Читать книгу Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe - Группа авторов - Страница 6
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gesundes Aufwachsen ermöglichen
Die Kinder- und Jugendhilfe mit dem SGB VIII als gesetzliche Grundlage kümmert sich um die Belange von Kindern, Jugendlichen und Eltern und schafft einen Rahmen dafür, dass Kinder möglichst gute Bedingungen haben, um heranzuwachsen, bzw. dass Eltern den Prozess des Aufwachsens gut durch ihre Versorgung und Erziehung begleiten können. Die damit verbundenen Aufgaben sind für alle Eltern grundsätzlich eine anspruchsvolle Herausforderung, die durch die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe unterstützt, beraten und wo notwendig durch Hilfen ausgeglichen werden soll und muss – „Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung“ (BMFSFJ 2002), so will es die staatliche Gemeinschaft. Hierzu werden zum einen Angebote der Bildung und Unterstützung für alle Kinder, Jugendlichen und Eltern gestaltet: Kindertageseinrichtungen, Einrichtungen der Familienbildung, der Jugendarbeit sowie die Erziehungsberatung oder Frühe Hilfen gehören inzwischen zur selbstverständlichen Ausstattung einer kommunalen, sozialen Infrastruktur. Zum anderen müssen spezifische Angebote der Hilfe für Familien in Belastungs-, Krisen- und Notsituationen geschaffen werden, die zuverlässig und ausreichend Schutz, Hilfe und Ausgleich ermöglichen.
SGB VIII sichert Ansprüche familiärer Unterstützung
Grundsätzlich wird davon ausgegangen, dass alle Familien in schwierige Situationen geraten können und rechtlich verbriefte Ansprüche auf erforderliche Sozialleistungen haben. Im SGB VIII sind für solche Krisen und Probleme der Versorgung und Erziehung vor allem die Hilfen zur Förderung der Erziehung in der Familie (§§ 16 ff. SGB VIII) sowie die Hilfen zur Erziehung (§§ 27–35 SGB VIII) vorgesehen. Allerdings stehen die Leistungen einer Hilfe zur Erziehung nicht einfach so zur Verfügung, sondern der grundsätzlich bestehende individuelle Leistungsanspruch von Eltern auf diese Hilfen muss vom zuständigen örtlichen Jugendamt geprüft werden. Zu klären ist für jeden einzelnen Fall, ob ein „erzieherischer Bedarf“ vorliegt und eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe „geeignet und notwendig“ erscheint, um die konkrete Versorgungs- und Erziehungssituation eines Kindes in seiner Familie zu verbessern. Über diese Hilfeleistungen wird im Rahmen der Hilfeplanung gemäß § 36 SGB VIII beraten und entschieden (Kap. 4.2.1). Im Verlauf dieses Entscheidungsprozesses ist es eine zentrale Aufgabe der sozialpädagogischen Fachkräfte, zu einer fachlichen Einschätzung zu kommen, was das Problem ist und was gebraucht wird, um eine positive Veränderung insbesondere mit Blick auf die Kinder zu ermöglichen.
Schlüsselprozess Hilfeplanung gem. § 36 SGB VIII
Ein Schlüsselprozess der Hilfeplanung ist somit das Fallverstehen und die sozialpädagogische Diagnostik. Wie aber kommen Fachkräfte der Sozialen Arbeit zu professionell begründeten Einschätzungen, Hypothesen und Bewertungen – gerade in Fällen, in denen eskalierende Krisen die aktuelle Situation bestimmen und sich Fragen des Kinderschutzes stellen?
Das Nachdenken über „soziale Diagnostik“ geht zurück auf Mary Richmond (1917) und Alice Salomon (1926) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, beschäftigte die Soziale Arbeit in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder (mit wechselvoller Geschichte; Kap. 6) und ist Anfang des 21. Jahrhunderts wieder hochaktuell. Gerade mit dem Inkrafttreten des § 8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) im Jahr 2005 hat die schon immer bestehende Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe, das Wohl von Kindern zu schützen und sie vor Schaden zu bewahren, neue Qualität und Aufmerksamkeit gewonnen. Auslöser für diese und nachfolgende gesetzliche Veränderungen (z. B. für das Bundeskinderschutzgesetz 2012) waren nicht zuletzt Kinderschutzfälle, in denen Kinder durch das Handeln ihrer Eltern zu Schaden oder in Einzelfällen auch zu Tode gekommen sind (Schrapper 2015a). Der darüber geführte Fachdiskurs in Praxis und Theorie hat maßgeblich befördert, dass Fragen des fachlichen Verstehens und der professionsbezogenen Diagnostik zentral geworden sind und eine Vielzahl von Konzepten und Instrumenten aktuell die Arbeit in der Praxis der erzieherischen Hilfen prägt. Sie spannen sich auf zwischen den Polen Rekonstruieren und Klassifizieren, Verstehen und Erklären, Subjektivität und Objektivität (Kap. 6).
