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Einleitung

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Nadine Rossol und Benjamin Ziemann

Der Epochenbegriff Weimarer Republik ruft viele schillernde und letztlich widersprüchliche Vorstellungen auf. Weimar steht für Innovationen in allen Bereichen von Kunst und Kultur, von Bertolt Brechts epischem Theater über die funktionalistische Architektur des Bauhauses bis hin zu den Fotomontagen von Hannah Höch. Mit Weimar verbinden wir eine Gesellschaft auf der Suche nach neuen Lebensformen, die Sehnsucht nach Gemeinschaft in der Jugendbewegung wie die Um- und Aufbrüche im Geschlechterverhältnis und die Erprobung neuer Geschlechterrollen. Zugleich war die Weimarer Republik ein Ort der radikalen Erweiterung von Partizipationsrechten: Das allgemeine Männerwahlrecht wurde durch die Herabsetzung des Mindestalters erweitert, und mit der Einführung des Frauenwahlrechts – ein Vierteljahrhundert früher als in Frankreich 1944 und ohne gravierende Einschränkungen, wie sie in Großbritannien bis 1928 galten – stand Deutschland an der Spitze des emanzipatorischen Fortschritts in Europa. Die Weimarer Reichsverfassung kodifizierte zudem die Grundlagen eines Wohlfahrtsstaates, der mehr versprach als nur die Reparatur sozialer Risiken.

Doch die Weimarer Republik erinnert uns auch daran, wie konfliktreich und ambivalent die moderne Gesellschaft und wie zerbrechlich die Demokratie ist. Antisemitische Vorurteile und Hetze gegen die deutschen Juden waren weit verbreitet, populistische Angriffe gegen die parlamentarische Demokratie und ihre Repräsentanten waren an der Tagesordnung. Die Weimarer Republik erlebte die größte Krise der kapitalistischen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, deren ökonomische und soziale Folgen Millionen von Menschen zur Verzweiflung trieben. Und es entstand die Nationalsozialistische Partei, die nach bescheidenen Anfängen als eine von vielen rechtsradikalen Gruppen in Bayern nach 1918 zur größten deutschen Partei in den Wahlen des Jahres 1932 heranwuchs. Nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler berufen wurde, zerstörten die Nationalsozialisten umgehend die Reste der Weimarer Demokratie, und die totalitäre Diktatur des „Dritten Reiches“ begann.

Die Weimarer Republik ist somit von zentraler Bedeutung für die deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Ziel des Handbuchs ist es, auch Lesern ohne Vorkenntnisse kompakte Informationen über alle wichtigen Aspekte der Gesellschaft, Kultur und Politik der Epoche zugänglich zu machen und es ihnen so zu ermöglichen, die Widersprüche dieser Zeit zu verstehen. Geschehnisse in der jüngsten Vergangenheit haben das Interesse an der Weimarer Republik erneut geweckt. 2018 jährte sich ihre Gründung zum 100. Mal. Dieses Jubiläum gab den Anstoß dazu, die erste deutsche Republik als einen Meilenstein für die Entwicklung der demokratischen Kultur zu präsentieren und als Bezugspunkt für eine positive historische Tradition zu deuten. Gleichzeitig hat der Aufstieg rechtsgesinnter populistischer Parteien in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern erneut Besorgnis über die Stabilität der Demokratie ausgelöst. Der Ausdruck „Weimarer Verhältnisse“ dient dabei als Chiffre für die Gefahren, die eine Erosion des Vertrauens in das parlamentarische System nach sich zieht, aber auch für die Verwundbarkeit der demokratischen Regierungsform gegenüber denjenigen, die sie verachten und populistische Ressentiments gegen sie aufwiegeln.1 Wir teilen die weitreichende Besorgnis über die populistische Welle in der gegenwärtigen europäischen Politik und sind uns der Einsichten, die aus dem historischen Vergleich gewonnen werden können, sehr bewusst. Doch wir glauben auch, dass sich das Interesse an Weimar als historischem Referenzpunkt für die gegenwärtigen Schwächen der Demokratie die Waage halten muss mit dem Hauptziel historischer Forschung, nämlich die Spezifik einer vergangenen Epoche zu verstehen und zu erklären.2 Was sich so als ein Interesse an der Historisierung beschreiben lässt, bleibt auch ein wichtiges Anliegen für die Zeit der Weimarer Republik.

