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3. Gegenrevolutionäre Mobilisierung

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Dieses klägliche Ergebnis auf der Ebene der Delegierten entsprach um die Jahreswende herum einer allgemeinen Maskulinisierung der Revolution. Ein entscheidender Grund hierfür war die Ende November beginnende Demobilmachung der deutschen Armee. Mit einer aufwendigen Parade begrüßte man die geordnet heimkehrenden Frontsoldaten in Berlin, wo die Straßen zum ersten Mal seit der Revolution wieder voll von Kränzen, den schwarz-weiß-roten Flaggen des Kaiserreiches und Armeeoffizieren waren. Auf der ersten und größten Veranstaltung dieser Art am 10. Dezember lobte Ebert die Truppen für ihre „mannhafte“ Tapferkeit und beteuerte: „Kein Feind hat euch überwunden.“71 Die überwiegende Mehrheit der Soldaten dachte an nichts anderes als an die Rückkehr zu ihren Familien, nachdem sie einmal den Rhein überquert hatten. Sie waren nicht die brutalisierten, rachelustigen Veteranen, wie der nationalistische Mythos sie später beschreiben sollte. Etwa Mitte Februar 1919 war fast die gesamte acht Millionen Mann starke Armee demobilisiert.72 Die deutschen Frauen, die bis dahin die wirtschaftliche Hauptlast getragen hatten, verloren ihre Arbeitsplätze an die Kriegsheimkehrer in einem, wie es die feministische Frauenzeitschrift „Die Frau“ ausdrückte, „umfassenden Schlag gegen die arbeitenden Frauen im Allgemeinen“.73 Ungeachtet der persönlichen Ansichten der einzelnen Soldaten selbst beflügelte ihre Rückkehr auf deutschen Boden gegenrevolutionäre Fantasien. Rechte Kräfte fühlten sich unter der Deckung der Armee zum Wiederauftauchen ermutigt. Am 6. Dezember versuchte eine Gruppe Offiziere mittlerer Dienstgrade, Richard Müllers Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte zu verhaften und Ebert als Diktator zu installieren. Ebert lehnte dankend ab, und die Intrige kollabierte umgehend. Aber die Nachricht des Putschversuches erreichte eine im Norden Berlins abgehaltene Demonstration des Spartakusbundes, einer linksradikalen Gruppe unter der Leitung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Eine Einheit mit 60 loyalen Soldaten wurde losgeschickt, um die Spartakisten an einer Straßenbahnhaltestelle abzufangen. Dem Anschein nach in einem Zustand aufgeregter Panik, eröffneten sie das Feuer auf die einfahrende Straßenbahn, wobei 16 Zivilisten ums Leben kamen.74 Diese bis dahin gewalttätigste Episode der Revolution stellte die Weichen für sechs Wochen andauernde blutige Unruhen in der Hauptstadt.

Der Vorfall war nicht die erste Einmischung der deutschen Armee in revolutionäre Politik. Am 10. November, dem Tag, an dem Theodor Wolff im „Berliner Tageblatt“ den Untergang des preußischen Militarismus feierte, sprach Ludendorffs Nachfolger Wilhelm Groener mit Ebert. Er sicherte ihm die Unterstützung der OHL zu, wenn er im Gegenzug den Fortbestand des Offizierskorps und die Einberufung einer verfassunggebenden Nationalversammlung zusicherte. Dieser Austausch von Höflichkeiten ist oft als ein „Pakt“ bezeichnet worden, was seine Bedeutung stark übertreibt. So verfügten weder Groener noch Ebert über den entsprechenden Einfluss, um ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen. Am 16. Dezember 1918 versammelte sich der Reichsrätekongress im Gebäude des preußischen Landtages. Obwohl er sich mit 400 zu 50 Stimmen für die Wahlen zur Nationalversammlung im Januar aussprach, verabschiedete er außerdem einstimmig die sogenannten Sieben Hamburger Punkte, die unter anderem die Entfernung aller Rangabzeichen und die Abschaffung des stehenden Heeres forderten.75 Um Weihnachten herum stellte sich heraus, dass Groener nicht über genügend zuverlässige militärische Ressourcen zur Unterstützung Eberts verfügte. Schon seit geraumer Zeit hatten sich die Beziehungen zwischen der Regierung und der Volksmarinedivision, einer am 9. November im Wesentlichen von Kieler Matrosen geschaffenen Einheit, verschlechtert. Am 23. Dezember revoltierte diese Division gegen das Ausbleiben ihres Soldes und setzte den Stadtkommandanten Otto Wels von der MSPD fest. Ebert forderte den preußischen Kriegsminister zur Aussendung von Truppen auf, die am Morgen des 24. Dezembers die Stellung der Division unter Beschuss nahmen. Die Auseinandersetzung endete jedoch mit einer blamablen Niederlage für die Regierung und die Einheit der OHL, die 56 Männer verlor, während die Rebellen nur 11 Todesopfer zu beklagen hatten.

