Читать книгу Quellen zur Innenpolitik der Weimarer Republik 1919-1933 - Группа авторов - Страница 11
EINLEITUNG
ОглавлениеEine Quellensammlung zur Innenpolitik der Weimarer Republik ist begründungsbedürftig, auch wenn sie eine Lücke in einer in Forschung und Lehre fest etablierten Reihe schließt.1 Das gilt insbesondere in einer Zeit, in der zunehmend mehr Dokumente im World Wide Web leicht zugänglich sind: für die Zeit zwischen 1918 und 1933 etwa die Akten der Reichskanzlei, die stenographischen Berichte der Nationalversammlung und des Reichstags oder auch das Reichsgesetzblatt.2 Trotz dieser Onlineangebote und anderer Quelleneditionen zur Geschichte der Weimarer Republik kann auf innenpolitische Kerndokumente nicht verzichtet werden. So soll der an den zentralen innenpolitischen Ereignissen und Konflikten interessierte Nutzer hier fündig werden, auch wenn es sich selbstverständlich nur um eine Auswahl handelt. Ohne diese Dokumente blieben grundlegende Entscheidungsprozesse und Entwicklungen unverständlich. Einige der Quellen sollen in der Einleitung in ihren historischen Kontext eingeordnet werden, um innenpolitische Basiskonflikte und Belastungen der Weimarer Republik ebenso in den Blick zu nehmen, wie sozialpolitische Errungenschaften und Fortschritte. Anschließend werden zwei besondere Gesichtspunkte vorgestellt, welche die Auswahl darüber hinaus geleitet haben.
I.
Zu Beginn belegen mehrere Dokumente den raschen Schulterschluss der Revolutionsregierung unter Eberts Führung mit den alten Mächten. Sie dienen jenen Erklärungsversuchen als Bestätigung, die das Scheitern bereits in den Anfängen, in der „steckengebliebenen“, ja gar der „verratenen“ Revolution ausmachen.3 Zu diesen Dokumenten gehört zum einen die Verständigung zwischen MSPD und OHL vom 10. November 1918, die hier in dem erinnernden Rückblick des Generals Groener aufscheint, der die Nachfolge Ludendorffs angetreten hatte (Nr. 4).4 Groener spricht grundsätzliche Motive aus der Sicht der OHL an und betont dabei seine herausragende Rolle. Bei aller angebrachten Skepsis gegenüber Autobiographik kommt die hier als sehr passiv beschriebene Haltung Hindenburgs gegenüber dem Bündnis der OHL mit der neuen Berliner Reichsleitung der Realität vermutlich ziemlich nahe, zumindest wenn man die Ergebnisse der jüngsten Hindenburgbiographie zugrunde legt.5 Allerdings wird die als Ebert-Groener-Pakt bezeichnete Abmachung in ihrer Reichweite oft überschätzt, denn dem Rat der Volksbeauftragten blieb kaum eine andere Wahl, als mit der OHL zusammenzuarbeiten, wenn man sich vor Augen hält, dass mehrere Millionen Soldaten innerhalb kürzester Zeit von der Front zurückzuführen waren. Erst die darüber hinausgehende Kooperation mit der OHL, der Einsatz des Militärs im Innern und die damit wiederholt verbundenen Gewaltakte gegenüber Arbeiter- und Soldatenräten erwiesen sich als hochproblematisch. Damit gelang es einerseits der OHL, ihre Machtposition wieder zu festigen, andererseits aber entfremdete dies die Arbeiter der MSPD.
In diesen Zusammenhang gehört auch die nach ihren Verhandlungsführern benannte Vereinbarung zwischen den Arbeitgeberverbänden und den Gewerkschaften. Sie ist als Stinnes-Legien-Abkommen bekannt geworden (Nr. 5). Die bereits vor Kriegsende eingeleitete Verständigung ebnete den Weg in eine Zusammenarbeit, indem sie lange vergeblich angestrebte sozialpolitische Forderungen wie den Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich erfüllte und die Wirtschaft zugleich vor den Sozialisierungsbestrebungen der Arbeiter- und Soldatenräte schützte. Beide Verhandlungspartner strebten zudem an, alle sozial- und wirtschaftspolitischen Differenzen durch eine paritätisch besetzte „Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände Deutschlands“, kurz ZAG, beizulegen. Dieses ohnehin labile Übereinkommen endete ausgangs der revolutionären Phase mit der Währungsstabilisierung, als die Arbeitgeber den Achtstundentag beseitigten und der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund die Zentralarbeitsgemeinschaft Anfang 1924 wieder verließ.
Das Bild der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte hat sich bereits vor geraumer Zeit erheblich gewandelt. Ganz abgesehen davon, dass diese weit weniger bolschewistisch ausgerichtet waren, als von der Forschung bis in die 1960er Jahre angenommen: Der Blick auf ihre Tätigkeiten im oft vernachlässigten ländlich-kleinstädtischen Raum offenbart zugleich die Bandbreite ihrer praktischen Aktivitäten und vermittelnden Funktionen: Wohnung, Lebensmittel, Heizung – all das stand auf der Agenda der Räte im württembergischen Friedrichshafen (Nr. 19). Gleichzeitig wird hier deutlich, wie sehr die Räte auf die demokratischen Errungenschaften der Revolution pochten, wie sie sich in Konflikten mit den weiterhin von den alten Funktionseliten dominierten kommunalen Behörden aufrieben und wie sie sich im Verlaufe des Revolutionsprozesses zunehmend von der Mehrheitssozialdemokratie abwandten. Man darf dabei nicht übersehen, dass die Liste der Enttäuschungen rasch wuchs: Blickt man nur auf Berlin, dann ragen in den ersten Monaten insbesondere die Weihnachts- und Januarunruhen 1918/19 heraus (Nr. 12 u. 13). Aber nicht nur in den Großstädten des Reiches hatte dies eine nicht selten mit Gewalt und Tod einhergehende Radikalisierung der Rätebewegung zur Folge.
