Читать книгу Friedrich Nietzsche - Группа авторов - Страница 6

Christian Niemeyer Einleitung: Zum Stand der Nietzscheforschung und zu diesem Band

Оглавление

Geboten wird dem Leser mit dem vorliegenden Band eine nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellte Auswahl von insgesamt zehn Texten über Nietzsche aus den letzten gut dreißig Jahren. Sie entsprechen, nach Auffassung der Herausgeber, den Standards guter wissenschaftlicher Praxis und dürfen jeweils als exemplarisch gelten für einen bestimmten Forschungszugang zu Nietzsche. Insoweit sollen sie der hoffentlich immer wieder nachwachsenden Generation von Nietzschelesern eine Orientierung geben für ihr eigenes Bemühen um Verständnis der Primärliteratur. Dass es bei der Textauswahl jeweils um die Sache zu gehen hatte, nicht um die Person, versteht sich vielleicht von selbst, ebenso wie die Folge dessen: Big names zu offerieren, war nicht unser Interesse, auch gender correctness oder Gleichverteilung im Blick auf einzubeziehende Periodika oder Verlage oder auch nur nationale Zugehörigkeit kam als Auswahlkriterium nicht in Betracht. Eher schon entsprach ein Kompendium nach Art eines best of unseren Zielsetzungen. Dabei war am Ende natürlich auch der subjektive Faktor nicht ganz auszuschließen. Um diesen zu minimieren, durchforsteten wir – teils, gewollt, mit Laienblick – Hunderte von Texten aus den letzten dreißig Jahren, auch auf Hinweis konsultierter Experten, immer auf der Suche nach auch heute noch lesenswerten Texten, nach innovativen und gut begründeten Zugängen, die eine wichtige Deutungsspur im Blick auf Nietzsche freizulegen versprechen, der auch für die Zukunft noch Relevanz zukommen dürfte und ohne deren Berücksichtigung man Nietzsche unrecht täte.

Ganz neu ist diese Idee natürlich nicht, wie der einschlägige Sammelband Nietzsche (1980) von Jörg Salaquarda zeigt. Instruktiv sind dabei die Details: Als Salaquarda den Versuch unternahm, in Band 521 der Reihe Wege der Forschung der WBG „einen repräsentativen Überblick über die Entwicklung der philosophischen Nietzsche-Forschung von Anfang der fünfziger bis Ende der siebziger Jahre“ (Salaquarda 1996, VII) zu offerieren, wurde die Diskussion um Nietzsche zumal im deutschen Sprachraum noch sehr stark dominiert durch die Nachwirkung der Nazifizierung Nietzsches im Dritten Reich, aber auch durch die gegenläufige These etwa eines Georg Lukács, eine solche habe gar nicht stattgefunden bzw. sei, von einzelnen Retuschen abgesehen, gar nicht notwendig gewesen. Mindestens fünf der fünfzehn von Salaquarda wiederabgedruckten Texte (im Einzelnen: jene von Bataille [1949], Camus [1953/1969], Lukács [1954], Müller-Lauter [1974] und Montinari [1976]) gehörten zu diesem Themenkomplex. Nicht, dass Einwände wie jene von Lukács nicht auch heute noch hier und da zu finden sind, wie exemplarisch das Beispiel Domenico Losurdo (2009) lehrt (vgl. Niemeyer 2010). Aber anders als damals stehen heutzutage die Quellentexte und Hilfsmittel zur Verfügung, um derlei Streitfragen von der Sache her zu entscheiden, ganz zu schweigen von einschlägigen Forschungstexten: einige von ihnen (etwa jene von Lampl [1986], Santaniello [1997] und Fuchs [1998]) werden in diesem Band präsentiert.

Um aber die Auswahl insgesamt und die dabei leitenden Prinzipien zu erläutern, dies vor dem Hintergrund des aktuellen Standes der Nietzscheforschung, muss etwas weiter ausgeholt werden – mittels einer kleinen Geschichte. Sie nimmt ihren Ausgang in der Universität Leipzig, von deren damaligen Rektor Max Heinze sich Nietzsche noch im August 1883 sagen lassen musste, er solle sich erst einmal mit einer längeren Arbeit in seinem einschlägigen Berufungsgebiet, der Altphilologie, qualifizieren, ehe er für eine Lehrtätigkeit an dieser seiner alma mater in Frage käme. Heinze hatte es bei dieser Gelegenheit nicht unterlassen, den eigentlichen Ablehnungsgrund zumindest anzudeuten: die Gottlosigkeit, der Nietzsche im Zarathustra das Wort geredet habe – einen Hinweis, den Nietzsche, zutiefst betroffen, aber gewohnt sarkastisch kommentierte: „Bravo! Dieser Gesichtspunkt gab mir meinen Muth wieder!“ (KSB 6, 435) Heinze, seines Zeichens immerhin Philosophiehistoriker, reagierte zumindest a posteriori klug, also hinreichend flexibel, indem er über den zuvor von ihm mit Skepsis Bedachten rasch umlernte – und 1909 gar dem Stiftungskomitee des Nietzsche-Achivs beitrat. Nietzsche freilich konnte sich für diesen Trost nichts mehr kaufen – im Gegensatz zu seiner Schwester Elisabeth: Sie bezog aus Heinzes Teilhabe am von ihr gegründeten Nietzsche-Archiv neues Renommee und hätte 1917, wenn nicht gerade Krieg gewesen wäre, beinahe noch den Nobelpreis bekommen. So blieb es bei dem ihr 1921 von der Universität Jena verliehenen Dr. h. c. – eine Universität übrigens, die offenbar auch heute noch nicht wirklich zu interessieren scheint, dass die so Geehrte schon vor Jahrzehnten als skrupellose Verfälscherin der Werke und Briefe ihres Bruders entlarvt wurde (vgl. Niemeyer 2009; 2014). Was Nietzsche blieb, war das Gefühl, mit Heinze eben das erlebt zu haben, worüber ihn schon sein Jugendidol Arthur Schopenhauer aufgeklärt hatte. Denn auch Schopenhauers Trachten nach einem Philosophielehrstuhl blieb unerfüllt, und sein Zorn darüber entlud sich 1851 in einer Philippika der Universitätsphilosophie, die das skandalisierte, was er in seinem Fall meinte als Regel erkundet zu haben: nämlich dass, wie Nietzsche die Sache 1874 spöttisch auf den Punkt brachte, die „Kärrner“ untereinander eine Art „Arbeitsvertrag“ geschlossen „und das Genie als überflüssig decretirt“ hätten – „dadurch dass jeder Kärrner zum Genie umgestempelt wird“ (KSA 1, 301).

Die Entstehung des Neuen – um die Moritat, wie ja auch die Vokabel ‚Arbeitsvertrag‘ nahelegt, nun ein wenig auf die Gegenwart hinzulenken – ist unter diesen Umständen natürlich kaum zu erwarten. Ersatzweise züchtet das Wissenschaftssystem aus sich heraus den ‚Kärrner‘ und adelt diesen Vorgang gerne unter Hinweis darauf, es gelte schließlich, Schülerschaft zu erzeugen. Wer sonnt sich denn auch nicht gerne in der Aura dessen, der ein Auge für junge Talente hat? Weit schwerer ist es da schon, dabeizubleiben. In manche Zitierkartelle wird man freilich grundsätzlich nicht aufgenommen, nicht seiner Hautfarbe wegen, sondern schlicht nur deshalb, weil man einer Zunft zugehört, die insgesamt nicht gut beleumundet ist (wie, um ehrlich zu sein, die Zunft der Nietzscheforscher). Ähnlichen Ritualen hat sich der auszusetzen, der – wiederum gibt, siehe Heinze, Nietzsche das Beispiel ab – als Altphilologe ins Rennen gegangen, auf einem vermeintlich fachfremden Gebiet, dem der Philosophie, zu reüssieren sucht. Entsprechend schlecht ist das Image Nietzsches zumal bei Fachphilosophen auch heute noch. Selbst der renommierte Kant- und Nietzscheforscher Volker Gerhardt resümierte unlängst bitter: „Auch wenn sein Werk in fast allem unfertig geblieben ist, obgleich sich viele seiner Gedanken in einer exaltierten Geste erschöpfen und es in seinen Schriften kaum eine Einsicht gibt, die sich nicht schon bei anderen findet, ist er zum Klassiker der Philosophie geworden.“ (Gerhardt 2012, 31) Die dem angeschlossene Fehlerliste Gerhardts in Sachen Nietzsche hat es denn auch in sich: „Missachtung Hegels“, „Spott über Schleiermacher“, „Verrat an Kant“, „Schwanken zwischen Leugnung der Freiheit und der Affirmation des ‚freien Geistes‘“, „Verkennung der Metaphysik“, „Annihilation der Schulen“, „unbekümmerte[r] Umgang mit Widersprüchen in seinen eigenen Schriften“ (ebd., 32), nicht zu vergessen, und dies eher aufs Spätwerk hin gemünzt: „Phantasterei“, „empörende Wertung[en]“, „Ressentiment[s] gegen Juden und Christen“ (ebd., 43) – kurz: Ginge es nach Gerhardt, immerhin seit über zwanzig Jahren (zusammen mit Renate Reschke) Herausgeber der Nietzscheforschung und von seinem Gegenspieler Werner Stegmaier – seit gut fünfzehn Jahren maßgebender Herausgeber der Nietzsche-Studien – inzwischen wegen Äußerungen wie den zitierten unter der Rubrik „‚Anti-Nietzsche‘“ (Stegmaier 2013, 360) gelistet, wäre ein Sammelband wie dieser wohl eher überflüssig und jedenfalls keine erbauliche Lektüre.

Freilich: Hier und im Folgenden geht es um anderes und andere und schon gar nicht um die Interessen jener beiden gate keeper, die offenbar ihre Lesarten, die sie sich über Jahre hinweg erarbeitet haben und die ihnen mitunter, vermittelt über Lehrer-Schüler-Verhältnisse, zu einer zweiten Haut geworden sind, nicht in Frage stellen lassen wollen. Dass die Forschung unter derartigem Beharrungsvermögen leidet, ist evident und anhand von Dissertationen zu besichtigen, denen ohne weiteres anzusehen ist, welcher ‚Schule‘ sie entstammen und welche konkurrierenden Sehweisen folglich ausgeblendet blieben. Die Pointe dessen liegt auf der Hand: Man hört auf, das zu werden, was Nietzsche, jedenfalls bis hin zu seiner auf Selbstverherrlichung abstellenden Autobiographie Ecce homo (vgl. Niemeyer 2014a), auch für sich als verpflichtend annahm und im Gegenbild des alternden Gelehrten – wohl Nietzsches ‚Doktorvater‘ Friedrich Wilhelm Ritschl – zu fassen suchte: „Nun ist es vorbei mit seinem früheren trotzigen, dem eignen Selbst überlegenen Verlangen nach ächten Schülern, nämlich ächten Fortdenkern, das heißt, ächten Gegnern: jenes Verlangen kam aus der ungeschwächten Kraft, aus dem bewussten Stolze, jederzeit noch selber der Gegner und Todfeind seiner eigenen Lehre werden zu können, – jetzt will er entschlossene Parteigänger, unbedenkliche Kameraden, Hülfstruppen, Herolde, ein pomphaftes Gefolge. Jetzt hält er überhaupt die furchtbare Isolation nicht mehr aus, in der jeder vorwärts- und vorausfliegende Geist lebt, er umstellt sich nunmehr mit Gegenständen der Verehrung, der Gemeinschaft, der Rührung und Liebe, er will es endlich auch einmal so gut haben, wie alle Religiösen“ (KSA 3,311f.).