Dieses von den Spartakisten als „Eberts Blutweihnacht“ titulierte Debakel hatte zwei wichtige Konsequenzen. Aus Protest gegen die Anwendung militärischer Gewalt gegen die als Helden der Revolution verehrten Matrosen verließen zunächst die USPD-Delegierten den Rat der Volksbeauftragten. Der linke USPD-Flügel, der schon seit der Entscheidung des Rätekongresses zugunsten einer Nationalversammlung mit den Hufen scharrte, bekam wieder Aufwind. Zweitens verdoppelten Regierung und OHL ihre Bemühungen, verlässliches Militärpersonal zum Schutz des Staates und der Nationalversammlung gegen die Linke zusammenzustellen. Um den Demobilmachungsprozess zu verlangsamen, gab das Kriegsministerium Anfang Januar bekannt, dass Soldaten so lange freiwillig in der Armee verbleiben durften, bis sie einen Arbeitsplatz gefunden hatten. Vor allem aus diesem Pool erfolgte anfänglich die Rekrutierung der gegenrevolutionären Stoßtruppen der Freikorps.76 Ebert und Gustav Noske, der nach dem Ausscheiden der Unabhängigen der Regierung beigetreten war, inspizierten am 4. Januar 1919 die erste dieser neuen Formationen in einem Armeestützpunkt in Zossen. Beeindruckt von ihrem männlichen Auftreten, soll Noske Ebert vor Freude auf die Schulter geklopft haben.77

