine Geschichte der Kontraste und Ähnlichkeiten. Die Übergangsmodelle, die im 20. Jahrhundert aus Furcht vor der Fertilität der Entwicklungsländer entwickelt wurden, greifen Selbst- und Fremdbilder aus dem frühen 19. Jahrhundert auf. Seit Malthus begriff Europa seine Fertilität als zurückhaltend, rational, vorausschauend – und die der „Anderen“ als überbordend, irrational und gefährlich. Der vergleichende Ansatz der modernen historischen Demographie zeigt, dass vieles von diesem Selbst- und Fremdbild auf Mythen beruht. Mythen allerdings sind selbst Fakten. Die Mythen der Europäer über ihre eigene Fertilität hatten und haben Konsequenzen; sie stellen daher ein gewichtiges Thema der Forschung dar.