Wieso dieses Buch?
Über die Frage, wie professionelle Fachkräfte in der Sozialen Arbeit, insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe, zu ihren fachlichen Einschätzungen kommen, ist also in den 2000er/2010er Jahren (wieder) intensiv debattiert worden. Der vielfältige Diskurs ist für Außenstehende manchmal schwer zu überblicken und so ist die Frage berechtigt, wieso noch ein Buch zu diesem Thema als notwendig erachtet wird.
In der beachtlichen Vielzahl von Publikationen zum Thema (zusammenfassend zuletzt Buttner/Gahleitner u. a. 2018) fehlt bisher eine komprimierte, theorie- wie praxisbezogene Publikation für das Feld der Kinder- und Jugendhilfe, die ebenso für die Ausbildung von Studierenden der Sozialen Arbeit sowie als Hintergrund für die Qualifizierung der Praxis genutzt werden kann. Diese Lücke soll mit der vorgelegten Veröffentlichung geschlossen werden, wohl wissend, dass es in der Kinder- und Jugendhilfe nach wie vor an einem professionsspezifischen Kernkonzept mangelt, an das spezifischere diagnostische Aufgaben und entsprechende Konzepte (z. B. der individuellen Entwicklungsdiagnostik für ein Kind) anschließen können. Möglicherweise wird dies auch eine Wunschvorstellung bleiben, da es keinen anerkannten Ort der Verständigung und professionseigenen Meinungsbildung in der Sozialen Arbeit bzw. der Kinder- und Jugendhilfe gibt und ggf. auch nicht geben kann. Denn sozialpädagogische Methodenentwicklung war in ihrer Geschichte immer eklektisch – trug und trägt Unterschiedliches begründet zusammen, verbindet und nutzt, was hilfreich erscheint (dazu anschaulich Müller 2013).
Notwendige Weiterentwicklungen sollen in diesem Zusammenhang am Ende dieses Bandes in den Blick genommen werden. Zunächst soll zur Verdeutlichung des hier entfalteten Ansatzes einführend skizziert werden, was die zentrale Aufgabe von Fachkräften in der einzelfallorientierten Kinder- und Jugendhilfe ist.
Fälle bearbeiten als zentrale Aufgabe
Fälle zu bearbeiten ist die wesentliche Aufgabe und Tätigkeit derjenigen Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe, die vor allem mit den sogenannten Hilfen zur Erziehung und Fragen des Kinderschutzes befasst sind, die also in den Sozialen Diensten der Jugendämter arbeiten (im Allgemeinen Sozialen Dienst oder den Pflegekinderdiensten) oder in ambulanten Diensten wie der sozialpädagogischen Familienhilfe oder in Heimen tätig sind. Aber auch in anderen Feldern wie der Jugendhilfe im Strafverfahren (ehemals Jugendgerichtshilfe), in Beratungsdiensten, der Jugendberufshilfe etc. geht es oftmals darum.
Fälle, so unser fachliches Verständnis, sind ein komplexes und kompliziertes Bedingungsgefüge: einerseits immer geprägt durch eine aktuelle, meist akute Problemlage, in der seitens der Fachkräfte ebenso Anliegen und Anfragen aufzunehmen sind, wie Zuständigkeiten zu klären und Zugänge zu finden. Andererseits verweisen schon erste Gespräche, Informationen und Eindrücke auf Vorgeschichten und Hintergründe, sowohl in den Lebensgeschichten von Kindern oder Jugendlichen als auch von ihren Müttern und Vätern bzw. Bezugspersonen. Und sie verweisen auf Vorgeschichten und Erfahrungen mit der Notwendigkeit, sich helfen lassen zu müssen, unterstützt zu werden und/oder Eingriffe in das familiäre Leben zulassen zu müssen.