Gleiches gilt für den so genannten Kapp-Lüttwitz-Putsch vom März 1920. Teilweise schlugen jene Truppen die sich zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen ausweitenden Generalstreiks nieder, die eben noch gegen die Regierung geputscht hatten; zu den Generalstreiks aufgerufen hatte die SPD einschließlich ihrer Regierungsmitglieder (Nr. 26a/b). Für die turbulente nächtliche Kabinettssitzung vom 13. März 1920 existiert kein herkömmliches Protokoll der Reichskanzlei. Die unter dem Eindruck der Bedrohung durch die Putschisten hastig von Reichswehrminister Noske einberufene Sitzung begann in den frühen Morgenstunden und führte dazu, dass ein Großteil der Reichsregierung nach Dresden auswich. Neben den unmittelbar unter dem Eindruck der Ereignisse festgehaltenen stichwortartigen Notizen des Reichsinnenministers Koch-Weser (Nr. 25) liegen verhältnismäßig zuverlässige Berichte des Chefs der Heeresleitung, Generalmajor Reinhardt, sowie des Unterstaatssekretärs Albert vor, die sie beide noch zeitnah im Juni 1920 anfertigten.6 Obwohl Kapp und Lüttwitz bemüht waren, insbesondere Beamte und Soldaten für ihre Ziele zu gewinnen (Nr. 27), scheiterte der Umsturzversuch verhältnismäßig rasch, trotzdem waren seine Folgen für die junge Republik gravierend, weshalb zu recht von einem Pyrrhussieg oder einer Wende gesprochen worden ist: Reichskanzler und Reichswehrminister traten zurück, zum Chef der Heeresleitung stieg mit Seeckt ein General auf, welcher der Demokratie fernstand.
Auch in den Ländern zeitigte der Putsch Folgen. Während Bayern unter Kahr zum Hort des Rechtsradikalismus aufstieg, gingen in Preußen die demokratischen Kräfte paradoxerweise gestärkt hervor. An ihrer Spitze gelang es Braun, sich bis zum Preußenschlag am 20. Juli 1932 an der Regierung zu halten (Nr. 122). Weit gravierender aber war, dass der in den blutigen Aufstand an der Ruhr mündende Widerstand gegen den reaktionären Putsch die Arbeiter der SPD weiter entfremdete, den Generalstreik als politisches Mittel dauerhaft diskreditierte (Nr. 28) und maßgeblich zu den dramatischen Verlusten der „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und DDP bei der Reichstagswahl vom 6. Juni 1920 beitrug. Ursachen, Bedeutung und Folgen dieses Wahlergebnisses fängt der Philosoph und Theologe Troeltsch messerscharf ein (Nr. 30).
In dieser prekären Anfangsphase der Republik hatte die Nationalversammlung in Weimar am 11. August 1919 die Verfassung verabschiedet (Nr. 20).7 Sie ist in zwei Hauptteile gegliedert: „Aufbau und Aufgaben des Reichs“ (Art. 1– 108) sowie „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ (Art. 109 – 165). Die Grundrechte waren nicht besonders geschützt, sondern konnten durch eine Notverordnung eingeschränkt oder aufgehoben werden. Die Verfassung als „Produkt einer gescheiterten Revolution“ und als verfehlten Kompromiss einzustufen hat wohl auch deshalb eine lange Tradition.8 Im Zentrum der Kritik stehen dabei zumeist die starke Stellung des Reichspräsidenten sowie die Aufnahme plebiszitärer Elemente.
Der auf sieben Jahre direkt vom Volk gewählte Reichspräsident stand dem Parlament als starker Machtfaktor gegenüber, schon die Zeitgenossen haben ihn aufgrund seiner Machtfülle als „Ersatzkaiser“ bezeichnet. Seine herausgehobene Stellung lässt sich mit einem im Kaiserreich wurzelnden, tiefen Misstrauen der Verfassungsgeber gegenüber dem Parteienparlamentarismus erklären. Der Reichspräsident konnte sich dabei insbesondere auf Artikel 48 der Verfassung stützen, der es ihm gestattete, bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung mit Hilfe der „bewaffneten Macht“ einzugreifen; er konnte zudem die Länder per Notverordnung zwingen, ihre Pflichten gegenüber dem Reich zu erfüllen. Oft wird übersehen, dass bereits Reichspräsident Ebert Artikel 48 ausgiebig und häufiger als sein Amtsnachfolger Hindenburg nutzte. Er regelte insbesondere sozial-, wirtschafts- und finanzpolitische Fragen – etwa nachdem der Reichstag der Regierung Stresemann Ermächtigungsgesetze bewilligt hatte (Nr. 50), um die Krise im Herbst 1923 zu meistern. Ebert wandte den Notstandsartikel im Sinne der Verfassungsschöpfer an, um die Demokratie zu schützen und zu erhalten. Dies unterschied ihn von Hindenburg, aber dennoch gewöhnten sich Parteien und Bevölkerung damit bereits vor 1925 an die Verwendung dieser eben nur für den Notfall vorgesehenen „Reserveverfassung“.