Diese Freiwilligen mussten nicht lange auf ihren ersten Einsatz gegen die Revolution warten. Wenige Tage zuvor war in einem Klima gegenseitiger Beschuldigungen unter den Anhängern der Linken die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gegründet worden. Ihre Gründungsmitglieder stimmten mit überwiegender Mehrheit gegen eine Teilnahme an den Wahlen zur Nationalversammlung.78 Sie verabschiedeten gegen den ausdrücklichen Wunsch von Luxemburg und Liebknecht eine Resolution, die einen möglichen Putsch implizierte. Diese Dynamik setzte sich in den Folgemonaten fort, als das Führungspersonal der Kommunisten, der Revolutionären Obleute und der USPD wiederholt entweder die Kontrolle über die revolutionären Impulse ihrer Mitglieder verlor oder sich diesen widersetzte. Das bekannteste Beispiel für spontanen Aufruhr ist der Januaraufstand 1919 in Berlin. Die populäre Bezeichnung als „Spartakusaufstand“ ist dabei in höchstem Maße irreführend, denn die Revolte war weder von den Spartakisten geplant noch angeführt. Ausgelöst wurde der Januaraufstand durch die Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, Mitglied der USPD-Radikalen und den Volksbeauftragten ein Dorn im Auge. KPD, USPD und Obleute riefen zu Demonstrationen am Folgetag auf, an denen sich völlig unerwartet Hunderttausende beteiligten.79 Die Ereignisse gerieten bald außer Kontrolle, als eine kleine Gruppe bewaffneter Radikaler die Räumlichkeiten der verhassten MSPD -Zeitung „Vorwärts“ und einiger liberaler Verlage besetzte. Liebknecht und andere Radikale überschätzten die Bereitschaft zu einer zweiten, sozialen Revolution innerhalb und außerhalb Berlins und riefen zu einem Generalstreik auf, der Ebert stürzen und die Wahlen zur Nationalversammlung verhindern sollte. Tatsächlich war der Plan für dieses Vorhaben verworren und abwegig und wäre vermutlich von allein im Sande verlaufen, hätte nicht die parteiliche, nach Blut lechzende Presse Berlins dazwischengefunkt.80 Die MSPD, die sich selbstgerecht zur Beschützerin von Ordnung und Pressefreiheit aufspielte, witterte eine Gelegenheit, nach der Blamage der „Blutweihnacht“ die Staatsmacht zu stärken und die Beziehungen zum bürgerlichen Lager in der zukünftigen Nationalversammlung zu festigen. Noske war nur zu gern bereit, die Initiative zu ergreifen. Am 11. Januar nahmen loyale Soldaten das Gebäude des „Vorwärts“ unter Beschuss und überrannten die Besatzer innerhalb kürzester Zeit. Aber dann rief Noske die Freikorps, um die Straßen Berlins von Radikalen zu reinigen. Mindestens 150 mutmaßliche Spartakisten, manche von ihnen einfache Streikende, wurden getötet. Von den 400 Verhafteten verloren mindestens 9 ihr Leben im Gefängnis. Aus dem Untergrund schrieb Liebknecht, eine „ungeheure gegenrevolutionäre Schlammflut aus den zurückgebliebenen Volksteilen und den besitzenden Klassen ersäufte“ die deutsche Revolution.81 Er wurde zur Strecke gebracht und angeblich „beim Fluchtversuch erschossen“, eine fiktive Version der Ereignisse, welche die MSPD und ihre Mitstreiter in der Presse hitzig verteidigten. Einige Monate später fischte man Luxemburgs Leiche aus dem Landwehrkanal. Ebert zeigte sich von der Leistungsfähigkeit der Freikorps beeindruckt. Auf einer Sitzung der Länderregierungen am 31. Januar bemerkte er: „Wenn man nur über eine ausreichende Militärmacht verfügt, ist das Regieren einfach; es war sehr schwierig, eine Militärmacht aufzubauen, endlich ist es uns gelungen“.82

Ebert stand zu seinem Wort, und die in Berlin begonnene Gewalt breitete sich über das ganze Reich aus. Im Januar 1919 wurden in Cuxhaven und Bremen sozialistische beziehungsweise Räterepubliken ausgerufen, Mannheim und Braunschweig folgten im Februar, Bayern im April. Alle diese Proklamationen erfolgten unüberlegt und improvisiert, und alle wurden mit beispiellosem gegenrevolutionärem Terror niedergeschlagen.83 Einer der Protagonisten verglich diese rastlose Kampagne staatlicher Gewalt mit einem „Kreuzzug“.84 Mit 25 Tagen hielt sich die Bremer Räterepublik am längsten. In der Freien Hansestadt Bremen hatte der Radikalismus in der Arbeiterbewegung Tradition. Die dortigen Arbeiterräte wurden von Kommunisten und Vertretern der USPD kontrolliert, die den Aufruf des Rätekongresses zu den Wahlen zur Nationalversammlung nicht anerkannten. Am 10. Januar riefen die Kommunisten in Solidarität mit dem Berliner Aufstand die „Unabhängige Republik Bremen“ aus. Der Bremer Senat wurde abgesetzt und die Bevölkerung darüber informiert, dass bei konterrevolutionären Handlungen das Erschießungskommando eingesetzt würde.85 Die Kündigung von Bankkrediten und das Ergebnis der Wahlen zur Nationalversammlung, die eine nur geringe Bereitschaft der Öffentlichkeit zu radikalen Abenteuern verrieten, nahmen den Revolutionären bald den Wind aus den Segeln. Als Berlin militärische Interventionen androhte, bot die Führung der Räterepublik ihren Rücktritt an, um Blutvergießen zu verhindern. Am 4. Februar marschierten dennoch Noskes Truppen zusammen mit örtlichen Freikorpseinheiten in die Stadt ein und machten der Bremer Republik ein Ende. 75 Tote und 200 Verwundete, unter ihnen viele Zivilisten, waren auf beiden Seiten insgesamt zu beklagen. Es wurde der Belagerungszustand ausgerufen und überlebende Aktivisten der Rätebewegung mithilfe vorbereiteter Arrestlisten zusammengetrieben. Etwa 30 Jahre später sollte Noske noch immer mit Stolz auf das didaktische „Exempel“ zurückblicken, das er in Bremen statuiert hatte.86