Soweit also diese einführende kleine Geschichte, die uns Nietzsche als unerschrockenen, nach wie vor Beispiel gebenden Wissenschaftskritiker vor Augen führt und die vielleicht hilft, einige Probleme gegenwärtiger Nietzscheforschung, von denen im Folgenden etwas genauer die Rede sein wird, einzuordnen. Begonnen sei dabei mit der Beobachtung, dass wir, wenn nicht alle Anzeichen täuschen, im Moment Zeugen einer Art Überproduktionskrise werden: Von Vielen heftig bedient, von Wenigen durchaus skeptisch gesehen, überschwemmt seit einigen Jahren eine förmliche Nietzsche-Industrie den Markt und versorgt ein offenbar nach wie vor hungriges Publikum mit immer neuen Publikationen über Nietzsche, sei es in Gestalt von Einführungen oder Kommentaren, sei es in Gestalt der wissenschaftlichen Abhandlung oder Monographie, sei es in Gestalt von Lesebüchern oder gar Gesamtausgaben, selbstredend diesmal solchen, die allen editorischen Anforderungen und quellenkritischen Bedenken Rechnung tragen (etwa Krahmer 2009; Szabó 2011; Biskup 2011; Santini 2012; Brock 2012; Born 2012; Reschke 2012; Mengaldo 2012; Benne 2013). Nicht, dass darunter nicht zahlreiche wichtige Texte sind, die der Nietzscheforschung einigen Auftrieb geben dürften. Und doch bleibt der Eindruck eines Überangebots. Lautstark verkündete Qualitätsstandards („Die Bände sind peer-reviewed“), in diesem Fall aus dem Hause des – nach Übernahme des Akademie Verlags – Nietzsche-Fast-Monopolisten de Gruyter (für die Reihe Nietzsche heute/Nietzsche today), sollen diesen Eindruck offenbar erst gar nicht erst aufkommen lassen, sind aber mitunter, wie an einem Fall (Niemeyer 2013b) gezeigt werden könnte, nicht wirklich ernstzunehmen, wie im Übrigen jeder weiß, der, auch in anderen Fächern, hinter die Kulissen des Begutachtungs(un)wesens und der auch hier gängigen Ämterhäufung und Prominentenpatronage zu blicken vermag.

Aber man kann noch einen Schritt weiter gehen. Denn nicht eben wenige Publikationen erwecken fast den Eindruck, es sei zwar schon alles zu Nietzsche gesagt worden, aber eben noch nicht von jedem bzw. jeder. Dies mag auch daran liegen, dass bestimmte Themenbereiche ‚ausgeforscht‘ scheinen, etwa: der Nietzsche/Wagner-Komplex (zuletzt: Georg 2013a; Rupschus 2013) inlusive der perönlichen Hintergründe („tödliche Beleidigung“) für den Bruch zwischen beiden (zuletzt: Winteler 2011), das Nietzsche/Freud-Problem (zuletzt: Gödde 2012), die Nietzsche/Salomé-Frage (zuletzt: Goch 2012; Babich 2012), die Problematik der Edition von Der Wille zur Macht (zuletzt: Niemeyer 22011), der Gedanke der ‚Ewigen Wiederkunft‘ (zuletzt: Vaas 2012), Nietzsches Stellung zu den Deutschen (zuletzt: Rupschus 2011, 2013) und zum Antisemitismus (zuletzt: Niemeyer 2012), Nietzsches Psychologie (zuletzt: Neymeyr 2012; Richardson 2012; Born 2012a) oder auch das Thema ‚Nietzsche und die Frauen‘ (zuletzt: Pechot Vuilleumier 2012; Klass Meilier 2012; Pieper 2012a). Vor diesem Hintergrund lässt sich Neues offenbar nur noch auf Kosten spektakulärer Begleitmusik als neu behaupten – was die These (von Brobjer 2006; 2011; zur Kritik: Drochon 2009; Winteler 2009; Niemeyer 2013a) erklären mag, Nietzsches Editionsprojekt Der Wille zur Macht (zuletzt: Umwerthung aller Werthe) sei sehr viel ernster zu nehmen als man in der Nietzscheforschung seit Montinari meint. Auch das Argument (von Prange 2011; zur Kritik: Landerer 2012), Nietzsche sei, wenn überhaupt, sehr viel kürzere Zeit als bisher angenommen Wagnerianer gewesen, gehört diesem Kontext zu. Gern glauben würde man auch, dass Nietzsches Problem mit den Deutschen Bedeutung habe „für sein philosophisches Denken“ (Rupschus 2011, 72) – wenn denn dem letztlich nichts weiter folgte als ein endloses Referat längst bekannter Sachverhalte. Auch das Argument (von Koszka 2010; ähnlich 2009), Nietzsche habe an einer Erbkrankheit mütterlicherseits gelitten und komme durchaus nicht als Syphilitiker in Betracht, bedarf in diesem Zusammenhang der Erwähnung, zumal diese ‚Neuerung‘ mit der fast vollständigen Demontage der so argumentierenden, in Nietzsches Biographie gänzlich unbewanderten Wiener Augenärztin seitens der gate keeper ihrer eigenen (Medizin-)Profession (etwa Klopstock 2013 und Schiffter 2013) endete. Denn dies zeigt ja, dass sie zumindest im Nachgang funktionierten: die Selbstheilungskräfte des Marktes.

Und doch: Eingedenk des Umstandes, dass die Aufgaben der Nietzscheforschung inzwischen, angesichts des komplizierten und komplexen Sujets und nach einer überaus fatalen Rezeptions-, wenn nicht gar Missbrauchsgeschichte, eigentlich klar sein sollten, auch von ihrem Ernst und ihrer Wichtigkeit her, muten die nach wie vor zu notierenden Mängel durchaus erstaunlich an. Ein Beispiel, zu lesen vor dem Hintergrund der im Dritten Reich weitgehend bedenkenlosen Nazifizierung Nietzsches (vgl. Niemeyer 2013, 115ff.) und dem in der neueren Nietzscheforschung zunehmend monierten (etwa Pfeuffer 2013) Umstand der Abschottung speziell des anglo-amerikanischen Sprachraums: Es ist durchaus nicht akzeptabel, wenn beispielsweise Robert C. Holub seine durchaus alte (etwa Holub 2002) Verteidigungsrede in Sachen von Nietzsches Schwester nun in aktualisierter Form vorträgt (Holub 2014) – und sich wiederum nicht als sattelfest erweist im Blick auf die Problematik der in diesem Zusammenhang wichtigen deutschsprachigen Briefeditionen (vgl. Niemeyer 2014). Im Übrigen deutet dieser Fall sowie jener Domenico Losurdos – der sich noch 2009 als komplett unkundig erwies in Sachen des immerhin schon sechs Jahre zuvor nachgezeichneten Schicksals der von Nietzsches Schwester unterschlagenen Fritsch-Briefe (vgl. Niemeyer 2003) – darauf hin, dass die internationale Nietzscheforschung insbesondere in Fragen der Spezifika der frühen, deutschsprachigen Editionsgeschichte von Nietzsches Werken und Briefen in lokale Wissenskulturen zu zerfallen droht, je nach Sprachmächtigkeit und Rezeptionswilligkeit.

Tatsächlich aber sind die aktuellen Probleme der Nietzscheforschung noch sehr viel grundlegender, am Beispiel eines ‚Lastenheftes‘ für die Nietzscheforschung geredet, das sich aus einer Mängelrüge Werner Stegmaiers entwickeln ließe (die übrigens von ferne an die oben erwähnte und von Stegmaier kritisierte Nietzschekritik Volker Gerhardts erinnert): Wenn gilt, was Stegmaier im Blick auf Nietzsches Arbeitsweise für evident hält, nämlich dass Nietzsche „seine Schriften nicht nach den Gewohnheiten der Wissenschaften ab[sichert], […] gänzlich auf wissenschaftliches Beiwerk, auf vorausgeschickte Thesen und abschließende Schlussfolgerungen, auf kohärente und hierarchisch geordnete Argumente [verzichtet], auf Angaben von Quellen und Einordnungen in Forschungsfelder, auf gelehrte Auseinandersetzungen mit abweichenden Forschungsmeinungen (stattdessen bedient er sich meist der Polemik), auf Anmerkungen […] und selbst auf eine feste Terminologie“ (Stegmaier 2009, 19) – dann, so scheint mir, macht es wenig Sinn, diese Arbeitsweise als Nietzscheforscher auch noch zu kopieren. Anders gesagt: Nietzsche, dem Genie, mag man derlei sowie die wenig später von Stegmaier nachgereichten Mängelrüge: „spricht ganz aus eigenem Recht, führt seine Begriffe gleitend ein, lädt sie schrittweise pathetisch auf […], personalisiert“ etc. pp. (Stegmaier 2010, 66) nachsehen, nicht aber der Nietzscheforschung, zumal sie ihren Auftrag hier eigentlich recht gut umschrieben findet: Es geht darum, das zu leisten, was Nietzsche schuldig blieb, also schrittweise und gleichsam in kollektiver Anstrengung, auch beispielsweise durch Ausschaltung unwahrscheinlicher Lesarten, den ultimativen Kommentar zu seinem Werk zu erstellen und durch fortlaufende Arbeit zu optimieren.

Gleichwohl ist nicht eben selten, als gelte es, dem Genie Nietzsche seine recht eitle Referenz zu erweisen, exakt das Gegenteil zu beobachten, mit dem Ergebnis, dass zwar sehr viele Texte über Nietzsche im Umlauf sind, aber zugleich leider sehr wenige, die den Eindruck erwecken, sie seien auf die Bedürfnisse jener Interpretengemeinschaft hin konzipiert. Dies hat, um die auf Nietzsche bezügliche Litanei Stegmaiers kritisch auf die aktuelle Nietzscheforschung anzuwenden, auch damit zu tun, dass ‚gelehrte Auseinandersetzungen mit abweichenden Forschungsmeinungen‘ offenbar, unter dem Gebot des publish or perish, als zeitraubend und mithin als dysfunktional eingeschätzt werden. So erklärt sich dann möglicherweise auch der zunehmend zu beobachtende Trend, die relevante Sekundärliteratur zum je erörterten Problemkomplex zwar säuberlich aufzulisten oder – um auch den Fall des Ordinarius und eine in diese Richtung weisende Danksagung Werner Stegmaiers (2013a, 92) zu bedenken – auflisten zu lassen, nicht aber, auch in ihren Aufklärungsleistungen im Blick auf den eigenen Ansatz, ernsthaft zu diskutieren. Der zur Erläuterung dessen gelegentlich nachgereichte Satz, dieser oder jener Gedanke Nietzsches – in diesem Fall handelt es sich um den Gedanken der ‚Ewigen Wiederkunft‘ – sei nun einmal „kryptisch und vielseitig interpretierbar“ (Vaas 2012, 374), hilft nicht wirklich weiter und gibt eher dem Spottwort Auftrieb, auf diese Weise sei wenigstens die ewige Wiederkehr der Nietzscheforschung gesichert.

Immerhin: In Zeiten der Postmoderne muss man offenbar dankbar sein, wenn überhaupt noch Rechenschaft über Gelesenes gegeben wird und nicht, ersatzweise, dem Literaturverzeichnis treuherzige Versicherungen vom Typus voranstehen: „Der Versuch einer umfassenden Bestandsaufnahme der Literatur zum Themenkreis [Nietzsche/Wagner; d. Verf.], resp. den behandelten Thematiken, scheint kaum möglich, noch zielführend.“ (Hofbauer 2007, 185) Die letzte Vokabel klingt ambitioniert und geheimnisvoll – wenngleich es in diesem Fall wohl ehrlicher gewesen wäre, wenn der Autor darauf hingewiesen hätte, dass er vor lauter Schreiben gar nicht mehr richtig zum Lesen, geschweige zum richtigen Lesen gekommen sei (womöglich ähnlich wie die ggfs. beteiligten Gutachter oder Lektoren). Nimmt man noch den offenbar nicht auszurottenden Prominentenbonus hinzu, beispielsweise zutage tretend in wortreichen Verbrämungen (etwa Holzer 2012, 412) zuvor geübter, sachlich berechtigter Kritik in Rezensionen (in diesem Fall des Buches von Georg-Lauer 2011), überrascht nicht, dass Texte, die sich ausweislich des Literaturverzeichnisses (etwa Borsche 2012) bzw. unter Beiseitesetzung der säuberlich bis ins Jahr 2011 aufgelisteten Eigenzitate auf dem Stand des Jahres 2000 bewegen, noch über ein Jahrzehnt später ohne Beanstandung abgedruckt werden (etwa Abel 2012). Auch Texte fast ohne Sekundärliteratur (etwa Georg 2011; Pieper 2012a) – die eigene natürlich abgerechnet (etwa Richardson 2012) – sind deutlich auf dem Vormarsch.