Ihre volle Tragweite entfalteten die außerordentlichen Befugnisse im Zusammenwirken mit Artikel 25, der dem Reichspräsidenten das Recht einräumte, den Reichstag aufzulösen. Zwar mussten spätestens 60 Tage nach der Auflösung Neuwahlen stattfinden, und das Parlament musste 30 Tage danach zusammentreten, aber in dieser Zeit entfiel die vorgesehene Kontrolle der Regierung durch den Reichstag. Die Reichstagswahlen über diese Frist hinaus zu verschieben oder ein neu gewähltes Parlament erst nach weit mehr als 30 Tagen zusammen treten zu lassen war in der Endphase der Republik ein wiederholt diskutierter Plan, wobei sich die Befürworter auf autoritär orientierte Verfassungsrechtler wie Carl Schmitt berufen konnten (Nr. 124 u. 130).
Den Wählern, allen Männern und Frauen über 20 Jahren, eröffnete Artikel 73 der Verfassung mit Volksbegehren und Volksentscheid den Weg der Gesetzesinitiative, wobei allerdings die erforderlichen Mehrheiten kaum zu erreichen waren. Lediglich 1926 und 1929 kam es im Reich überhaupt zu Volksentscheiden: über die entschädigungslose Enteignung der Fürsten (Nr. 75) sowie über die Ablehnung der Reparationszahlungen nach dem Young-Plan. In beiden Fällen erreichten die Initiatoren ihre Ziele nicht. Mit einer Beteiligung von 39% bzw. 15% blieb man deutlich unter dem erforderlichen Anteil von 50% der Stimmberechtigten. Volksbegehren und Volksentscheid entfalteten ihre Wirkung denn auch eher auf einer anderen Ebene, boten sie den Parteien doch eine willkommene Bühne für ihre Agitation (Nr. 96).
Zwischen 1921 und 1923 erreichten die Belastungen der krisengeschüttelten Demokratie immer neue Gipfel. Politische Extremisten von links wie rechts versuchten, die verhasste Gesellschaftsordnung gewaltsam zu ändern. Die nach der Vereinigung mit der USPD im Dezember 1920 zur Massenpartei aufgestiegene KPD (Nr. 31) sah ihre Stunde gekommen, scheiterte aber 1921 mit der so genannten Märzaktion in der mitteldeutschen Industrieregion in Halle-Merseburg (Nr. 32 u. 33) sowie in Hamburg. Die „proletarische Revolution“ endete im Desaster, forderte zahlreiche Menschenleben und schürte die Angst vor dem Bolschewismus. Nicht zuletzt aber trieb sie rechten und paramilitärischen Gruppierungen wie der Organisation Consul weitere Kräfte zu, die gegen die Republik agitierten und auch vor Anschlägen auf politische Führungspersönlichkeiten nicht Halt machten – die Morde an Erzberger (August 1921, Nr. 34 u. 35) und Rathenau (Juni 1922, Nr. 38 u. 39) sind nur die Spitze des Eisbergs.
Zu den Grundbelastungen und -erfahrungen Weimars zählt die Inflation. Auch wenn sie bis 1922 durchaus gesamtwirtschaftliche Vorteile hatte: Sie engte den ohnehin überschaubaren politischen Handlungsspielraum der Anfangsjahre nochmals und dauerhaft ein und ließ die Not vieler Menschen nach den Entbehrungen des Krieges weiter steigen. Ihre komplexen Ursachen reichen teilweise bis in den Ersten Weltkrieg (Kriegsfinanzierung) zurück, die hohen Reparationsforderungen der vormaligen Kriegsgegner sowie die Ruhrbesetzung und der passive Widerstand (Nr. 46) verschärften das Problem aber zusätzlich. Die Geldentwertung beschleunigte sich nach der Annahme des Londoner Ultimatums im Laufe des Jahres 1921 und erreichte mit der Hyperinflation 1922/23 exorbitante Höhen. An ihrem Ende verlor das Geld täglich, ja teilweise stündlich an Wert. Sie vernichtete nicht nur die Rücklagen vieler Sparer, sondern verbreiterte auch die sozialen Gräben zwischen Arm und Reich sowie zwischen Stadt und Land (Nr. 45 u. 48).