Abb. 1.2: In diesem ikonischen Foto hat der Fotograf Willy Römer eine Szene aus dem Januaraufstand in Berlin 1919 festgehalten. Am Morgen des 5. Januar installierten 14 männliche Aufständische ein Maschinengewehr, das auf das Gebäude der SPD-Zeitung „Vorwärts“ zielte. Römer hielt jenen Moment fest, in dem die Aufständischen ihn selbst und seine Kamera entdecken, und der Beobachter zum Teil des Geschehens wird. Kurz darauf wurde Römer für ein vierstündiges Verhör von den Linksradikalen in Gewahrsam genommen.

Die Maßnahmen gegen die radikale Linke erschütterten die ohnehin schon angeschlagene Führungsrolle der MSPD innerhalb der mit der Revolution unzufriedenen Arbeiterbewegung zusätzlich. Die Zusammensetzung der Nationalversammlung, in der die sozialistischen Parteien keine Mehrheit besaßen, deutete auf weitere Kompromisse mit dem bürgerlichen Lager hin. Die MSPD gewann 165 der 423 Sitze, die USPD nur 22, womit der nominell sozialistische Block weit von einer Mehrheit entfernt war. Damit stand es schlecht um die Aussichten auf eine bedeutende Rolle der Räte in der neuen Verfassung. Die weiterhin bestehende britische Seeblockade, die Deutschland zur Einwilligung zu einem künftigen Friedensvertrag zwingen sollte, brachte dem Liberalismus der Entente einen schlechten Ruf ein. Die durch ihre frühere Haltung zur Burgfriedenspolitik kompromittierte Führungsriege der sozialistischen Freien Gewerkschaften konnte den Radikalismus innerhalb der Arbeiterbewegung nicht eindämmen. In erster Linie von Metallarbeitern angeführte spontane Massenproteste richteten sich gegen das Stinnes-Legien-Abkommen und forderten die sofortige Verstaatlichung der Industrie.87 Verschiedenste Vorstellungen machten die Runde, was wie sozialisiert werden sollte. Der Begriff „Sozialisierung“ war ein flottierender, nicht eindeutig festgelegter Signifikant; er konnte sowohl die komplette Verstaatlichung der Kommandohöhen der Industrie als auch eine syndikalistische Übernahme einzelner Unternehmen oder lediglich eine Verbesserung von Löhnen und Arbeitsbedingungen bedeuten. Diese Vieldeutigkeit erwies sich als ein Vorteil. „Die Idee der Sozialisierung“, klagte der Merseburger Regierungspräsident im Februar 1919, „hat den Massen völlig die Köpfe verdreht“.88

Mit dem Abbau der im Allgemeinen eher moderaten Soldatenräte bewegten sich die Arbeiterräte in eine radikalere Richtung. Im Ruhrgebiet, einem Tummelplatz für revolutionäre Aktivisten, entwickelten sich die ersten Anzeichen von Unruhen im Dezember 1918 zu einem umfassenden Generalstreik mit verheerenden Folgen für die Wirtschaft. In Mitteldeutschland konnten Streiks in der Chemieindustrie und im Bergbau erst geschlichtet werden, nachdem die Regierung die Einführung von Betriebsräten als einem wirtschaftsdemokratischen Instrument und die Sozialisierung der Kohleindustrie zusicherte. In Berlin riefen Arbeiterräte Anfang März 1919 einen Generalstreik aus und forderten die formelle Institutionalisierung der Rätebewegung und die Erfüllung der Hamburger Sieben Punkte, einschließlich der Auflösung der Freikorps. In Berlin und an der Ruhr entschied sich die Regierung für militärische Maßnahmen. Noske verhängte den Belagerungszustand über Berlin und schickte 30 000 Freikorps-Männer, ausgestattet mit Panzern, Haubitzen und Militärflugzeugen. Am 3. März erließ er den berüchtigten – und illegalen – „Schießbefehl“, nach dem jeder, der mit einer Waffe angetroffen wurde, kurzerhand erschossen werden konnte.89 Das Blutbad dauerte bis zum 12. März und forderte mehr als 1000 Todesopfer, von denen die Mehrzahl unbewaffnete Streikende waren. Sowohl der „Vorwärts“ als auch Wolffs „Berliner Tageblatt“ befürworteten die Handlungsweise von Noskes Truppen.90