An sich nicht weiter der Begründung bedürftige Standards vom Typus ‚Bericht über den Stand der Forschung‘ als conditio sine qua non alles Weiteren sind entsprechend außer Mode gekommen, Referate – etwa zur Einordnung von Zarathustra IV (Dellinger 2011, 159, Fn. 17) oder von dessen letzten Abschnitt (vgl. Braun 2012, 257f) – sind nicht eben selten unvollständig. Dem korrespondiert (etwa bei Nicodemo 2012, 225, Fn. 1) die Unsitte der Verbeugung vor Autoritäten bei gleichzeitigem Verzicht der Auflistung für das eigene Vorhaben („Vernunft bei Nietzsche“; Nicodemo 2012, 225; „die ‚andere Seite‘ der Vernunft“; Lossi 2012, 243) einschlägiger, aber von diesen ignorierten Arbeiten (etwa Niemeyer 1998). Dazu passt die diskussionsfreie Übernahme der von (anderen) Autoritäten vertretenen, aber durchaus umstrittenen Position, Nietzsches „lebenslange Aufgabe“ (Nicodemo 2012a, 386) gründe in der Absicht, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens“ (KSA 1, 14). Auch Literaturlisten (etwa jene von Rupschus 2011 im Vergleich zu jener von Bianchi 2013) erlauben mitunter den Rückschluss auf den jeweiligen Doktorvater. Beliebt ist auch das nachträgliche Einstreuen von Zitaten durchweg prominenter Autoren zwecks Kaschieren des Umstandes, dass man sich eigentlich, allein schon aus Zeitgründen, seinen eigenen Reim gemacht hat. Entsprechend sollten Versicherungen derart, man habe einen Blick auf die je relevante „Lektüre“ (Schubert 2011, 197) geworfen, besser in aller Vorsicht zur Kenntnis genommen werden. Ehrlicher – aber wohl nur arrivierten Autoren zu empfehlen – wirkt da schon die Versicherung, man wisse zwar, dass über den je erörterten Gegenstand schon „viel geschrieben worden“ sei, es sei aber „leider unmöglich“ (Pichler 2013, 202) bzw. es fehle Zeit oder Platz oder was auch immer, „darauf im Einzelnen einzugehen“ (Pieper 2012, 80). Zur Regel droht entsprechend die totale Diskursverweigerung zu werden nach dem Muster: diese oder jene – nicht eben selten vom eigenen Doktorvater oder jedenfalls doch vom relevanten gate keeper abgelehnte – Position eines (bekämpften) Dritten sei „schwer nachvollziehbar“ (Hable 2011, 182), eher „alles andere“ (Schubert 2011, 200) als überzeugend oder schlicht „zweifelhaft“ (Schubert 2012, 282), „entschieden zu kurz“ greifend (Schnyder 2013, 7) resp. ‚sprengend‘ (Pichler 2013, 202) für den eigenen Ansatz, ohne dass auch nur ein Argument vorgebracht worden wäre, aus dem sich entnehmen ließe, woran derlei Kritik genau festgemacht wird.

Diesem Themenkomplex gehört, gleichsam unter der Überschrift eines relativen Verfalls von Leselust, beispielsweise auch die – wohl unter dem Gesichtspunkt von gender correctness zu sehende – Urteilsfreude bezogen auf Nietzsches Brief an Malwida von Meysenbug, eine Ikone der Frauenbewegung, vom 20. Oktober 1888 (KSB 8, 457ff.) zu: „hart“ (Stegmaier 2008, 67) und „böse“ (Klaas Meillier 2012, 50) argumentiere Nietzsche hier – ohne dass der Kontext und insoweit der Hintergrund für Nietzsches Ärger zureichend berücksichtigt worden wäre (vgl. Niemeyer 2013, 99). Gott sei Dank wird man mit derlei Deutungspannen zumindest in seriösen Organen wie der Nietzscheforschung oder den Nietzsche-Studien ansonsten nur selten behelligt, abgesehen vielleicht von den – unverständlicherweise (unkommentiert) abgedruckten – Morgenandachten selbsternannter theologischer Nietzscheexperten. Monsignore Eberhard Prause beispielsweise erging sich selbst noch 2010, also gleichsam zum 110. Jubiläum von derlei christlich unterlegten Invektiven, in weiträumigen, von Sachkenntnis gänzlich ungetrübten Anklagen wg. Nietzsches angeblicher „Idealvorstellung seines neuen Menschen“ und bevorzugte ansonsten Vokabeln wie: Nietzsches „blanker Hass auf das Naumburger Milieu“, „Immer stärker gerät Nietzsche aus den Fugen“ etc. pp. (Prause 2010, 290f.).

Von etwas anderem Kaliber ist der oben bereits kurz angesprochene Fall des Jürgen Hofbauer. Hofbauer nämlich versah die Einleitung seiner (offenbar allerneuesten) Lesart Nietzsches – Nietzsche als ‚Philosoph der Verfeindungskunst‘ – mit dem warnenden Hinweis, aus dem Werk Nietzsche ließen sich vermutlich „diametrale Positionen“ zu der von ihm dargelegten „justifizieren“, eben deshalb habe er „erst gar nicht versucht […], diese Frage auf den klassischen Pfaden der Exegese und der Hermeneutik zu einer Klärung zubringen.“ (Hofbauer 2008, 89) Deutlich wirkt hier Hofbauers Studie How to do things with Nietzsche (2007) nach (zur Kritik: Holzer 2009, 433ff): Nietzsche, so der Autor hier, habe „zeitlebens“ an der Dekonstruktion der „Idee von Richtigkeit und Wahrheit (auch von Sprache und Literatur)“ gearbeitet, so dass derjenige, der sich gleichwohl der Idee der „Richtigstellung“ (etwa von Nietzschebildern) verpflichte, „die gesamte Strategie Nietzsches aufs Spiel [setzt].“ (Hofbauer 2007, 12) Dies ist fürwahr eine tollkühne Ableitung, in deren Linie dereinst tausend bunte Blumen mit der Aufschrift ‚Nietzsche‘ blühen werden und das Reden und Streiten über Nietzsche und mithin die Nietzscheforschung jeden Sinn verlöre.

Wirklich neu freilich ist dieses Herangehen an Nietzsche nicht, wie die Rückbesinnung auf Bernard Pautrat zeigt, der gleich zu Beginn seines in der Hochphase der Postmoderne gehaltenen Vortrags Nietzsche, medusiert (1972) deklarierte: „[J]eder hat schon gesagt, was über Nietzsche zu sagen er Lust hat, und es ist ein Kompromiß zwischen all diesen Lüsten kaum möglich […]. Ich möchte also, ohne weitere Umstände, von dem, was mich interessiert, reden und meine Begierde an der Lektüre realisieren.“ (Pautrat 1973, 113) Freilich, und dies fraglos zu Pautrats Enttäuschung: Auch hier darf man noch einmal gut sechzig Jahre zurückgehen, bis hin zu dem kroatischen Dichter Wilhelm Fischer, der 1910 deklarierte, dass ihm Nietzsches „aphoristische Denkart nicht eine systematisch zusammenhängende Darstellung“ abverlange, diese These mit der Pointe besiegelnd: „Ich knüpfe daher in seiner Weise an, wo es mir interessant erscheint, und lasse den Faden fallen, wo es nichts mehr nach meiner Anschauung zu weben gibt. Auch Wiederholungen, Widersprüche werden bei mir nicht ausgeschlossen sein; die Berechtigung dazu schöpfe ich aus Nietzsche selbst.“ (Fischer 1910, 2) Diese kaum noch verborgene Identifizierung mit dem heimlichen Selbstideal operierte zugleich mit der Vorstellung, dass, weil nichts mehr gewiss sei, den Leser doch immerhin interessieren könne, wie man sich selbst seinen höchst privaten Nietzsche bastele. Dass derlei auch gut einhundert Jahre später nicht ausgespielt hat, zeigt also das Beispiel Hofbauer – zusammen mit den Folgen. Denn Hofbauer ist zwar imstande zu durchaus nachvollziehbaren Mängelrügen wegen Bertrand Russels „leichtfertiger Gleichsetzung von Siegfried und Übermensch“ (Hofbauer 2008, 94) – kann diese aber nicht wirklich begründen, deutlicher: er darf sie letztlich, seiner eigenen Methode verpflichtet, gar nicht begründen, gilt doch für diese, gleichsam im Telegrammstil (des Verlages?) geredet: „Nietzsche nicht länger als ein Denker, der interpretiert werden könnte, sondern radikal nur noch als Methode, als Tool, als Aktion.“ (ebd.: Rückumschlag). Jeder, so könnte man derlei Sätze sarkastisch mit Nietzsche (etwa KSA 6, 292f.) kommentieren, will heutzutage offenbar „Denker“ sein, keiner hingegen mehr „Gelehrter“. Dass derlei psychologisch verständlich sein mag, sei eingeräumt, nur bleibt die Frage: Tut ein derartiger Redeanarchismus, zur Haltung geronnen und mithin Methode geworden, Nietzsche und der Nietzscheforschung eigentlich gut?

Die Frage ist rhetorisch, und sie kann es auch sein angesichts der Geschichte der Nietzscheinterpretationen. Dies zeigt exemplarisch die Rückbesinnung auf Otto Hartleben, der schon 1890 entschieden der Meinung war, dass sich der Versuch, eines systematischen Nietzsche habhaft zu werden, als ein dem Geist des zu Interpretierenden widersprechendes Unterfangen ausweisen lasse. In diesem Zusammenhang vertraute er seinem Tagebuch die Vision an: „Ich sehe eine Zeit herankommen, in der man diesen graziösen ‚Tänzer‘ mit plumpen Händen greifen und auf das Prokrustesbett der ernsthaftesten ‚Philosophie‘, der grausamsten Systematisierei zu fesseln versuchen wird.“ (Hartleben 1906, 118) Hartleben meinte dabei im Geiste Nietzsches sprechen zu können, im Geiste jedenfalls der Götzen-Dämmerung. Tatsächlich: In diesem seinem gleichsam allerletzten, im Monat des Turiner Zusammenbruchs erschienenen Werk erklärte Nietzsche das „Tanzenkönnen mit den Füssen, mit den Begriffen, mit den Worten“ zu einem der zentralen Merkmale einer „vornehmen Erziehung“, unerreichbar für den „Begriffs-Krüppel“ Kant, unerreichbar aber auch für den Deutschen allgemein, der nun einmal „keine Finger für nuances“ (KSA 6, 110) habe – und mithin auch ‚keine Finger‘ für ihn, denn, so Nietzsche zeitgleich in Ecce homo: „[I]ch bin eine nuance.“ (KSA 6, 362) Eben dieser Zusatz untersagt indes, den von Hartleben ausgemachten „graziösen ‚Tänzer‘“ Nietzsche gleichsam unter Artenschutz zu stellen – und verweist letztlich auf die Notwendigkeit der Bereitstellung methodologischer Optionen, der ‚nuance‘ Nietzsche hermeneutisch auf die Spur zu kommen. Dass gleichwohl der erstmals von Hartleben ausgesprochene Einwand noch über einhundert Jahre später nicht ausgespielt hat, zeigt das Beispiel Axel Pichler: Ohne offenbar etwas von Hartleben zu wissen – auch dies wiederum ein Hinweis auf den Niedergang der Lesetätigkeit bei modernen Nietzscheforschern –, redet auch Pichler jenem Passus aus der Götzen-Dämmerung das Wort, mit dem Ergebnis, dass er „Nietzsches Denkbewegung […] über das relativistische Parket (sic!) hinweg“ tanzen sieht (Pichler 2010, 160; ähnlich: 2012; zur Kritik: Stegmaier 2013, 366).