Erst der Abbruch des Ruhrkampfes am 26. September 1923 und die Einführung der Rentenmark am 15. Oktober 1923 stabilisierten zumindest die Währung, auch wenn sich mit dem deutschen Oktober und dem Hitlerputsch noch Umsturzversuche von links wie rechts anschlossen. Die Zentrale der KPD bereitete ihre Oktoberrevolution mit dem Eintritt in die Landesregierungen in Sachsen und Thüringen vor, blies sie aber nach dem Scheitern eines Generalstreiks ab. In Hamburg kam es dennoch zum Ausbruch von Kämpfen, die zwar nach kurzer Zeit endeten, aber über 40 Tote auf beiden Seiten forderten. Eine förmliche Reichsexekution auf Basis von Artikel 48 beendete kurz darauf in Sachsen und Thüringen die Arbeiterregierungen von SPD und KPD (Nr. 51, 52 u. 55). Freilich blieb dies auch auf Reichsebene nicht ohne Folgen: Den wenig zimperlichen Einsatz von Reichswehrtruppen gegen Parteigenossen konnte die SPD nicht mittragen und schied aus der Regierung Stresemann aus.
In München schlug Hitler am Abend des 8. November 1923 los, u. a. ermutigt durch die offene Auflehnung der bayerischen Regierung Kahr gegen die Reichsregierung. Die „nationale Revolution“ brach rasch in sich zusammen, nur wenige Schaltzentralen konnten besetzt werden. Auch sie kostete mehrere Menschen das Leben, als am 9. November an der Feldherrnhalle Putschisten und Landespolizei aufeinandertrafen (Nr. 54). Der vom 26. Februar bis 1. April 1924 stattfindende Prozess gegen die Anführer endete nicht nur mit milden Strafen für die Beteiligten, sondern geradezu triumphal für Hitler, dem das Gericht hehre nationale Motive zubilligte (Nr. 58).
Das Krisenjahr 1923 führte die Weimarer Republik an den Rand des Zusammenbruchs und offenbarte ihre strukturellen Schwächen – dass sie es überstand, hing mit der Stabilisierung von Wirtschaft und Währung zusammen sowie vor allem mit dem Willen der politisch Verantwortlichen Ebert und Stresemann, die Demokratie zu erhalten. Das unterschied die Situation von 1932/33.
Die „relative Stabilisierung“ der Jahre 1924 bis 1930 war durch zahlreiche Regierungskrisen und die Schwierigkeit geprägt, stabile Regierungsbündnisse zu schmieden. Die ersten Reichstagswahlen des Jahres 1924 führten im Mai zu einem Rechtsruck (Nr. 59). Zu den Wahlverlierern zählten die SPD, die nur 100 Mandate (20,5%) erhielt, obwohl der rechte Flügel der USPD sich ihr angeschlossen hatte, die rechtsliberale DVP (9,2%) sowie die linksliberale DDP (5,7%). Eindeutige Gewinner waren die rechten Parteien DNVP (95 Sitze, 19,5%)9 sowie die antisemitische Deutschvölkische Freiheitspartei (ab August 1924: Nationalsozialistische Freiheitsbewegung) mit 6,5% der Stimmen und 32 Abgeordneten. In der Dezemberwahl 1924 verschoben sich die Gewichte zwar wieder leicht zugunsten der SPD, aber eine Weimarer Koalition blieb weiterhin außer Reichweite, nicht zuletzt weil die DVP sie ablehnte (Nr. 133). Bis 1928 führte diese Grundkonstellation zu einer Reihe von Minderheits- bzw. bürgerlichen Regierungen, da eine Koalition unter gleichzeitiger Beteiligung von SPD und DNVP nicht in Frage kam. Weder ein „Bürgerblock“ mit Zentrum, DVP und DNVP noch eine große Koalition von der SPD bis zur DVP konnten sich dauerhaft etablieren – zu groß waren die ideologischen Differenzen auf einzelnen Politikfeldern (insbesondere bei Wirtschaft und Finanzen). Die Parteien erwiesen sich aufgrund ihrer engen Bindungen an bestimmte sozialmoralische Milieus als unfähig, in weltanschaulichen Kernfragen Kompromisse zu schließen.10
Als weiteres Spannungsmoment verschärfte die Distanz der Fraktionen der Regierungsparteien zu den von ihnen getragenen Regierungen die Situation – nicht von ungefähr sprachen die Zeitgenossen über das im Januar 1925 gebildete Kabinett Luther von einem „Kabinett der Fachleute“ oder der „Köpfe“ (Nr. 63 u. 66). Vor diesem Hintergrund kann es kaum überraschen, dass das Parlament an Macht einbüßte und der Unmut über die Parteien und den Parlamentarismus wuchs. Diese Lücke füllte mehr und mehr der Reichspräsident, weshalb eine stille Umformung des Parteienstaates zu einem autoritären Präsidialregime bereits in dieser Phase einsetzte, zumal nach Eberts Tod mit dem alten Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg im April 1925 der Kandidat der Rechten gewählt worden war. Er hatte sich im zweiten Wahlgang gegen Wilhelm Marx (Zentrum) mit knappem Vorsprung durchgesetzt, nicht zuletzt weil die katholische BVP den Protestanten Hindenburg unterstützte (Nr. 69 a/b u. 70).