Dies war indes noch nicht das Ende des konterrevolutionären „Kreuzzugs“. In Bayern hatte sich die politische Stimmung gegen Kurt Eisner gewandt, nachdem dieser Dokumente des Außenministeriums hatte veröffentlichen lassen, die Deutschlands Rolle beim Kriegsausbruch beleuchteten. Die antiklerikale Schulpolitik seiner Regierung war ebenfalls unbeliebt und rüttelte das einflussreiche katholische Establishment aus seiner Apathie.91 Doch der Beginn einer zweiten revolutionären Welle in Richtung eines Rätesystems im Februar 1919 überraschte alle Beobachter. In den Vormonaten hatte Bayern noch als sicherer Hafen für Kapital gegolten, das aus anderen, unruhigeren Teilen des Reiches hierher transferiert wurde.92 Der Auslöser der Ereignisse war die Ermordung Eisners durch einen rechtsradikalen Studenten am 21. Februar. Das nachfolgende politische Chaos erreichte seinen Höhepunkt mit der Ausrufung von zwei Räterepubliken kurz nacheinander, die zweite von den Kommunisten initiiert. Die Aufständischen entwaffneten die Münchner Polizei und stellten eine Rote Armee aus Kommunisten, demobilisierten Soldaten und Kriegsgefangenen auf, deren Ausrüstung und Sold sie zum Teil durch Erpressung und Plünderungen in den reicheren Bezirken der Stadt finanzierten. In den ärmeren Stadtteilen riefen Plakate die Bevölkerung auf, die Wohnungen der Wohlhabenden zu besetzen. Der Kommunistenführer Eugen Leviné, ein Veteran der russischen Revolution von 1905, ventilierte die Idee, Kinder aus dem Bürgertum verhungern zu lassen, die ansonsten zu „Feinden des Proletariats“ heranwüchsen. Eine Lawine idealistischer Verordnungen erließ die Sozialisierung von Bergwerken, Banken, Universitäten und der Presse. Selbst der sonst so nüchterne Thomas Mann, der in München lebte, verzweifelte angesichts der Vorstellung eines sich von Bayern aus triumphierend über ganz Deutschland bis hin zu den Ententemächten ausbreitenden Rätesozialismus.93

Für solche weitreichenden Vorhaben war jedoch die Durchsetzungskraft des Räteregimes zu gering. Hätte man das bayerische Projekt sich selbst überlassen, wäre es zweifellos binnen Kurzem von selbst zusammengebrochen. Doch wieder waren OHL und MSPD nicht zum Abwarten bereit. Die abgesetzte Regierung des MSPD -Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann rief lokale Freikorps-Einheiten zur Zerschlagung des „russischen Terrors“ in München auf. 15 000 bayerische Freiwillige konnten gewonnen werden, zuzüglich einer etwa ebenso starken Truppe, die von Berlin aus nach München geschickt wurde.94 Erneut erging ein Schießbefehl an die konterrevolutionären Truppen. Deren Rachsucht wurde angestachelt durch die von Revolutionären durchgeführte Exekution von zehn Geiseln, unter ihnen eine Gräfin, in einer Münchner Schule. Diese sinnlose Aktion war die berüchtigtste Gräueltat der Aufständischen während der gesamten Revolution und sollte die öffentliche Erinnerung an diese Zeit während der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ dominieren. Die mörderische Gewalt der bayerischen Freikorps und der Truppen Noskes stellte sie jedoch bei Weitem in den Schatten. Mehr als 600 Menschen kamen bei dem Angriff auf München ums Leben, viele von ihnen wurden, ebenso wie in Berlin, erst nach ihrer Inhaftierung exekutiert.