Des einen Freud, des anderen Leid, will sagen: Die Rechnung für diese leichtfertigpostmoderne Freude über die von Nietzsche angeblich – leider, so Jutta Georg in abenteuerlicher Argumentationsvolte, nur mit „gravierender Inkonsistenz“ (Georg 2013, 102) – beschworenen „Scheinwelten, Rauschwelten, Tanzwelten“ (ebd., 91) präsentierte schon vor Jahren der Kantianer (und Nietzsche-Verächter) Reinhard Brandt (2005, 92f.) in Gestalt seiner Empörung über den Spruch (gleichfalls aus der Götzen-Dämmerung): „Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“ (KSA 6, 63) Nietzsche plädierte mit diesem – ursprünglich den Systemanspruch seines geplanten Hauptwerks Der Wille zur Macht persiflierenden (S. KSA 13, 450) – Wort für Rechtschaffenheit resp. gegen Borniertheit, seine eigene eingeschlossen (S. KSA 12, 538). Brandt hingegen ignorierte diesen Kontext und tat so, als habe sich Nietzsche hiermit gegen den Sinn von Systematik und Systematisierung schlechthin ausgesprochen – und dies, obgleich zumal im Kontext der von Brandt gleichfalls ignorierten Nachlassvariante („Der Wille zum System ist, für einen Denker wenigstens, etwas, das compromittirt, eine Form der Unmoralität …“; KSA 13, 189) kaum Zweifel darüber möglich ist, dass Nietzsche nicht den Systemgedanken als solchen ablehnte – im Sinne etwa seines ihm von Pichler attribuierten und positiv bewerteten Verständnisses von „Asystematik“ als „Imperativ“ seiner „aphoristisch-essayistischen Schreibpraxis“ (Pichler 2012, 214) –, sondern lediglich ein Verständnis von Systematik verwarf, das der denkerischen Weiterentwicklung gegenüber nicht offensteht. Positiv reformuliert: Einem Verständnis von Systematik, das auf eine durch die Kreativität seines Autors verantwortete Geordnetheit entwicklungsoffener Argumentationsfolgen hinzielte, hat sich Nietzsche nicht widersetzt, im Gegenteil: Nietzsches schon an die Morgenröthe geknüpfte Erwartung, er könne nun seine „arme stückweise Philosophie“ (KSB 6, 124) vergessen, trat mit dem Zarathustra vollends in ihr Recht: Seine „ganze Philosophie“, so erfuhr sein Freund Carl von Gersdorff, stünde „hinter all den schlichten und seltsamen Worten“ (KSB 6, 386) und mithin hinter Ausdrücken, die, nicht zuletzt ihrer Formgestalt wegen, der Auslegung, vor allem unter Rückgriff auf das übrige Œuvre, bedürftig waren.

Vor diesem Hintergrund muss der Umstand irritieren, dass die neuere Nietzscheforschung am Zarathustra kaum noch Interesse nimmt (zum Folgenden auch Niemeyer 2012a), gleichsam im Nachgang zu den Bedenken Thomas Manns, der in diesem Werk nur „erregte[n] Wortwitz“ zu konstatieren vermochte sowie „gequälte Stimme und zweifelhafte Prophetie“, ausgesprochen von einer „an der Grenze des Lächerlichen schwankende[n] Unfigur.“ (Mann 1947, 684) Andere Nietzscheforscher halten es klammheimlich mit Hermann Wein, der schon vor Jahrzehnten einem Nietzsche ohne Zarathustra das Wort redete und dies als Beitrag zur Entkitschung Nietzsches verstanden wissen wollte, zur Wiedergewinnung des kritischen Aufklärers, als Beitrag auch zur Beendigung eines (möglichen) Missverständnisses der Rezeptionsgeschichte, in deren Verlauf Nietzsche hineingeraten sei „in die deutsch-bürgerliche Hauspostille und in die Tornister des deutschen Soldaten des 1. Weltkriegs.“ (Wein 1972, 359) Wer so oder ähnlich redet und beispielsweise folgert, Nietzsches Zarathustra böte allenfalls „den Charme des bloß noch historisch Verständlichen und Zugänglichen“ (Allemann 1974, 61) und sei weniger „Sprengstoff“ denn „archäologisches Fundstück“ (Koch 1984, 245), muss ihn als geradezu absurd ad acta legen: Nietzsches Anspruch, er habe mit dem Zarathustra „die deutsche Sprache zu ihrer Vollendung“ gebracht, es sei „nach Luther und Goethe, noch ein dritter Schritt zu thun“ (KSB 6, 479) gewesen, kurz: Zarathustra sei ‚große Dichtung‘. Schärfer noch ist das abfällige Urteil über diesen Anspruch, wenn man dem Aktionskünstler Jonathan Meese sowie dem Schauspieler Martin Wuttke folgt, die im August 2006 in den Park von Schloss Neuhardenberg einluden. Sie nämlich riefen hier, im Zuge ihrer Inszenierung Also sprach Zarathustra. ZARATHUSTRA – Die Gestalten sind unterwegs, teils via Megaphon und offenkundig nach dem Muster ‚offene Psychiatrie‘ einzelne, ungeordnete Satzbrocken aus dem Zarathustra in Wald und Wiese hinein und stellten damit erkennbar darauf ab, die zweifelnde Überlegung des Zauberers: „Nur Narr! Nur Dichter!“ (KSA 4, 372) im Erleben des Publikums am Ende in ein glasklares: „Nietzsche – nur Narr!“ zu verwandeln.

Nietzsche übrigens dürfte durch derlei Brachial-Humor auf Kosten des Opfers kaum überrascht worden sein. Schließlich hatte er schon im Februar 1883, unmittelbar nach Erscheinen des ersten Teils des Zarathustra gemutmaßt: „[V]on jetzt ab werde ich wohl in Deutschland unter die Verrückten gerechnet werden.“ (KSB 6, 321) Den Anfang damit machte vor über 100 Jahren der Leipziger Nervenarzt Paul J. Möbius, der fast die Contenance verlor angesichts von Zarathustra IV, speziell „das über alle Beschreibung widerliche Eselsfest“ betreffend, ebenso wie die „vollkommen blödsinnig[en]“ (Möbius 1909, 125) Verse Unter Töchtern der Wüste. Am Ende dieser Reihe stehen, wie angedeutet, Meese/Wuttke, aber letztlich auch Timo Hoyer, der in seiner 2002 erschienenen Dissertation Nietzsche und die Pädagogik seinem Stoff nicht eigentlich erziehungswissenschaftlich interessiert gegenübertrat, sondern erzieherisch ambitioniert: Zarathustra neige, so Hoyer mit tadelndem Unterton, zu „gehässigen Bemerkungen“ (Hoyer 2002, 493), er sei „schroff und rücksichtslos“ und unfähig, „andere Personen als gleichberechtigte Gesprächspartner zu akzeptieren.“ (2002a, 224f.) Ohne hier, allein schon aus Zeitgründen, auf die Berechtigung dieser Urteile oder die Gründe en detail eingehen zu können, die Nietzsche veranlassten, Zarathustra nicht einen herrschaftsfreien Diskurs (à la Habermas) führen zu lassen bzw. die Leser des Zarathustra mit (von Möbius offenbar nicht bewältigten) Denksportaufgaben gehobenen Typs zu behelligen, scheint ein Zwischenresümee unverzichtbar: Die Sprache des Zarathustra ist überladen von Rätseln, Metaphern, Bildern und Gleichnissen, und sie verlangt dem Interpreten – auch in Fragen dessen, was Dichtung meint im engeren Sinne – einiges ab an Verständnis für Ungewohntes und Zwischentöne, auch im Blick auf Quellenforschung sowie Kontexterkundung. Eines freilich geht nicht: nämlich aus Ärger über diesen (bösen) Streich Nietzsches oder schlicht aus Faulheit den Autor dieses Werkes zu pathologisieren oder ihn (im Nachgang) erziehen zu wollen.

Natürlich folgt aus diesem Protest gegen zwei Versuche (Möbius einerseits, Hoyer andererseits), Nietzsche als Dichter des Zarathustra einem falsch verstandenen Ideal politischer Korrektheit zu unterwerfen, nichts für Nietzsches These, Zarathustra sei ‚große Dichtung‘. Und tatsächlich wird man ja auch ohne weiteres einräumen können, dass vieles am Zarathustra (etwa in den Reden Von den Fliegen des Marktes oder Auf dem Oelberge) eher nach verunglückter denn nach ‚großer‘ Dichtung (evtl. als Parodie auf sie) klingt. Insoweit hat es durchaus etwas Beruhigendes, dass dem Wort von der ‚großen Dichtung‘ (à la Luther und Goethe) ein anderes zur Seite steht, demzufolge Zarathustra einen „persönlichen Sinn“ habe und folglich „dunkel und verborgen und lächerlich“ sei „für Jedermann.“ (KSB 6, 525) Noch deutlicher argumentierte Nietzsche unmittelbar nach Abschluss der Fahnenkorrektur von Zarathustra II: „Im Einzelnen ist unglaublich Vieles persönlich Erlebte und Erlittene darin, das nur mir verständlich ist – manche Seiten kamen mir fast blutrünstig vor.“ (KSB 6, 443) Wer über den Zarathustra redet, muss also wissen, dass nicht nur, aber immerhin doch auch eine Art Privatsprache zur Entschlüsselung ansteht (die durchaus den Rang ‚großer Dichtung‘ erreichen kann, aber nicht muss).

Was aber folgt nun daraus für die Bewertung und Interpretation des Zarathustra? Zunächst, dass man Nietzsche keinen Gefallen tut, wenn man die ästhetische Perspektive auf dieses Werk zur einzig möglichen und sinnvollen erklärt, kurz: sich an das hält, was Claus Zittel im Zuge seines seit Jahren geführten Feldzugs gegen „die ästhetische Blindheit der inhaltsfixierten Nietzscheforschung“ (Zittel 2000, 17) als seine These am Exempel meines Zarathustra-Kommentars (Niemeyer 2007) meinte exponieren zu müssen: nämlich „dass es sich beim Zarathustra um ein ästhetisches Gebilde handelt, dass [sic!] mit kunstadäquaten Methoden erschlossen werden muß.“ (Zittel 2008, 381) Diese (mit Verlaub: dogmatische) These und das ihr zugehörende Verbot der angeblich überholten (u.a. auch von mir praktizierten) „biographische[n] Auslegungsmethode“ (ebd., 383) beengt ohne Not und auf eine dem Geist zumal des späten Nietzsche entgegenstehende Weise das Methodenarsenal im Umgang mit diesem schwierigen Text. Vor allem aber könnte diese Zugangsweise dazu verführen, auch dasjenige, was ‚schlechte Dichtung‘ zu sein scheint, etwa in den Reden Von den Fliegen des Marktes oder Auf dem Oelberge, positiv zu würdigen und beispielsweise – wie andernorts von Zittel praktiziert – den „betont verunglückten Wortspielschöpfungen“ zuzurechnen, die „insgesamt Zarathustras Schaffenspathos [parodieren].“ (Zittel 2000, 150)

Insgesamt empfiehlt sich eine andere, geradezu gegenläufige Herangehensweise, ausgehend von Nietzsches Empörung über Carl Spittelers Urteil, der Zarathustra könne vielleicht noch als „als ‚höhere Stilübung‘“ durchgehen, allerdings möge Nietzsche „später doch auch für Inhalt sorgen.“ (KSA 6, 299) Denn es ist ja gerade diese Empörung, die einen deutlichen Beleg dafür gibt, dass Nietzsche seine – wie er, mitunter etwas verschämt, selbst sagte – „Dichtung“ (KSB 6, 429) keineswegs nur als „ästhetisches Gebilde“ (Zittel) und nicht etwa seiner Botschaft zufolge wahrgenommen wissen wollte, von welcher ja wohl auszugehen ist, wenn man Nietzsches Hinweis bedenkt, seine „ganze Philosophie“ verberge sich hinter „all den schlichten und seltsamen Worten“ dieses „Büchleins [gemeint war Zarathustra I; d. Verf.].“ (KSB 6, 386) Von hier auslautete Nietzsches zentrale Sorge denn auch, mit dem Zarathustra „nun gar noch unter die ‚Litteraten‘ und ‚Schriftsteller‘“ zu geraten, mit der Folge, dass „das Band, das mich mit der Wissenschaft verknüpfte, […] als zerrissen erscheinen [wird].“ (KSB 6, 360) Damit war zugleich der Auftrag an seine (nachgeborenen) Interpreten verbunden, dieses Werk wieder für den Theoriediskurs über Nietzsches Philosophie zugänglich zu machen, sprich: es – wogegen Zittel heftig opponiert – „wie einen philosophischen Traktat“ (Zittel 2008, 381) zu lesen.