Sieht man von den sozialpolitischen Meilensteinen der Gesetze über die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsvermittlung ab (Nr. 81), dann ist die innenpolitische Bilanz der bürgerlichen Regierungen jener Jahre dürftig. Vielmehr bestimmten heftige Debatten um politische Symbole das öffentliche Erscheinungsbild. Das zweite Kabinett Luther stürzte im Mai 1926 über den so genannten Flaggenstreit. Luthers Verordnung, wonach die Auslandsvertretungen neben der schwarz-rot-goldenen Reichs- auch die Handelsflagge in den Farben des Deutschen Kaiserreichs (schwarz-weiß-rot) zeigen sollten, brachte die republikanischen Kräfte gegen ihn auf. Nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag im Reichstag trat die Regierung zurück. Ihr folgte nur wenige Tage später die nächste bürgerliche Minderheitskoalition, mit dem unterlegenen Reichspräsidentenkandidaten Wilhelm Marx an der Spitze. Dieses dritte Kabinett Marx hielt sich nur mühsam bis zum Ende des Jahres 1926 und stürzte schließlich über die Wehrpolitik, als Philipp Scheidemann im Reichstag die windigen Machenschaften um die heimliche Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee offenlegte und scharf verurteilte (Nr. 77).
Das zentrale innenpolitische Thema dieses Jahres aber war der Streit um die entschädigungslose Enteignung der deutschen Fürsten, der ein ungelöstes Problem der Revolution auf die Tagesordnung zurück brachte und in einen Volksentscheid mündete. Die brisante Frage war, wie das Vermögen der gestürzten Fürstenhäuser einzustufen war – Privateigentum oder Staatsbesitz? Die Gewerkschaften hatten zwischen den beiden Arbeiterparteien KPD und SPD ein Bündnis in dieser Frage vermittelt – beide forderten die entschädigungslose Enteignung zugunsten der Allgemeinheit. Zwar scheiterte der Volksentscheid am 20. Juni 1926 trotz einer Zustimmung von rund 36% der Wahlberechtigten letztendlich, und auch im Reichstag konnte man sich auf keine gesetzliche Regelung verständigen, aber es spricht mit Blick auf die SPD vieles für die Formel vom „Erfolg in der Niederlage“. So blieb es den Ländern überlassen, sich mit den vormaligen Herrscherhäusern zu einigen, in Preußen gelang dies noch im Oktober 1926. Wichtig war aber vielmehr, dass sich ein Linksruck der Wählerschaft anbahnte, denn die beiden Linksparteien erhielten etwa 3,5 Millionen Stimmen mehr als bei der zurückliegenden Reichstagswahl. Fortan bemühten sich gemäßigte Kräfte verstärkt, die SPD zurück in die Regierungsverantwortung zu holen und eine große Koalition zu schmieden.
Der 1927 nur mühsam wieder belebte rechte Bürgerblock von Zentrum, BVP, DVP und DNVP in Form des vierten Kabinetts Marx war ein fragiles Bündnis und scheiterte im Februar 1928 im Streit um einen Schulgesetzentwurf. Dennoch stehen einige wichtige Erfolge auf seiner Habenseite: die Einführung der Arbeitslosenversicherung am 16. Juni 1927, die Verlängerung der Agrarzölle, die Senkung der Lohnsteuer und die Neugestaltung der Beamtenversorgung.
Die Neuwahl am 20. Mai 1928 endete mit dem fast schon absehbaren Erfolg der Linksparteien: Die SPD erhielt 29,8%, die KPD 10,6% der abgegebenen Stimmen. Geradezu dramatisch waren die Stimmenverluste der DNVP, die auf 14,2% abstürzte, aber auch die NSDAP und die bürgerlichen Mittelparteien verloren. Dennoch war das Wahlergebnis kein makelloser Sieg der republikanischen und demokratischen Kräfte, denn eine Reihe von Splitterparteien profitierte von den Verlusten der Bürgerlichen, viele ihrer Wähler wanderten dann bereits 1930 und vermehrt noch 1932 zur NSDAP ab. Eine weitere fatale Folge dieser Wahl war der Rechtsschwenk von DNVP und auch Zentrum; beredter Ausdruck waren im Oktober bzw. Dezember 1928 die Wahlen des Medienmoguls Alfred Hugenberg (DNVP) sowie des konservativen Prälaten Ludwig Kaas (Zentrum) zu neuen Parteivorsitzenden (Nr. 91).
Die Regierungsbildung lief auf eine große Koalition zu, denn ohne die SPD war rechnerisch nur wenig möglich. Zunächst kam es aufgrund sachlicher Differenzen zwischen SPD, Zentrum und DVP zum „Kabinett der Persönlichkeiten“, das die Koalitionsparteien nicht zwingend unterstützen mussten; eine Lösung, die Stresemann im Sanatorium ersonnen hatte. An der Spitze stand als Reichskanzler Hermann Müller (SPD). Förmlich geschlossen wurde die letzte große Koalition der Weimarer Republik erst im April 1929. Während außenpolitisch zunächst weitestgehend Konsens bestand, gab es innenpolitisch von Beginn an Konflikte. Der Streit um den Bau des Panzerkreuzers A und damit ein neues Rüstungsprogramm für die Marine war dabei eine ebenso schwere Erblast der alten Mitte-Rechts-Regierung wie der enge haushaltspolitische Spielraum, der sich durch den 1928 einsetzenden konjunkturellen Abschwung weiter verengte. Die Reparationsfrage und die hemmungslose Agitation gegen den Young-Plan hielten die Koalitionäre beisammen (Nr. 96), auch wenn die DVP nach dem Tod Stresemanns am 3. Oktober 1929 zusehends nach rechts rückte und schwerindustrielle Interessenpolitik betrieb.