Mit dem Feldzug der Freikorps im Jahr 1919 stellte der deutsche Staat kalkuliert und todbringend seine Macht zur Schau.95 Er sicherte der Armee eine prominente Stellung im politischen Leben der künftigen Republik zu, die in keinem Verhältnis zu ihrer durch den Versailler Vertrag ausgedünnten Truppenstärke stand. Doch die militärischen Operationen waren lediglich ein kleiner Teil einer sehr viel umfangreicheren konterrevolutionären Mobilisierung durch bereits etablierte Institutionen gegen die im November 1918 eingeführte neue Ordnung. Die keiner Reform unterworfene deutsche Justiz verfolgte revolutionäre Aktivisten mit beispielloser Entschlossenheit und hielt allein in Bayern nicht weniger als 5000 Gerichtsverfahren ab. Bis weit in die Zeit der Weimarer Republik hinein blieb sie notorisch parteiisch und ihren konterrevolutionären Sympathien verhaftet.96 Die deutschen Universitäten entwickelten sich zu Hochburgen eines romantischen Nationalismus und reißerischer Verschwörungstheorien wie der Dolchstoßlegende, wonach die deutsche Revolution nicht die Folge, sondern die Ursache der militärischen Niederlage gewesen sei.97 Die christlichen Kirchen stellten ebenfalls eine Bastion innerhalb des weit ausgedehnten konterrevolutionären Milieus dar. Ihrer traditionellen Rolle gemäß hatten sie schon während des Krieges die politische Ordnung von der Kanzel herab gerechtfertigt und waren daher tief in die Kriegsanstrengungen verstrickt. Die sich daraus ergebende Notwendigkeit einer theologischen Erklärung der Niederlage erzeugte nun eine institutionelle Sympathie für die Dolchstoßlegende, um Sozialisten, Liberale und Juden als vermeintlich falsche Propheten zu entlarven.98 Die nationalistischen evangelischen Kirchen erfuhren eine weitere Legitimationskrise durch das Verschwinden der deutschen Fürsten, ihrer weltlichen Repräsentationsfiguren und Kirchenoberhäupter. Artikel 137 der Weimarer Verfassung erklärte explizit: „Es besteht keine Staatskirche“, und besiegelte damit das für die Kirchen traumatische Ende der Union zwischen Thron und Altar. Noch bevor die Nationalversammlung zusammentrat, bildete sich eine antirevolutionäre Frömmigkeit heraus, angefacht durch das vom preußischen Staat verhängte Verbot der Religionsausübung in Schulen.99 Erzbischof Michael von Faulhaber prangerte ähnliche Maßnahmen der Regierung Eisner in Bayern als einen neuen „Kulturkampf“ an. Einige Jahre später urteilte er: „Die Revolution war Meineid und Hochverrat und bleibt in der Geschichte erblich belastet und mit dem Kainsmal gezeichnet.“100 Keine der deutschen Kirchen tat sich während der Weimarer Republik mit Formulierungen demokratischer Werte hervor.