Vielleicht muss man noch ergänzen: Man kann es nicht nur, man muss es sogar, eingedenk der in diese Richtung weisenden zahlreichen Hinweise Nietzsches, angefangen von seinem letztlich auch ihn überraschenden Eindruck „[b]eim Durchlesen von ‚Morgenröthe‘ und ‚fröhlicher Wissenschaft‘ […], daß darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar zu genanntem Zarathustra dienen kann“ (KSB 6, 496); weitergeführt in seiner Hoffnung, Jenseits von Gut und Böse werde „ein paar erhellende Lichter auf meinen Zarathustra […] werfen“ (KSB 7, 223); und endend in seiner analogen, diesmal auf Ecce homo bezogenen Erwartung (KSB 8, 492) sowie der Maßgabe, sein Antichrist wende sich an Leser, „welche meinen Zarathustra verstehn.“ (KSA 6, 167) Mehr noch: Mit Seitenblick auf den 1886 vorgelegten Versuch einer Selbstkritik (zur Geburt der Tragödie) und der im nämlichen Jahr abgeschlossenen Vorrede zur Neuausgabe von Menschliches, Allzumenschliches bestimmte Nietzsche ausdrücklich: „Das Wesentliche ist, dass, um die Voraussetzungen zum Verständniß des Zarathustra zu haben […] alle meine früheren Schriften ernstlich und tief verstanden werden müssen; insgleichen die Nothwendigkeit der Aufeinanderfolge dieser Schriften und der in ihnen sich ausdrückenden Entwicklung.“ (KSB 7, 237) Insoweit besteht hinreichend Anlass für das Gebot, den Zarathustra im Kontext der Werke des mittleren, des späten, aber auch des frühen Nietzsche zu lesen und in die dort entwickelte Theoriesprache zu übersetzen. Nur ein solches Gebot scheint geeignet, beides zu vermeiden: eine moralisierende, auf politische Korrektheit abzielende Beiseitesetzung des angeblich allein biographisch interessierenden Zarathustra als Privatsprache; aber eben auch das geradezu verbissene Festhalten am Anspruch, beim Zarathustra handele es sich um ‚große Dichtung‘. Nur auf diese Weise wird der Weg frei zu einer extensiven Ausdeutung des von Nietzsche in diesem Werk Intendierten.

Vor diesem Hintergrund überrascht denn auch nicht, dass Nietzsche im Sommer 1882, auf dem Höhepunkt seines um den Zarathustra gruppierten Schaffens, keine Schwierigkeiten hatte, von seiner Philosophie als eines Ganzen zu sprechen, die er abzugrenzen vermochte von den Philosophien Anderer, etwa jener Schopenhauers. Ihr stellte er im Zuge dieser Abgrenzung den Auftrag, die Philosophie zu Wagners Kunst, kulminierend in Siegfried (1871), zu entwickeln („Erst meine Philosophie ist recht dafür.“ [KSA 9, 683]), die via Schopenhauer nicht zu entwickeln sei. Worum es dabei zu gehen habe, stand ihm schon seit dem Siegfried-Porträt aus dem Nachlass von Herbst 1875 bis Frühling 1876 (KSA 8, 273) außer Frage, das dann in Richard Wagner in Bayreuth (1876) einfließen und die klagende, rhetorische Frage an das Bayreuther Publikum motivieren wird: „Wo sind […] die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede unter euch?“ (KSA 1, 509) Schon hier steht der Übermensch und die Überzeugung vor der Tür, das nur Nietzsche dessen Philosophie geben könne – ein Thema, dass Nietzsche zwölf Jahre später, in Der Fall Wagner (1888), wieder aufgreifen und in das Bild vom Schiff Wagners, einer Art Optimisten-Jolle, wie man scherzhaft wohl ergänzen darf, pressen wird, das auf das Riff einer „conträren Weltansicht“, der (pessimistischen) „Schopenhauerischen Philosophie“ (KSA 6, 20), aufgelaufen war. In der Umkehrung geredet: Nietzsches Philosophie, deren Notwendigkeit hiermit behauptet wird, ist, zumindest dies doch, als eine optimistische resp. bejahende zu lesen. Um welches Zweckes willen, wird deutlicher, wenn man sich jener 1876 noch als vermisst deklarierten ‚Siegfriede‘ erinnert und zusätzlich den gleichfalls bereits erwähnten Nachlassvermerk vom Sommer 1882 einbezieht, ebenso wie dessen Weiterführung von April – Juni 1885, der dahingehend lesbar ist, dass nur Nietzsches Philosophie (und nicht jene Schopenhauers) geeignet sei, Siegfried als „Figur […] eines sehr freien Menschen“ (KSA 11, 491), und man darf nun wohl auch sagen: des 1876 sich der Sache nach andeutenden und seit Zarathustra auch als Begriff eingeführten Übermenschen, zu exponieren, der sich in einer ‚Ordnung der Dinge‘ ohne Gott zu bewähren hat (vgl. Niemeyer 1998, 339ff.).

Nietzsche hat sich immer wieder um die Bereitstellung von Hilfsmitteln zur Rekonstruktion seines soweit rekonstruierten „einen einzigen Gedankens“ (KSA 9, 179) bemüht, zumal er unter der fast völligen Resonanzlosigkeit seines Zarathustra zutiefst litt. Sein trotziger Trost lautete: „Einige werden posthum geboren.“ (KSA 6, 298) Deswegen auch versah Nietzsche sein wohl bestes Buch (Jenseits von Gut und Böse) mit dem Sperrvermerk, diese Schrift dürfe erst „gegen das Jahr 2000 gelesen werden“ (KSB 7, 257) – eine Zeit, „zu der man begriffen haben wird, worum es sich bei mir gehandelt hat.“ (KSB 8, 195) Sein Hilfeschrei aus Ecce homo gehört diesem Kontext zu: „Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!“ (KSA 6, 257) Die Aufgabenstellung ist damit klar, jedenfalls für den, der, anders als Werner Stegmaier (2009, 20), diesen Imperativ nicht lediglich auf den Auftrag bezieht, Nietzsche nicht mit Zarathustra zu ‚verwechseln‘ und die in diesem Werk – immerhin das Hauptwerk Nietzsches – erstmals ausgeführten Lehren vom Übermenschen, von der ewigen Wiederkunft und vom Willen zur Macht für Lehren Zarathustras, nicht aber für solche Nietzsches zu halten, eingeschränkter: nicht für die entscheidenden Lehren Nietzsches.

Gewiss ist, dass derjenige, der diesem erkennbar im Nachgang zu Josef Simon (2000, 225) ergangenen Lockruf Stegmaiers in Richtung eines Nietzsche ohne Zarathustra und einen Zarathustra ohne Nietzsche folgt und damit einer auch von Volker Caysa und Konstanze Schwarzwald unterstützten Tendenz der neueren Nietzscheforschung Ausdruck gibt, nicht „Nietzsche als Großmachtphilosophen zu rehabilitieren, sondern die Größe seines Denkens im Kleinen zu zeigen“ (Caysa/Schwarzwald 2012, VII), am Ende einen domestizierten Nietzsche präsentieren wird, einen Nietzsche, so Stegmaier wie zur Beruhigung, der seinen Zarathustra ja „auch zahllose andere, nicht weniger bedeutsame Lehren lehren ließ.“ (Stegmaier 2009, 20) Ebenso gewiss ist aber auch, dass das dann zu erwartende Nietzschebild mit der eigentlichen Ambition Nietzsches und seinem Verlangen nach Größe und nach einer dieser Größe entsprechenden Wirkung so gut wie nichts mehr zu tun hat. Als Alarmzeichen in dieser Frage darf Stegmaiers auf den angeblichen Gegensatz zwischen Also sprach Zarathustra (1883–85) und Die fröhliche Wissenschaft (1882/87) anspielende Versicherung gelten: „Wirken Zarathustras Lehren düster und belastend, so wollte er, Nietzsche, doch eine Wissenschaft schaffen, durch die die Europäer ihres Lebens wieder froh werden sollten, eine fröhliche Wissenschaft.“ (Stegmaier 2009, 21) Am Ende von derlei Trivialisierung wird am Geistesheroen Nietzsche kein anderer Gesichtspunkt mehr interessieren als der von Stegmaier herausgestellte, nämlich als „Anregungspotential für die verschiedensten Bereiche der Philosophie“ (ebd., 19) in Betracht zu kommen. Dabei sei nur am Rande notiert, dass in diesem Zitat noch ein Reduktionismus der besonderen Art verborgen ist, insofern Nietzsches faktisch sehr viel gewichtigeres Anregungspotential für die verschiedensten Bereiche der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften hiermit schlicht unterschlagen wird, in der erkennbaren Absicht, Nietzsche einseitig als Philosophen zur Geltung zu bringen.