Im März 1930 zerbrach diese letzte parlamentarisch legitimierte Regierung schließlich über den unüberbrückbaren Gegensätzen in der Sozial- und Finanzpolitik. Unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise ging es um die Sanierung der Arbeitslosenversicherung und die Überwindung des Haushaltsdefizits. Das war ein gemeineuropäisches Phänomen. Erschwerend kam in Deutschland hinzu, dass Hindenburg und seine Berater die Ausschaltung der SPD und damit einen Verfassungswandel bereits seit geraumer Zeit vorbereiteten. Eine bürgerliche Rechtsregierung war das Ziel, gegebenenfalls auch gegen die Mehrheit des Parlaments. Diese Pläne zogen seit dem Frühjahr 1929 immer weitere Kreise, nahmen seit Dezember 1929 klarere Konturen an und verbanden sich mit dem Namen Heinrich Brüning. Dies war der Übergang zum autoritären Präsidialregime, ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte der Weimarer Republik.
Die auf die große Koalition folgenden vier Präsidialkabinette (Brüning, Papen, Schleicher, Hitler) lassen sich beschreiben als halb konstitutionelle Diktaturen mit wechselnder Legitimationsbasis, wobei es Hitler 1933 gelang, das System in eine autoritäre und 1934 in eine totalitäre Diktatur umzuformen. Der Finanz- und Wirtschaftsexperte Heinrich Brüning (Zentrum) machte den Auftakt am 30. März 1930. Dieses erste Präsidialkabinett bestand zunächst aus Politikern der bürgerlichen Parteien und sollte zügig nach rechts erweitert werden. Nachdem der Reichstag im Juli 1930 eine Regierungsvorlage zur Sanierung des Staatshaushaltes scheitern ließ, verfügte Hindenburg dieselbe als Notverordnung, deren Aufhebung nun wiederum der Reichstag mehrheitlich forderte. Dazu war er nach Artikel 48, Absatz 2, der Reichsverfassung berechtigt. Der Reichspräsident ließ den Reichstag daraufhin auflösen und die vom Reichstag aufgehobene Notverordnung trat wenige Tage später in verschärfter Form in Kraft. Die präsidiale Umformung der Weimarer Verfassungswirklichkeit hatte spätestens damit begonnen.
Die Neuwahlen im September 1930 brachten einen erdrutschartigen Durchbruch der NSDAP, sie erhielt 18,3% der Stimmen und 107 Sitze im Reichstag, dem auch 77 KPD-Abgeordnete angehörten. Die republikbejahenden Kräfte waren geschwächt, weshalb sich die SPD nun durchrang, das Kabinett Brüning als kleineres Übel und damit auch dessen rigorose Deflationspolitik zu tolerieren. Diese Tolerierung stellte die SPD vor eine Zerreißprobe, denn sie brachte höhere Steuerabgaben, Leistungsabbau in der Arbeitslosenversicherung sowie harte Lohneinschnitte gerade für die sozialdemokratische Wählerklientel mit sich. Brüning ordnete die innere Wirtschafts- und Finanzpolitik ganz der Beseitigung der Reparationen unter. Wichtige Etappen seiner bis Mai 1932 währenden Kanzlerschaft sind rasch umrissen: der Anstieg der Massenarbeitslosigkeit bis auf über sechs Millionen, die Bankenkrise 1931 mit dem Zusammenbruch der Danat-Bank, die Gründung der Harzburger Front sowie die beiden Wahlgänge der Reichspräsidentenwahl im März und April 1932.
Brünings Sturz Ende Mai 1932 war lange vorbereitet. Immer mehr an Rückhalt hatte er verloren: bei der Bevölkerung, in der Industrie und zuletzt und entscheidend auch bei Reichspräsident Hindenburg. Dazu beigetragen hatten das Verbot von SA und SS im April 1932 (Nr. 117), dem Hindenburg nur widerstrebend zustimmte, sowie die unüberbrückbaren Differenzen über die Ostsiedlungsnotverordnung zwischen Kabinett und Reichspräsident. Nachdem sich das Ende der Reparationen abgezeichnet hatte, hatte der Kanzler seine Schuldigkeit getan. Brüning, dessen wirtschaftspolitischer Handlungsspielraum in der Forschung heftig umstritten ist, hatte seine Entlassung im Nachhinein als Sturz „hundert Meter vor dem Ziel“ bezeichnet. In seinen 1970 erschienenen Memoiren behauptete er, seine langfristige Strategie sei es gewesen, die Monarchie wieder zu errichten – seinerzeit eine Sensation, die einer quellenkritischen Analyse aber nicht standhält (Nr. 109).11 Vielmehr erscheint die Ära geprägt von einem kurzfristigen Krisenmanagement.