Zum Jahrestag der Revolution, die er mit so enthusiastischen Worten begrüßt hatte, schrieb Theodor Wolff 1919 einen Leitartikel für das „Berliner Tageblatt“, der allerdings weniger begeistert ausfiel. Wolff räumte ein, dass im republikanischen Deutschland „viel vom Geist des monarchistischen Staates“ erhalten geblieben sei. Verglichen mit der Französischen Revolution beklagte er die Unfähigkeit der deutschen Revolutionäre, sich wie „Beaumarchais“ mit „dreistem Witz“ über das „Fallende“ lustig machen zu können und das Fehlen einer die „Herzen“ fortreißenden Nationalhymne wie der Marseillaise.101 Die prominenten Sozialisten Ernst Däumig und Oskar Maria Graf waren der gleichen Ansicht.102 Doch diese Beschwerden waren deplatziert. Der jungen Republik mangelte sich ganz sicher nicht an talentierten Satirikern, und auch die russischen Revolutionäre von 1917 hatten in der Marseillaise eine äußerst brauchbare Inspiration gesehen.103 Es ist paradigmatisch für die Selbstgeißelung der deutschen Revolutionäre, dass sie glaubten, im Vergleich mit Frankreich oder Russland eine Revolution inszeniert zu haben, die „lendenlahm“ (Ernst Däumig) sei.104 Doch der Vergleich hinkt. Die soziale und politische Ordnung Deutschlands, eines hoch industrialisierten Staates, war mit den für Länder mit einer vorwiegend agrarischen Wirtschaft entwickelten revolutionären Programmen unvereinbar. Seine Institutionen waren widerstandsfähiger und tief im gesellschaftlichen Gefüge verankert. Wie die Unabhängigen Sozialdemokraten bei den Wahlen zur Nationalversammlung feststellen mussten, gab es in der deutschen Öffentlichkeit wenig Bereitschaft zu weiteren revolutionären Umbrüchen. Das Wahlergebnis deutete darauf hin, dass selbst die an den Volksaufständen im November 1918 Beteiligten das revolutionäre Mandat durch den Waffenstillstand, die Vertreibung der deutschen Dynastien und die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung für beendet ansahen. Gern überließen sie die Ausarbeitung der Details den neuen, demokratisch gewählten Politikern. Die Bilanz der Nationalversammlung bestätigte sie im Großen und Ganzen. Zwar wiesen die Delegierten den Räten im neuen politischen System nur eine symbolische Rolle zu, aber mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, einer parlamentarischen Demokratie, des uneingeschränkten Versammlungsrechts, umfangreichen Sozialleistungen und der Trennung von Kirche und Staat waren lang gehegte Ziele der Sozialdemokraten eingelöst worden. Dies waren zweifellos Errungenschaften der Revolution: Wie Wolff schon in seinem Leitartikel von 1919 ausführte, wären diese unter der Regierung Max von Badens und den Oktoberreformen mit einem hinter den Kulissen intrigierenden Ludendorff kaum vorstellbar gewesen. Objektiv gesehen haben ihre Errungenschaften ein weit größeres Anrecht darauf, in den Darstellungen der Revolution eine Hauptrolle zu spielen, als die eher randständigen Spartakisten, deren Schicksal die historische Erinnerung bisher so gefesselt hat. Dies heißt aber keineswegs, dass die konterrevolutionäre Gewalt von 1919 in historischer Hinsicht peripher gewesen wäre, und schon lange nicht, dass die vielen Gräueltaten als das Werk vereinzelter Freikorps-Reaktionäre abgetan und aus der historischen Bilanz der deutschen Sozialdemokratie getilgt werden könnten.105 Diese staatliche Gewalt stellte 1919, ganz wie es MSPD und OHL beabsichtigten, die Beendigung der Revolution sicher. Zwar reichen manche Darstellungen der Revolution chronologisch bis 1920 oder sogar 1923 und schließen die fortgesetzte Militanz der Arbeiterbewegung und Aufstandsversuche von rechts und von links mit ein. Aber in verfassungsrechtlicher Hinsicht fand die deutsche Revolution mit der Vereidigung Eberts als Reichspräsident am 21. August 1919 ihren Abschluss. Wie schon Harry Kessler, einer der scharfsinnigsten Beobachter seiner Zeit, in seinem Tagebuch notierte, strafte die Banalität dieser Zeremonie die historische Bedeutung dieses Moments Lügen.106 Der Blick nach Osten auf das Blutvergießen und die Bürgerkriege in weiten Teilen der früheren österreichischen, russischen und osmanischen Reiche nach 1918 macht die Errungenschaften der deutschen Revolution deutlich.107 Die nachfolgenden Krisen und Kämpfe der in Ost- und Mitteleuropa gebildeten demokratischen Nachfolgestaaten heben die fundamentale Lebensfähigkeit der Weimarer Republik als ein Experiment in der Ausübung der Volkssouveränität hervor. Die deutsche Revolution von 1918/19 schuf eine stürmische, streitsüchtige, pluralistische und hoch entwickelte Demokratie mit all den zu einer solchen Regierungsform dazugehörigen Möglichkeiten. Sie sollte nicht in ahistorischer Weise durch die Brille des späteren Untergangs der Republik gesehen werden.

Aus dem Englischen übersetzt von Christine Brocks

Aufbruch und Abgründe

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