Fallbearbeitung in der Kinder- und Jugendhilfe zeichnet sich auch dadurch aus, dass sowohl konkret als auch grundlegend Entscheidungen getroffen und begründet werden müssen, die meist tief in das Leben der AdressatInnen eingreifen. Entschieden werden muss über Leistungsansprüche, über die konkrete Gestaltung von Unterstützung, aber auch über Eingriffe in elterliche Rechte, wenn dies zum Schutz ihrer Kinder erforderlich erscheint. Damit sind diese Entscheidungen über Hilfeangebote ebenso wie über Eingriff und Kontrolle zumeist weit über den Augenblick hinaus folgenreich für Entwicklungschancen und Lebensperspektiven der betroffenen jungen Menschen.
hochkomplexe Fallkonstellationen als Gegenstand
Hochkomplexe Fallkonstellationen entscheidungsorientiert zu bearbeiten, auf diese spezifische Herausforderung nicht aller, aber vieler Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe ist unser Konzept für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik ausgerichtet. Konzeptionell und methodisch werden dabei, im Unterschied zu anderen vorliegenden Ansätzen, die institutionelle Eingebundenheit und organisatorische Verfassung Sozialer Arbeit sowie die Beziehungsdimension sozialpädagogischen Handelns bewusst mitgedacht und methodisch berücksichtigt. Grundsätzlich gehen wir dabei theoretisch davon aus,
dass es die Diagnostik für die Soziale Arbeit nicht geben kann und wird,
dass es übergreifende, disziplinäre Gütekriterien für die Prozesse des Verstehens und Diagnostizierens geben sollte (vgl. Heiner 2001),
dass handlungsfeldspezifische und kontextbezogene Konzepte sowie methodische Instrumente benötigt werden, wobei letztere in unterschiedlichen Handlungsfeldern Anwendung finden können.
konkreter Fall als zentraler Bezugspunkt
Wir haben uns entschieden, das Buch induktiv anzulegen, vom Konkreten zum Allgemeinen. Aus diesem Grund wird im ersten Kapitel ein konkreter Fall vorgestellt, in dem es um eine Familie in einer Krisensituation geht und sich die Frage stellt, ob die Kinder dort ausreichend gute Bedingungen für ihr Aufwachsen und ihren Entwicklungsprozess haben oder ob das Kindeswohl gefährdet ist und Fragen des Kinderschutzes in den Mittelpunkt der Fallbearbeitung rücken müssen. Genau dies ist, in unterschiedlichen fallspezifischen Variationen, immer der Ausgangspunkt für die Arbeit von Fachkräften, wenn es um Einzelfälle in der Kinder- und Jugendhilfe geht, insbesondere in den erzieherischen Hilfen. Auf den dargestellten Fall wird an verschiedenen Stellen des Buches Bezug genommen, insbesondere in Kapitel 3, in dem wir eine sozialpädagogische Diagnostik im Sinne von Hypothesenbildung zum Fall Schritt für Schritt methodisch entwickeln.
grundlegende Fragen des Erkenntnisgewinns
Im Anschluss an die fallbezogene Darstellung rückt Kapitel 2 zunächst zwei grundlegende Fragen fallanalytischer Prozesse in den Fokus. Zum einen geht es darum, wie der Verlauf der professionellen Erkenntnisgewinnung im Rahmen der Sozialen Arbeit generell erfolgt. Zum zweiten geht es neben diesen erkenntnistheoretischen Grundfragen um gegenstandsbezogene Überlegungen. Das heißt, es gilt zu beschreiben, was eigentlich verstanden und diagnostiziert werden soll, was der konkrete Gegenstand der Erkenntnisprozesse ist.
Basisinstrumente für Fallverstehen und Diagnostik
Kapitel 3 beschreibt grundlegende fachliche Orientierungen, die unser Verständnis von Fallverstehen und Diagnostik in der Sozialen Arbeit leiten; konkrete methodische Instrumente für den fallanalytischen Prozess sowie deren theoretische Hintergründe folgen. Dabei wird in dem Kapitel zunächst das methodische Konzept als Ganzes eingeführt sowie nachfolgend die Basisinstrumente für Fallverstehen und Diagnostik in der Kinder- und Jugendhilfe. Hier wird ausführlich auf den in Kapitel 1 vorgestellten Fall Bezug genommen, um die einzelnen methodischen Instrumente anschaulich zu erklären. Der Fall wird konkret „durchgearbeitet“, um Schritt für Schritt die leitenden Hypothesen zu entwickeln, die schließlich im Fall der Familie Kramer in einer (vorläufigen) Diagnose münden.
zentrales Fachwissen für Fallarbeit
Methodisches Handwerkszeug ist wesentlich für die professionelle Fallbearbeitung. Was aber gehört zum notwendigen Wissenskanon und über welche (Schlüssel-)Qualifikationen müssen Fachkräfte verfügen, um die Fallarbeit professionell und fachlich angemessen voranzutreiben? Diese zwei zentralen Fragen stehen in den Kapiteln 4 bzw. 5 im Vordergrund.