Es schloss sich am 1. Juni 1932 das „Kabinett der Barone“ unter Reichskanzler Franz von Papen an, bei dem im Hintergrund bereits Kurt von Schleicher die Strippen zog. Am 4. Juni wurde der Reichstag aufgelöst und nur zehn Tage später kippte das SA-Verbot (Nr. 119). Am schwerwiegendsten war die Reichsexekution gegen Preußen und die dortige geschäftsführende SPD-Regierung, der „Preußen-Schlag“ vom 20. Juli 1932 (Nr. 121 u. 122). Die bemerkenswert passive SPD verlor ihre letzte Machtstellung, und mit der Ernennung eines Reichskommissars setzte bereits eine schleichende Gleichschaltung der Länder ein. Papen rückte rasch von der Deflationspolitik seines Vorgängers ab und schwenkte um zu einer aktiven Konjunkturpolitik sowie zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Die für den 31. Juli anberaumten Reichstagswahlen wurden zu einem erneuten Triumph für die NSDAP, die nun 37,3% der Stimmen erhielt und mit 230 Mandaten mit weitem Abstand die stärkste Parlamentsfraktion stellte; gemeinsam mit der KPD konnte sie den Reichstag lahmlegen. Von nun an stand Hitlers Forderung nach einer Regierung unter seiner Führung im Raum, eine weitere Tolerierung der Regierung Papen oder die Vizekanzlerschaft lehnte er kategorisch ab. Das war der Fixpunkt in einer innenpolitisch unübersichtlichen Situation der folgenden Wochen und Monate. Hindenburg und seine politische Umgebung waren sich im Klaren darüber, dass keine Mehrheit für die Regierung bestand und ein Misstrauensvotum des Reichstags drohte. Hindenburg ermächtigte Papen unter Bruch der Verfassung daher, den Reichstag ohne Ausschreibung von Neuwahlen wieder aufzulösen (Nr. 124). Papen machte von diesem Blankodekret jedoch zu spät Gebrauch und erlitt in der ersten Arbeitssitzung des Reichstags am 12. September 1932 jene berühmte Niederlage, in der ihm mit 512 zu 42 Stimmen (bei fünf Enthaltungen) das Misstrauen ausgesprochen wurde. Auch wenn die Reichstagsauflösung die unmittelbare Folge war, war die Regierung öffentlich bloßgestellt, und zudem offensichtlich geworden, dass Papen über keinerlei Rückhalt verfügte. Da Zentrum und NSDAP – die über eine Mehrheit im Reichstag verfügten – prüften, ob sie den Reichspräsidenten wegen Verfassungsbruchs anklagen konnten, waren die Pläne einer Verfassungsumgestaltung von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Zwar brachten die Wahlen am 6. November keine grundsätzlich neue Konstellation, bemerkenswert war aber, dass die NSDAP deutlich an Stimmen einbüßte. Sie erreichte noch 33,1%, bei 196 Mandaten. Führende Landwirtschafts- und Industrievertreter unterstützten Hitler nun bei seiner Forderung nach der Kanzlerschaft und warben bei Hindenburg für diese Lösung (Nr. 127). Papen ließ sich in der Folge nicht mehr halten, zumal Reichswehrminister Schleicher die Rückendeckung für ein Kampfprogramm gegen Reichstag, Parteien und deren paramilitärische Organisationen verweigerte. Da er Hitler gegenüber nach wie vor erhebliche Vorbehalte hatte, blieb Hindenburg kaum eine andere Wahl, als Papen zu entlassen und Schleicher am 3. Dezember 1932 zum neuen Reichskanzler zu ernennen. Zwar misslang es diesem, die NSDAP in seine Regierung einzubinden, da Hitler auf dem „Alles-oder-nichts“-Kurs, also dem Amt des Kanzlers, bestand, aber er überstand die ersten Sitzungen des Reichstags, der sich bis Januar vertagte. Über eine Mehrheit im Reichstag verfügte er damit freilich nicht. In einer an Stelle einer Regierungserklärung über den Rundfunk verbreiteten programmatischen Rede am 15. Dezember stellte Schleicher Arbeitsbeschaffungs- und Wirtschaftsmaßnahmen in Aussicht und drohte dem Parlament gleichzeitig unverhohlen mit Auflösung (Nr. 128). Allerdings erschloss sich nur wenigen Zeitgenossen, wie zielstrebig und ernsthaft die Überlegungen waren, den Reichstag dauerhaft aufzulösen und den Ausnahmezustand auszurufen (Nr. 130). An Schleicher vorbei suchte Papen den Kontakt zu Hitler, um eine Regierungsbeteiligung der NSDAP auszuloten, beginnend mit dem berühmten Treffen am 4. Januar 1933 im Hause des Kölner Bankiers Kurt von Schröder (Nr. 129a/b). Diese Kontaktaufnahme mündete auf verschlungenen Wegen schließlich in den Sturz Schleichers und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933.
Die letzten Wochen der Weimarer Republik gehören gewiss zu den am intensivsten erforschten Phasen der deutschen Geschichte. Insbesondere kreisen die Überlegungen um das Kernproblem des politischen Handlungsspielraums der Verantwortlichen, also um die Fragen, wie Hitler hätte verhindert werden können und ob Weimar scheitern musste. Erst jüngst ist diese Endphase in einer voluminösen Biographie über Hindenburg einmal mehr in den Mittelpunkt gerückt. Den engsten Mitarbeitern Hindenburgs wird bis in die jüngere Forschung hinein vielfach zugeschrieben, dass sie den greisen Reichspräsidenten an der Jahreswende 1932/33 überzeugt hätten, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen. Dem wird die These entgegengestellt, dass kein nennenswerter Einfluss von Otto Meißner, Oskar von Hindenburg, Franz von Papen oder ostelbischen Konservativen bestand, sondern die Bestallung Hitlers vielmehr konsequent aus Hindenburgs politischem Denken und Handeln sowie aus seinem langgehegten Wunsch nach einem Kabinett der „nationalen Konzentration“ folgte. Die im Kaiserreich und im „Geist von 1914“ wurzelnden Mythen der nationalen Einheit und Volksgemeinschaft rangierten bei Hindenburg weit vor der Sehnsucht nach einer monarchischen Restauration. Sie machten Hitler zum gleichsam logischen Nachfolger, standen diese Werte doch auch weit oben auf der nationalsozialistischen Agenda. Folgt man dieser Argumentation, dann ernannte Hindenburg Hitler zwar zögernd, aber dennoch aus tiefer Überzeugung zum Reichskanzler.12 (Nr. 132)
II.