Welches Bild der Republik von Weimar entsteht, wenn Historiker die Aufgabe der Historisierung ernsthaft angehen? Diese Frage wird weiter unten ausführlich erörtert, aber bereits an dieser Stelle wollen wir einige Anhaltspunkte geben. Die dramatische Gegenüberstellung einer glanzvollen, modernen Avantgardekultur auf der einen Seite und der verhängnisvollen Wirtschaftskrise und des Aufstiegs der Nationalsozialisten auf der anderen Seite sollte aufgegeben werden. Denn sie verdeckt viele andere Facetten der Weimarer Republik, die auch zu dieser Epoche gehören, und zeichnet ein Bild der Kunst und Kultur, das in seiner Betonung der Avantgarde einseitig ist.3 Weimar zu historisieren verlangt auch, den „Erwartungshorizont“ der Zeitgenossen der 1920er und frühen 1930er Jahre zu rekonstruieren. Eine Rückschau, die sich aus dem Wissen um den Ausgang der Epoche im Jahr 1933 speist, bringt Probleme mit sich. Für viele Angehörige des nationalen Lagers erschien der 30. Januar 1933 als die Erfüllung ihrer Träume. Aber die deutsche Geschichte der Jahre 1918 bis 1933 lässt sich nicht auf die Rolle eines Vorspiels des „Dritten Reiches“ reduzieren.4 Denn in diesem Fall würden wir die zeitgenössischen Erwartungshaltungen derjenigen vernachlässigen, die im Jahr 1925 oder 1930 in die nächsten fünf oder zehn Jahre blickten und eine Fülle verschiedener möglicher Zukunftsperspektiven für Deutschland imaginierten.5 Zugleich erschwert der alleinige Fokus auf 1933 eine Analyse der kollektiven Handlungsspielräume der Zeitgenossen und auf die sich ihnen bietenden Chancen, die Zukunft zu gestalten. Eine Ideengeschichte der zeitgenössischen Zukunftsvisionen in Deutschland 1918 bis 1933 zeigt deren optimistischen Grundton. Dies widerspricht der konventionellen Sicht, das Gemetzel an den Fronten im Ersten Weltkrieg hätte dem optimistischen liberalen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts ein Ende bereitet.6 Der Glaube an die Fähigkeit, die eigene Zukunft gestalten zu können, war ein zentrales und über das gesamte politische Spektrum, von der Linken bis zur radikalen Rechten, geteiltes Element der intellektuellen Grundausstattung der Weimarer Republik.

Weimar zu historisieren bedeutet auch, verschiedene Kontinuitätslinien der deutschen Geschichte in Betracht zu ziehen. Durch Überlegungen emigrierter Historiker wie Hans Rosenberg angeregt, haben Vertreter der Sozialgeschichte wie Jürgen Kocka und Hans-Ulrich Wehler das Konzept eines deutschen Sonderwegs formuliert. Sie postulieren eine Kontinuitätslinie, die, grob definiert, von der Gründung des deutschen Nationalstaats 1871 bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 reicht. In dieser Deutung stellen die verfassungsmäßige Vormachtstellung des Militärs und der populäre Militarismus im deutschen Kaiserreich, der Mangel an parlamentarischer Kontrolle der Regierung und die soziale Machtposition der semifeudalen Landbesitzer im ostelbischen Preußen vor 1918 zentrale Vorbedingungen für den Übergang zur Diktatur 1933 dar. Anders als in westeuropäischen Nationen wie Frankreich und Großbritannien, so argumentieren die Vertreter der Sonderwegsthese, entwickelte sich in Deutschland keine pluralistische politische Kultur, die dabei geholfen hätte, den faschistischen Angriff auf die Demokratie abzuwehren. In diesem Sinne war der Weg in die Diktatur 1933 überdeterminiert.7 Das Konzept des Sonderwegs ist vielfach kritisiert worden, weil es die Fülle möglicher Kontinuitätslinien auf eine einzige reduziert.8 Betrachtet man etwa 1918/19 als einen Neuanfang, markiert durch die Einführung des Wahlrechts für Frauen und die Kodifizierung der Weimarer Verfassung, so öffnet sich der Blick für andere Kontinuitätslinien. Aus der Sicht des Jahres 1949, als die Bundesrepublik das Grundgesetz annahm, und mehr noch aus der Perspektive von 1990, als das wieder vereinigte Deutschland die 1949 eingeführte demokratische Ordnung bestätigte, erscheint 1919 als Begründung einer historischen Entwicklung: Zum ersten Mal gab sich ein deutscher Staat eine demokratische Regierungsform. Aus dieser Perspektive ist Weimar ein wichtiger Teil der Vorgeschichte der gegenwärtigen Bundesrepublik.9

In diesem einleitenden Kapitel wollen wir unsere Leser in einige wichtige Strömungen und Aspekte der historiografischen Diskussion einführen, die von 1945 bis zur Gegenwart die geschichtswissenschaftliche Debatte über die Weimarer Republik geprägt haben. Wir werden uns mit den wichtigen Studien von Historikern der Bundesrepublik aus der Zeit bis 1990 beschäftigen, die bis heute die Geschichtsschreibung über diese Ära beeinflussen. Dann sprechen wir einige Themen und Fragestellungen an, die seit 1990 zu einer Pluralisierung der Ansätze, Perspektiven und Interpretationen geführt haben. Abschließend erläutern wir den Aufbau dieses Handbuchs und die Auswahl der Themen.

Aufbruch und Abgründe

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