Halten wir uns angesichts von derlei Fragwürdigkeiten lieber an den eben umrissenen Auftrag Nietzsches, ihn im Blick auf seinen ‚einen einzigen Gedanken‘ nicht zu ‚verwechseln‘. Dieser Auftrag empfängt seine besondere Dringlichkeit aus der Vielgestaltigkeit der von Nietzsche hinterlassenen Textstruktur, die von der Abhandlung über den Aphorismus bis hin zur Lyrik fast alle Darstellungsformen kennt und im Blick auf die eine dekonstruktiv angelegte strukturale Analyse sicherlich im Nachteil ist im Vergleich zur rekonstruktiv orientierten klassischen Hermeneutik (zu diesem Gegensatz: Behler 1988, 147ff.). Ob man derlei, wie Nicola Nicodemo neuerdings anzunehmen scheint, auch einem Forschungstrend einschreiben kann derart, dass die „gegenwärtige interpretationsorientierte Nietzsche-Forschung […] das Nietzschesche Denken konstruktiv interpretiert“, und zwar „im Gegensatz zu den vorigen Strömungen, von denen sein Denken nur aus ideologischen, kritischen oder dekonstruktivistischen Perspektiven her aufgefasst wurde“ (Nicodemo 2012a, 386), mag hier dahingestellt bleiben, insofern sich dadurch die Pointe nicht verändert und der Forderung nicht widersprochen wird, den methodologischen Überlegungen Nietzsches Folge zu leisten. Und diese Vorstellungen sind nun einmal primär rekonstruktiv angelegt, also einzubetten in eine für den Fall Nietzsche gleichsam maßgeschneiderte Hermeneutik. Ganz in diesem Sinne begründete auch Ulrich Willers sein durchaus analoges Vorgehen mit dem Argument, dass man auf diese Weise zu dem Leser werde, den der Autor „sich erwünscht und erwirken will.“ (Willers 1988, 34)

Freilich: Welchen Leser wünschte sich Nietzsche eigentlich? In der Genealogie der Moral beispielsweise lesen wir, durchaus irritierend für den Begründer einer eigenen Lehre dieser Art, der Genealogie: „Die Einsicht in die Herkunft eines Werkes geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten!“ (KSA 5, 343) Dies klingt wenig verlockend für die erstgenannte Berufsgruppe – und könnte die wundersame Vermehrung der ‚Artisten‘ unter den Nietzschelesern erklären. Angesichts dessen hilft die Rückbesinnung auf Nietzsches Rat, ihn „ordentlich zu lesen“ (KSA 8, 411) und etwas zu tun, „zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ‚moderner Mensch‘ sein muss: das Wiederkäuen …“ (KSA 5, 256). Folgerichtig sang Nietzsche denn auch sein Loblied auf den ‚guten Leser‘, einen Leser, „wie ich ihn verdiene, der mich liest, wie gute alte Philologen ihren Horaz lasen.“ (KSA 6, 305) Und er legte Verwahrung ein gegen die schlechtesten Leser‘, die „wie plündernde Soldaten verfahren.“ (KSA 2, 436) Entsprechend definierte Nietzsche noch im Antichrist ausgesprochen schulmäßig: „Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden, – Thatsachen ablesen können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne im Verlangen nach Verständniss die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren.“ (KSA 6, 233) Bis zuletzt also blieben dies für Nietzsche achtbare Tugenden und Verstehensvoraussetzungen, zusammen mit gleichgerichteten „Erlebnissen“ (KSA 6, 300) oder einer „Dosis Neugierde, wie vor einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstand“ (KSB 8, 375), nicht zu vergessen: Nietzsche begehrte nach Lesern, die ihm „mit den Ohren verwandt sind“ und folglich in der Lage seien, etwas zu verstehen, was er nur „im Fluge berührt“ (KSA 3, 634) habe. Über allem aber steht, „dass man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat.“ (KSA 5, 255) Über das Bekenntnis zu philologischer Solidität führt Nietzsche dort hinaus, wo er den Typus des ‚vollkommenen Lesers‘ in den Blick nimmt und definierte als „ein Unthier von Mut und Neugierde […], ein geborner Abenteurer und Entdecker.“ (KSA 6, 303) Denn damit ist ein sehr viel stärker die Aktivität des Interpreten fordernder Deutungstypus angesprochen, der sich im Fall Nietzsche vor allem auch deswegen nahelegt, als er sich selbst mit Vorliebe als einen „geborenen Räthselrather“ (KSA 3, 574), „Seelen-Errather“ (KSA 5, 222) oder gar „Nussknacker der Seele“ (KSA 5, 358) sah, als „gewitzten Interpreten und Zeichendeuter […], denen das Schicksal aufgespart blieb […], vor einen geheimnißvollen und ungelesenen Text hingestellt zu sein: der sich uns mehr und mehr verräth.“ (KSA 12, 175) Nichts spricht dagegen, die hier umschriebene Attitüde auch als Nietzsche-Interpret einzunehmen.

Dass es dabei auch des biographisch orientierten Zugangs bedarf, zeigt beispielsweise Zarathustras Klage: „Aber der Mensch nur ist sich schwer zu tragen! Das macht, er schleppt zu vieles Fremde auf seinen Schultern. Dem Kameele gleich kniet er nieder und lässt sich gut aufladen.//Sonderlich der starke, tragsame Mensch, dem Ehrfurcht innewohnt: zu viele fremde schwere Worte und Werthe lädt er auf sich, – nun dünkt das Leben ihm eine Wüste!“ (KSA 4, 243) Denn nur wer um Nietzsches Biographie weiß, kann erkennen, dass sich diese Sätze Wort für Wort auf Nietzsches Leben übertragen lassen – mit dem ‚Kamel‘ Nietzsche in der Rolle des Ritschl- und später Wagner-Schülers, und mit der ‚Wüste‘ der geistigen Umnachtung ganz am Ende. Aber auch der frühe Tod des Vaters nach recht rätselhafter Krankheit gehört zu diesem Thema, zumal sie in der Erkrankung des Sohnes nachzuwirken scheint, wie dieser selbst spätestens mit seiner Frühpensionierung in Basel im Alter von noch nicht einmal 35 Jahren anzunehmen begann. Die Folgen sind im Spätwerk, etwa im Antichrist, zu besichtigen: Nietzsche versucht sich hier, mit Seitenblick auf das fragwürdige Erbe seines Vaters, als eine Art Vererbungstheoretiker, mit, was die Wirkung im Dritten Reich angeht, fatalen Konsequenzen (vgl. Niemeyer 2011, 22ff).

Zu den bei fast jeder Werkinterpretation in Rechnung zu stellenden Auffälligkeiten an Nietzsches Leben gehört auch die anfangs durchaus maßlose Verehrung für Richard Wagner, zumal sie durch eine teils vergleichbar maßlose Ablehnung dieses frühen Idols ersetzt wurde. Nicht minder aufwühlend war Nietzsches Erlebnis mit Lou von Salomé vom Sommer 1882 und deren Folgen. Immerhin hatte Nietzsche unmittelbar zuvor seinem lange Zeit unter Verschluss gehaltenen Begehren nach einem abwechslungsreichen und abenteuerlichen Leben – etwa in Begleitung von Paul Rée – Ausdruck verschafft, eine Perspektive, die nun zur Makulatur geriet. Ersatzweise stand ein Dauerstreit mit der Schwester ins Haus, auch mit Verlegern, dies im Blick auf ein Werk, das so gut wie unverkäuflich war und im Blick auf das Nietzsche zumal in seinen letzten Briefen zu einer gleichsam trotzigen Hybris neigte. Von all dem geben die ab 1967 erstmals verlässlich in der Colli/Montinari-Edition präsentierten Briefe (von und an Nietzsche: KGB; von Nietzsche: KSB) einen lebhaften Eindruck. Umso überraschender, dass sich die Nietzscheforschung, die sich über die Bedeutung dieser Quellen im Klaren sein sollte (hierzu Janz 1972), distanziert verhält und zahllose Beiträge zum Thema Nietzsche erkennbar in Unkenntnis dieser Textgattung geschrieben sind.

Die Distanz gegenüber dieser Erkenntnisquelle bzw. dem biographisch orientierten Ansatz allgemein wird man zumindest auch als langfristige Folge des über Jahrzehnte hinweg sich hinziehenden, zumeist in diskriminierender Absicht geführten Streits um den pathologischen Charakter einzelner Aussagen Nietzsches und die Anwendbarkeit des Duals ‚Genie und Wahnsinn‘ auf den Fall Nietzsche (vgl. Dahlkvist 2012) zu deuten haben. Zumal in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg stand Nietzsche ganz in diesem Sinne auch bei Pädagogen – genannt seien nur die Fälle Otto Willmann, Friedrich Paulsen und Wilhelm Rein – mit seinem Zarathustra im Fokus eines in pädagogischer Absicht geführten Prozesses, dessen Zweck klar war: Nietzsche, den die Jugend des fin de siècle gerade zu ihrem allerneuesten Heroen und Verführer – auch zum Ungehorsam, wenn nicht gar zum Suizid – auserkoren hatte, drohte gefährlich zu werden aus Perspektive des Mainstream (vgl. Niemeyer 2013c, 95ff). Erst als man 1914 in Deutschland eines ‚Kriegsphilosophen‘ und zwei Jahrzehnte später eines ‚Naziphilosophen‘ bedürftig war und dabei beide Mal an Nietzsche dachte, behandelte man das vermeintlich Pathologische an Nietzsche mit äußerster Nachsicht bzw. mit entsprechender Klugheit, in Anlehnung an die Strategie Förster-Nietzsches, ihm, dem Pathologischen, auch Nietzsches Anti-Deutschtum zuzuschlagen (vgl. Niemeyer 2011, 51ff).

Verunsichert durch diesen Vorlauf sowie im Nachgang zu dem nach 1945 anhebenden Bemühen um eine möglichst nüchterne Nietzschephilologie hat es der biographisch orientierte Ansatz in der Folge nicht leicht gehabt, sich eine eigene, seriöse Stimme zu geben. Entsprechend waren es eher Außenseiter wie Max Kesselring oder Joachim Köhler, die nachdrücklich die Notwendigkeit betonten, dass man Nietzsche von seiner Biographie her begreifen müsse. Die Fragwürdigkeiten eines solchen Zugangs offenbart der Streit um den Abschnitt Unter Töchtern der Wüste (vgl. Niemeyer 2007, 116f.): Schon Hellmut W. Brann identifizierte hier des Autors „Generalbeichte in eroticis“ (Brann 1931, 132) unter Bezug auf einschlägige Abenteuer aus studentischer Zeit, und er bezog sich dabei – ähnlich wie später Thomas Mann unter dem Stichwort: „erotische[r] Wachtraum von peinlicher Humorigkeit“ (1947, 11) – auf eine Anekdote des Nietzsche-Freundes Paul Deussen (1901, 24). Wie sehr derlei lange Jahre in Opposition zum Mainstream geschah, zeigt der Streit um Erich F. Podachs Buch Ein Blick in Nietzsches Notizbücher (1963): Podach wollte die von Nietzsches Schwester lange Jahre dominierte, im Nietzsche-Archiv betriebene Legendenbildung um Nietzsche demaskieren. Im Zuge dieses Bestrebens suchte er unter Nutzung eines wenig bekannten Nietzsche-Textes vom Juli 1862 zu belegen, dass Nietzsche damals, mit fünfzehn Jahren, ein „hervorragend begabter, phantasiereicher Pornograph sadistischen Einschlags“ (Podach 1963, 193) gewesen sei. Es war dieser kleine, keinesfalls fehlgehende Kommentar, der damals, auf dem Höhepunkt einer sich gerade erst wieder konsolidierenden seriösen Nietzsche-Forschung, provozieren musste und Eckhard Heftrich in einem in den Salaquarda-Band aufgenommenen Beitrag (Heftrich 1964) dazu veranlasste, in rigider Form die Grenzen der psychologischen Nietzsche-Erklärung zu ziehen. Die Folgen sind beachtlich, wobei vorab gerne zugestanden werden kann, dass Laiendiagnosen vom Typ: Nietzsches Verachtung für Wagner gehöre ins Reich des „Pathogene[n]“ (Georg-Lauer 2011, 64), auch in der neueren Nietzscheforschung nicht ausgespielt haben und mitunter selbst dezidierte Gegner des biografieorientierten Zugriffs nicht vor psychologistischen Kurzschlüssen zurückschrecken. So meinte beispielsweise Werner Stegmaier vor einigen Jahren, Nietzsche habe den Begriff der Orientierung, damals Stegmaiers Lieblingsvokabel, wohl nur gemieden, „weil sein erklärter Gegner Eugen Dühring ihn so extensiv gebraucht hat.“ (Stegmaier 2009, 21) Immerhin: Bis hin zu einem echten Desaster fehlt hier noch ein ganzer Schritt, wie am Beispiel Joachim Köhler studierbar, der erst zögernd und dann entschlossen („man müsste blind sein, es zu übersehen“) resümiert, Nietzsche sei „der kleine Pastor, der sich, als bürgerliche Existenz gescheitert, an seiner sexuellen Identität verzweifelt und durch eine venerische Infektion ruiniert, zum Menschenverächter wandelte, um endlich einem Massenmörder den Weg zu bereiten.“ (Köhler 2001, 148f.) Aber erlauben Unfälle wie dieser gleich ein abschlägiges Urteil über die Methode als solche?