Fallverstehen und Diagnostik ist ein Prozess, in den umfangreiches Fachwissen eingebracht werden muss. Aus der breiten Palette des notwendigen Wissens haben wir für das vierte Kapitel dreizehn aus unserer Sicht zentrale Themen ausgewählt, die auf dem Stand des Fachdiskurses in konzentrierter Form eingeführt werden. Diese Beiträge verdanken wir FachkollegInnen, die wir mit ihrer jeweiligen Expertise angefragt haben. Für ihre Mühe, Sorgfalt und Geduld bedanken wir uns ausdrücklich und herzlich!
Schlüsselqualifikationen
Mit (Schlüssel-)Qualifikationen für die Fallarbeit beschäftigt sich im Anschluss Kapitel 5. Darin geht es sowohl um die Beschäftigung mit der individuell-persönlichen Dimension des Handelns und der Beziehungsgestaltung als auch um konkrete Anforderungen wie das Arbeiten mit Zielen oder die Dokumentation der Fallarbeit.
historische und konzeptionelle Einordnung
In Kapitel 6 rücken wir schließlich eine historische und konzeptionelle Einordnung unseres Konzeptes in den Fokus. Vor allem geht es um die Entwicklungslinien und Kontroversen hinsichtlich der verstehenden und diagnostischen Aufgaben in der Sozialen Arbeit, insbesondere in der Kinder- und Jugendhilfe.
Fazit und Ausblick
Fazit und Ausblick runden das Buch in Kapitel 7 ab: zum einen mit Überlegungen zur Frage der Qualifizierung für die Kernaufgabe des Verstehens und Diagnostizierens in akademischer Ausbildung sowie in der Qualifizierung sozialpädagogischer Fachkräfte. Zum anderen werden Entwicklungsbedarfe für die fallverstehende und diagnostische Arbeit in diesem Handlungsfeld skizziert.
unsere Intention
Wir hoffen, mit diesem Buch ein Konzept vorzulegen, das sowohl zukünftigen als auch bereits tätigen Fachkräften in der Sozialen Arbeit, besonders in der Kinder- und Jugendhilfe, Einführung und Orientierung bieten kann: für ein ausreichend komplexes und den Aufgaben angemessenes Kernkonzept für Fallverstehen und sozialpädagogische Diagnostik, das theoretisch begründet ist. Spezifische Methoden und Instrumente können bzw. sollten dies einzelfallbezogen ergänzen (z. B. eine psychiatrische Diagnostik zu der Frage, wie eingeschränkt möglicherweise ein Elternteil durch die eigene psychische Erkrankung ist).
Das Buch richtet sich vorrangig an Lehrende und Studierende sowie an Fachkräfte aus der Praxis. Und bestenfalls ist es darüber hinaus ein Beitrag zum weiterhin zu führenden fachtheoretischen Diskurs.
Neben den AutorInnen der Beiträge in Kapitel 4 danken wir auch Magdalena Megler für die redaktionelle Arbeit am Manuskript sowie Ann-Sophie Kuhn als studentischer Mitarbeiterin für ihre sorgfältigen Literaturrecherchen herzlich.
Ebenso geht unser Dank an viele KollegInnen in der Praxis der Jugendhilfe für gemeinsame Reflexions- und Lernprozesse. Eine Qualifizierung von sozialpädagogischem Fallverstehen und Diagnostik in der Profession halten wir für dringend geboten. Nicht gelingende Hilfeprozesse sind mitunter ein bedrückender Beleg für unzureichende Verstehensleistungen. Und dennoch zeigt sich in der Vermittlung und Weiterentwicklung des hier vorgestellten Konzeptes auch immer wieder der hohe persönliche Einsatz und das Engagement von Fachkräften in der Arbeit mit vernachlässigten und verletzten Kindern sowie Eltern, die oftmals ebenso verletzte Kinder sind. Die Gratwanderung zwischen Respekt, deutlicher Konfrontation und zugewandter Unterstützung bleibt ein fortwährender Balanceakt für alle Beteiligten.