Offenbar schon, wobei man differenzieren muss. Der marxistische Nietzscheverächter Domenico Losurdo beispielsweise, dem an – eventuell mittels dieser Methode mobilisierbarer – Exkulpation Nietzsches nicht gelegen sein kann, ist wohl allein deswegen bereit, den biographischen Zugang für „unfruchtbar“ zu erklären und unter Vokabeln wie „Verstümmelung“ und „Reduktionismus“ (Losurdo 2009, 822f.) einzuordnen. Andere aus dem inneren Kreis der Nietzscheforschung um Werner Stegmaier treibt offenbar anderes um, etwa das Bedürfnis nach Schutz für den von ihnen einseitig favorisierten, vorsichtig paraphrasierenden texthermeneutischen Zugang. Der der Autorenintention nachspürende „Biographismus“, so beispielsweise Corinna Schubert (2012) in deutlich pejorativer Absicht im Blick auf den neuerdings auch unter dem Stichwort „Genetische Nietzscheforschung und -interpretation“ (Schmidt 2011, 229) popularisierten biographischen Ansatz, werde vor allem von jenen bevorzugt, die „den Schwierigkeiten des Textes“ (Schubert 2011, 193) ausweichen wollten. Kaum weniger radikal (und dogmatisch) argumentierte Enrico Müller, dem außer Frage steht, dass sich für „jedwede Nietzscheinterpretation auch angesichts pointiertester Formulierungen im Spätwerk eine Deutung im Sinne psychologisch-biographischer ‚Entlarvung‘ erübrigen sollte.“ (Müller 2005, 29) Indes: Träte das von Müller verhängte Erkenntnisverbot in Geltung, wäre Nietzsche für die Zukunft auf Gedeih und Verderb dem Nichtverstehen und Nichtverstehenwollen à la Losurdo ausgesetzt, und die ohnehin schon vielerorts beobachtbare Unkenntnis über Nietzsches Biographie würde sich auf Dauer stellen, mit der auch im Fall Müller nachweisbaren Folge der fehlenden Fähigkeit zur selbstständigen Beurteilung der von Nietzsche in seiner Autobiographie Ecce homo (1888) mitgeteilten, durchaus desorientierenden Fakten etwa zum Komplex Richard Wagner (vgl. Niemeyer 2014a).

Im Übrigen und dies vor allem: Urteile wie die von Schubert und Müller stehen im Widerspruch zu Nietzsches eigener methodologischer Position, die sich erstmals in seinem Diktum von 1880 ausspricht: „Ehemals fragte man: ist der Gedanke wahr? Jetzt: wie sind wir auf ihn gekommen? Welches war seine treibende Kraft?“ (KSA 10, 232) Dass Nietzsche damals an Fragen wie diesen gelegen war, erklärt sich auch aus der Kritik an dem Paradigmenwechsel, der sich, viele Leser überraschend, mit Menschliches, Allzumenschliches (1878) und der hier vollzogenen Wagnerkritik vollzog. In dieser Situation hielt Nietzsche den Ratschlag an seine Leser für geboten: „Wenn der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den andern überzuspringen scheint: bei genaueren Beobachtungen wird man doch die Verzahnungen auffinden, wo das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. Diess ist die Aufgabe des Biographen: er muss nach dem Grundsatze über das Leben denken, dass keine Natur Sprünge macht.“ (KSA 2, 641) Wichtig ist dabei, dass Nietzsche den biographischen Zugang nicht unter allen Umständen einklagte, wie sein Tadel in Richtung Kant (und Schopenhauer) andeutet: „[E]s giebt da keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkürliche Biographie einer Seele, sondern, im Fall Kant’s, eines Kopfes“ (KSA 3, 285f.). Anders Nietzsche, sollte der Leser daraus lernen – woraus sich seine Kritik an Carl Spitteler erklärt: Dieser, so Nietzsche am 4. Februar 1888 in einem Brief an Josef Widmann im Zuge einer nicht auf den ersten Blick als Tadel erkennbaren Wendung, habe sich in seiner Sammelrezension wichtiger Werke Nietzsches „fast ganz auf das Formale“ beschränkt und „die eigentliche Geschichte hinter den Gedanken, die Leidenschaft, die Katastrophe, die Bewegung gegen ein Ziel, gegen ein Verhängniß hin einfach bei Seite“ (KSB 8, 244) gelassen. So also geht es nicht, Nietzsche zufolge, und zwar weniger wegen seines an Tragik kaum zu überbietenden Lebenslaufs, auch nicht, weil er, anders als alle Philosophen vor und nach ihm und beginnend mit Menschliches, Allzumenschliches, vor keiner Darstellungsfinte zurückschreckte, sondern vor allem, weil Nietzsche nicht eben selten Geschriebenes zuvor durchlitten hatte und sich nicht scheute, Biographisches in verklausulierter Form in seine Texte, insbesondere in den Zarathustra (vgl. Niemeyer 2007), einfließen zu lassen, was Nietzsches Klage erklärt, Zarathustra werde möglicherweise deswegen nicht verstanden, weil man als Leser um den „persönlichen Sinn“ (KSB 6, 525) nicht wisse und wissen könne. Nimmt man noch die Abgründe hinzu, die sich bei Nietzsche aufgetan haben dürften im Zuge seiner fünfjährigen Arbeit an den Aufzeichnungen zu Der Wille zur Macht (vgl. Niemeyer 2013a), ist der biographisch Zugang im Fall Nietzsche nicht nur vom Autor selbst als notwendig behauptet worden; vielmehr ist er sogar zwingend und alternativlos (Niemeyer 2011, 13ff.) und im Übrigen nur konsequent in der Linie von Nietzsches Projekt einer „Psychologie der Philosophen“, das er vor allem im Blick auf diejenigen Philosophen für notwendig hielt, die, wie Kant, so taten, „als ob die reine Geistigkeit ihnen die Problem der Erkenntniß und Metaphysik vorlege“ (KSA 13, 285) und dessen Leitsatz einem in Jenseits von Gut und Böse in Gestalt der Formulierung begegnet: „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntniss ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires.“ (KSA 5, 19)

Es gehört zur Tragik Nietzsches (und der Nietzscheforschung), diesem Auftrag nicht bis zum Ende treu geblieben zu sein und ersatzweise dem Statement aus Ecce homo gefolgt zu sein: „Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften.“ (KSA 6, 298) Zumal im Kreis um Werner Stegmaier wird dieses Gebot allzu oft wortwörtlich genommen und durch angebliche Paraphrasen ersetzt vom Typus: „Insbesondere schlichte Rückschlüsse von Nietzsches Leben auf sein Werk verbieten sich so.“ (Stegmaier 2011, 79; ähnlich Schubert 2012) Die gleich nachfolgend abgegebene lässige Erklärung Nietzsches, „die Frage nach dem Verstanden- oder Nicht-Verstanden-werden dieser [= seiner] Schriften“ sei „durchaus noch nicht an der Zeit“ (KSA 6, 298), hat in der Rezeptionsgeschichte für nicht minder viel Unheil gesorgt. Stegmaier beispielsweise nahm auch dieses Zitat wörtlich, folgerte also, Nietzsche gehe nicht mehr „vom Verstehen, sondern vom Nicht-Verstehen [aus]“ (Stegmaier 2000, 42; ähnlich: 1997, 405f.; 1992, 170) – und blieb weitgehend unbekümmert um andere, gegenläufige Zitate sowie den Kontext des von ihm einseitig favorisierten Statements, ignorierte also beispielsweise den vornehmlich ironisch zu lesenden Satz aus Jenseits von Gut und Böse, „dass es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht ‚vor der Maske‘ zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben.“ (KSA 5, 226) Denn im Lichte dieses Zitats gelesen wird klar, dass in Ecce Homo ein Paradigmenwechsel weg von der Aufklärung – auch der Aufklärung über sich und sein Werk – stattfindet und Nietzsche ersatzweise einer gegenaufklärerischen ‚Ehrfurcht vor sich als Maske‘ huldigt (vgl. Niemeyer 2014a). Wer diesem an sich recht leicht durchschaubaren strategischen Interesse Nietzsches aufsitzt, unterliegt also der Gefahr der Teilhabe am Projekt gegenaufklärerischer Heiligenverehrung als offenbar der letzten Karte des auf selbstruinöse Weise erfolglosen ‚Philosophen‘ Nietzsche. So betrachtet kann nicht überraschen, dass der vorliegende Band in Kapitel A mit zwei Beiträgen zur biographisch orientierten Forschung – von Pia Daniela Volz (jetzt: Schmücker) und Sander L. Gilman – eröffnet wird, die exemplarisch deutlich machen sollen, welche Einsichten für die Deutung einzelner, ansonsten unverständlicher Äußerungen Nietzsches von diesem Forschungszugang erwartet werden können.

Vergleichbar wichtig ist Grundwissen um die Besonderheit der im Fall Nietzsche zu konstatierenden Editionspolitik, im Verein mit der Bereitschaft und Fähigkeit zur Quellenkritik. Denn: Nicht überall, wo Nietzsche drauf steht, ist auch Nietzsche drin. Schuld daran trägt vor allem, und dies meint auch: vor allen anderen Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die ihres Bruders glaubwürdig überliefertes Vermächtnis, er gedenke, „nur Ausgearbeitetes und Ganzes vor das Volk zu bringen“ und würde „alle seine Freunde verpflichten, nichts von ihm nach seinem Tode herauszugeben als was er selbst für die Publication bestimmt und fertig gestellt hätte“ (zit. n. Krummel 1988, 488), bei ihrer erstmaligen Wiedergabe dieses Dokuments (Förster-Nietzsche 1904, 488) unterschlug und in der Folge konsequent ignorierte. Legendäres Beispiel für ihre, so betrachtet, ungestörte Fälschungsarbeit ist die von ihr und Henrich Köselitz vorgelegte ‚kanonische‘ Nachlasskompilation Der Wille zur Macht (1906): Die hier nachweisbaren Werkfälschungen waren eines der wichtigsten Motive für die auf gründlicher quellenkritischer Vorarbeit basierende Colli/Montinari-Ausgabe (S. KSA 14, 7ff.), in deren Linie auch deutlich wird, dass die in der Rezeptionsgeschichte verbreitete Empörung über § 52 der nämlichen Edition völlig entbehrlich ist. Denn es ist nicht Nietzsche, der hier verkündet, er sei nicht für Solidarität in einer Gesellschaft, „wo es unfruchtbare, unproduktive und zerstörerische Elemente giebt, die übrigens noch entartetere Nachkommen haben werden, als sie selbst sind.“ Es handelt sich hierbei vielmehr um ein – von Nietzsche übersetztes – Zitat von Charles Féré (KSA 13, 433), was Nietzsches Schwester mitzuteilen vergaß.‘ (Montinari 1984, 76; Lampl 1986, in diesem Bd.) Deutlicher werden diese Zusammenhänge nach Lektüre der für dieses Kapitel B (Beiträge zur Quellenkritik und Editionspolitik) als exemplarisch ausgewählten Texte von Hans-Erich Lampl und Dieter Fuchs.

Dem quellenkritischen Zugang eng verwandt sind Beiträge zur Quellenforschung (Kapitel C). Dieser Forschungszugang hat in den letzten Jahren teils übermächtige Bedeutung gewonnen. So findet sich in den Nietzsche-Studien eine gleichnamige Rubrik, die immer umfassender wird und zunehmend davon Kunde gibt, in welchem Ausmaß Nietzsche Autoren seiner Zeit gelesen hat und – teilweise im Verlauf der Editionsgeschichte nicht ausgewiesen – paraphrasierte. Die Quellenforschung trug zur Herausprägung eines Forschungszugangs bei, der sich mit dem Stichwort der „kontextualisierenden Deutung“ umschreiben lässt. Nicht nur der Kontext des jeweiligen Werkes Nietzsches wird dabei einbezogen, sondern auch der des entsprechenden Nachlasses, der Lektüren und Begegnungen Nietzsches und der allgemeinen historischen Situation. Im vorliegenden Band sind es die Beiträge von Jörg Salaquarda und Andreas Urs Sommer, die exemplarisch für diesen Forschungszugang stehen.

Natürlich kann der quellenkritische und der im weiteren Sinn – unter Einbezug der Lektüren Nietzsches – quellenforscherische Zugang nicht Selbstzweck sein, sondern er ist als vorbereitend zu verstehen im Blick auf die eigentliche Werkinterpretation, die in Kapitel D (Beiträge zur Werkinterpretation) im Vordergrund steht. Zu diesen vorbereitenden Schritten gehören auch die im Nietzsche-Wörterbuch (2004ff.) dokumentierten Versuche der Nietzsche Research Group (Nijmegen), den Wortschatz Nietzsches zu rekonstruieren und das semantischen Feld zu rekonstruieren, in dem ein Wort seine Bedeutungen erhält. Eher klassische begriffsgeschichtlichen Erläuterungen finden sich im Nietzsche-Lexikon (2009; 22011), auch hier mit den Anspruch, den Wandel des Begriffsverständnisse bei Nietzsche auf die Spur zu kommen und systematisch orientierten Interpretationen einzelner Werke, wie etwa im Heidelberger Nietzsche-Kommentar (2012ff.) beabsichtigt, vorzuarbeiten. Diesem Zweck gehorchen vor allem die in diesem Band wiederabgedruckten Beiträge von Christian Niemeyer und Heinrich Detering.

Last but not least gilt es, den Hintergrund von Kapitel E (Beiträge zur Rezeptions- und Wirkungsforschung) zu erläutern. Wichtig ist dabei vorab der Hinweis, dass Nietzsche über seine eigene Wirkung in tiefster Sorge war. So hatte er zwar 1874 für eine ‚kritische‘ statt für eine bloß verehrende‘ Historie votiert. Auch Zarathustra scheint seinen Jüngern eine kritische Historie abzuverlangen, insofern er sie im Zuge seines Spotts über „alle Gläubigen“ warnt, dass er sie, sollten sie Neigungen in dieser Hinsicht entwickeln, als ihre „Bildsäule“ (KSA 4, 101) erschlagen werde (vgl. Niemeyer 2007, 34f.). Und schließlich hat Nietzsche in Ecce homo versichert: „Ich habe eine erschreckliche Angst davor, dass man mich eines Tages heilig spricht.“ (KSA 6, 364) Dagegen freilich steht sein mächtiges Wort aus einem Brief an Franz Overbeck vom Mai 1884: „[W]enn ich es nicht so weit bringe, dass ganze Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun, so habe ich in meinen Augen Nichts erreicht.“ (KSB 6, 506) Wenn man dieses Interesse an Wirkung zum dominanten Zug in Nietzsches Selbstauslegung erklärt, wofür ja doch einiges spricht, ist Nietzsches beharrliche Sorge ob der eigenen Resonanzlosigkeit nicht nur ernst zu nehmen, sondern gewinnt einen dramatischen Zug – und nötigt den Nietzscheforscher letztlich dazu, der Frage nachzugehen, welche im Verlauf der Rezeptionsgeschichte zu beobachtende Wirkung Nietzsches wohl seine Billigung gefunden hätte und als eine von ihm intendierte Wirkung anerkannt worden wäre. Auf Nietzsche wird man bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage wohl kaum bauen zu können, es sei denn ex negativo. So blieb ihm, der noch ein Jahr vor dem Turiner Zusammenbruch begierig lauerte auf erste Anzeichen nennenswerter Resonanz, nur sprachloses Staunen ob der zahllosen Attribute, die man für ihn in Vorrat hielt und die sich, wie er erschrocken konstatierte, untereinander keineswegs gut vertrugen. „Bald“, so berichtete er seiner Mutter im Oktober 1887 von Venedig aus über die ihm von Heinrich Köselitz zur Verfügung gestellten Rezensionen zu Jenseits von Gut und Böse, „ist mein Buch ‚höherer Blödsinn‘, bald ist es ‚diabolisch berechnend‘, bald verdiente ich, dafür aufs Schaffot zu kommen […] bald werde ich als ‚Philosoph der junkerlichen Aristokratie‘ verherrlicht, bald als zweiter Edmund von Hagen verhöhnt, bald als Faust des neunzehnten Jahrhunderts bemitleidet, bald als ‚Dynamit‘ und Unmensch vorsichtig bei Seite gethan.“ (KSB 8, 165) Aus heutiger Perspektive hätte Nietzsche vielleicht noch hinzugesetzt: „Und danach habe ich Karriere gemacht als Leitfigur der Stürmer und Dränger der 1890er Jahre, als Philosoph des Kapitalismus, als Kriegsphilosoph, schließlich gar als Vordenker Hitlers und dann noch als Vater der Postmoderne“, kurz: Die Attributionswut bezogen auf Nietzsche ist wirklich beachtlich und grenzt ans Absurde, wenn man bedenkt, dass der Campus-Verlag seit 2008 einen Ratgeber mit dem Titel Nietzsche für Manager in Vorrat hält.

Die Wirkungs- und Rezeptionsforschung hat angesichts von derlei Heterogenität die Aufgabe, Orientierungswissen bereitzustellen im Blick auf den kaum noch überschaubaren Resonanzboden, der seit Beginn der Nietzscherezeption auszumachen ist. Dabei ist Grundwissen in den zuvor benannten Bereichen vorauszusetzen, insbesondere solches in Sachen Quellenkritik/Editionspolitik, an einem Beispiel geredet: Quellentechnisch gesehen scheinen die 1890er Jahre (Niemeyer 1998a; Gerlach 2000) Glücksjahre für Nietzscheleser gewesen zu sein, wie Rafal Biskup (2011, 279) exemplarisch für Philo vom Walde (d.i. Johannes Reinelt [1859–1906) darzulegen suchte: frei vom Ballast fragwürdig kompilierter Nachlassvermerke der Jahre 1884 bis 1888 (= Der Wille zur Macht) bzw. einer eigentlich nur dem Experten guten Gewissens anzuvertrauenden Autobiographie (= Ecce homo); und erst verzögert konfrontiert mit von Nietzsche nicht zum Druck bestimmten Vorträgen (= Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten; EA: 1893/84) bzw. schwer verdaulichen Streitschriften (= Der Antichrist; EA: 1895). Was unter diesen Bedingungen vergleichsweise ungestört im Bewusstsein der rasch wachsenden, vorzugsweise jungen Lesegemeinde Einzug hielt, war der bildungs- und kulturkritische, auf die Notwendigkeit von Selbsterziehung hinweisende Nietzsche aus der zweiten und dritten Unzeitgemässen Betrachtung plus der Nietzsche der Aphorismensammlungen sowie, unvermeidbar, weil befremdend und neugierig machend: der Nietzsche des Zarathustra, eine Dichtung, die – um nur ein Beispiel zu nennen – auf den damals (1895) siebzehnjährigen Martin Buber „nicht in der Weise einer Gabe, sondern in der Weise des Überfalls und der Freiheitsberaubung gewirkt [hat].“ (Krummel 1998, 330) Wie dieses Beispiel zeigt, ist das Nietzschebild einer je interessierenden Epoche auch abhängig von den Quellen, die man über Nietzsche verfügbar hält – und natürlich von der Editionspolitik, die sich dahinter verbirgt. Elisabeth Förster-Nietzsche war eine Meisterin auf diesem Fachgebiet. So schrieb sie Ende 1896 einer Freundin, es müsse sobald als möglich der Irrtum beseitigt werden, dass Nietzsche „„nur unzusammenhängende Bruchstücke einer Philosophie gegeben hat‘“ (zit. n. Hoffmann 1991, 50) – und ließ, exakt mit diesem Auftrag, fünf Jahre später die erste Version von Der Wille zur Macht, enthaltend 483 Aphorismen, in die Welt hinausgehen, die denn auch das libertäre Nietzschebild der 1890er Generation nachhaltig veränderte. Alfred Baeumler, der zweite wichtige Nietzsche-Herausgeber in der Zeit bis 1945, war kaum weniger durchtrieben: Noch vor 1933 hatte er die Dokumentation Nietzsche in seinen Briefen und Berichten der Zeitgenossen vorgelegt, vor allem aber – bei Reclam – eine zweibändige Nietzscheausgabe mit dem Titel Nietzsches Philosophie in Selbstzeugnissen ediert, die zumal nach 1933 auch als Schulausgabe genutzt wurde und insofern ausgesprochen wirkmächtig war. Dies war insofern fatal, als sie die nicht in Baeumlers ‚System‘ passenden Schriften Nietzsches aus der mittleren Periode schlicht ignorierte.

Schon diese wenigen Hinweisen verdeutlichen die Notwendigkeit einer quellenkritisch exponierten Wirkungs- und Rezeptionsforschung. Sie erhielt in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblichen Auftrieb durch die von Frank Richard Krummel (1998, a, b; 2006) in unermüdlicher Arbeit zusammengetragenen Quellen für eine Rezeptionsgeschichte Nietzsches in Deutschland, die in ihrer Breite einen Schluss erlauben: Mit keinem anderen Philosophen ist derart viel (mit Nietzsche geredet:) „Unfug“ (KSA 6, 365) getrieben worden, dies selbstredend nicht nur wegen der im Vorhergehenden an den Beispielen Förster-Nietzsche und Baeumler gegeißelten Editionspolitik, sondern auch infolge der Unkenntnis im Blick auf mancherlei Details. So wäre – um nur noch dieses Beispiel zu geben – Nietzsche und insbesondere der frühe Nietzsche vom Grundzug her falsch begriffen, wenn man nur über oberflächliches Wissen verfügte über sein frühes Idol Richard Wagner, der, etwas salopp geredet, Spinne im Netz der völkischen Bewegung. Zu denken ist dabei natürlich vor allem an das 1869 in zweiter Auflage vorgelegte Pamphlet Das Judentum in der Musik, mit welchem Wagner dem Antisemitismus der völkischen Bewegung eine wichtige Orientierung gab. Einen etwas genaueren Blick verdienen auch die von Wagner begründeten Bayreuther Blättern (1878–1938), als deren Redakteur ursprünglich Nietzsche fungierte sollte – der sich 1885 im Blick auf das nach wie vor von ihm bezogene Organ voller Abscheu ausließ über den hier zu besichtigenden, vom „Rattenfänger“ Wagner angerichteten „Sumpf“ von „Anmaaßung, Deutschthümelei und Begriffswirrwarr im trübsten Durcheinander“ (KSA 11, 675). Das Problem selbst ist damit indes nicht ganz gelöst, zumal Nietzsche auch in Ecce homo nicht den Mut fand, sich eindeutig zu äußern über seine eigene frühe sowie natürlich Wagners Verantwortung für die völkische Ideologie vieler Wagnerianer. Der hier wieder abgedruckte Beitrag von Weaver Santaniello klärt über einige dieser Zusammenhänge auf, wohingegen der Beitrag von Harald Lemke die ‚helle‘, unter der Last der Editionspolitik Förster-Nietzsches und Baeumlers fast zum Verschwinden gebracht ‚helle‘ Seite Nietzsches in Erinnerung bringen soll.

Ganz am Ende sei darauf hingewiesen, dass die ausgewählten Beiträge hier weitgehend unverändert zum Abdruck gelangen. Offensichtliche Fehler (auch bei Zitaten) wurden stillschweigend korrigiert, auf neue Rechtschreibung wurde nicht umgestellt. Fußnoten wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen (Volz, Niemeyer, Detering, Lemke), so belassen.

Franziska Rödiger und Helene Schmidt sei, namens aller Herausgeber, für technische Hilfe gedankt, meinem Freiburger Kollegen Andreas Urs Sommer für fachlichen Rat, Benjamin Landgrebe von der WBG für sein Vertrauen und seine Geduld.

Friedrich Nietzsche

Подняться наверх