Neben der Auswahl innenpolitischer Kerndokumente haben zwei weitere Gesichtspunkte die Zusammenstellung in besonderer Weise bestimmt, die sich so weder in bereits vorhandenen Quelleneditionen zur Innenpolitik der Weimarer Republik finden noch über die unkommentierte Bereitstellung größerer Quellenkorpora im Internet geleistet wird.
Der erste Akzent ist die Orientierung an der praktischen Quellenarbeit im schulischen wie universitären Lehrbetrieb. Geachtet wurde wenn möglich darauf, Dokumente auszuwählen, an denen sich methodische Kardinalprobleme historischen Arbeitens gemeinsam erschließen bzw. erläutern lassen. Wiederholt sind die ausgewählten Dokumente dabei unmittelbar aufeinander bezogen. Wo dies beabsichtigt ist, um mit Hilfe der äußeren wie inneren Quellenkritik unterschiedliche Deutungen, Positionen, Wahrnehmungen oder – bewusste oder unbewusste – Verzerrungen analysieren zu können, signalisiert es die gleiche Nummerierung. Diese Dokumente sind dann lediglich durch Buchstaben voneinander geschieden (Nr. 2 a/b, 26 a/b, 44a–c, 69 a/b, 105 a/b, 129 a/b).
Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Wie sehr die Revolution 1918/19 von Beginn an zugleich auch ein Kampf der Deutungen war, zeigen die beiden Fassungen der Ausrufung der deutschen Republik durch Philipp Scheidemann eindrücklich (Nr. 2 a/b). Sie eignen sich vorzüglich für einen Vergleich im Unterricht. Das Dokument Nr. 2a fußt auf einer stenographischen Mitschrift eines beobachtenden Teilnehmers und erschien schon bald nach den Ereignissen im Deutschen Revolutionsalmanach. Die Mitschrift ist, nach allem was man weiß, zuverlässiger als die erst zehn Jahre später publizierte Variante (Nr. 2b), die allerdings deutlich bekannter ist: Ein noch heute vielfach im Internet und Fernsehen verbreitetes Tondokument über die Proklamation der Republik gründet auf einer Lesung Scheidemanns aus seinen 1928 veröffentlichten Memoiren.13 In dieser Fassung bezieht Scheidemann deutlich Stellung in der tagespolitischen Auseinandersetzung um die so genannte Dolchstoßlegende. Sie ist zudem sehr viel stärker auf die direkte Konfrontation zwischen MSPD einerseits sowie Spartakus/KPD andererseits bezogen, denn Scheidemann macht seine Ausrufung zu einer Reaktion auf die unmittelbar bevorstehende Proklamation der sozialistischen Republik durch Karl Liebknecht (Nr. 3). Zudem überhöht er die Bedeutung seiner spontanen Rede, indem er sie als ausschlaggebend für einen – selbst 1928 nicht absehbaren – Sieg über den Bolschewismus einstuft. Hier ist der Rechtfertigungsdruck Scheidemanns für diese Rede mit Händen greifbar, denn Friedrich Ebert war nach Scheidemanns Überlieferung über das Vorpreschen seines Parteigenossen äußerst erbost, wollte er doch die Entscheidung über die künftige Staatsform in die Hände einer erst noch zu wählenden Nationalversammlung legen.14
Noch ein zweiter Gesichtspunkt stand bei der Auswahl von geeigneten Dokumenten immer wieder vor Augen. Es sollte den gewandelten Forschungsinteressen an der Geschichte der Weimarer Republik mit einem möglichst weiten Verständnis von Innenpolitik Rechnung getragen werden. Versammelt finden sich hier daher kulturgeschichtliche Dokumente ebenso wie solche zur Umweltgeschichte, zum Umgang mit dem Anderen oder zur erst jüngst überhaupt angestoßenen Skandal- oder Katastrophenforschung.
Dem chronologischen Abriss zentraler innenpolitischer Ereignisse und Probleme werden daher im Folgenden fünf der in der jüngeren Forschung zur Weimarer Republik stärker akzentuierten Handlungs- und Konfliktfelder zur Seite gestellt, ohne dass ein Forschungsüberblick überhaupt nur ansatzweise beabsichtigt wäre. Die Ausführungen beschränken sich vielmehr am Beispiel ausgewählter Dokumente auf einige grundsätzliche Beobachtungen und versuchen, die Quellen auf den jeweiligen Trend zu beziehen.
Kulturgeschichtliche Perspektiven
Die kulturgeschichtliche Akzentuierung ist der augenblicklich wohl am deutlichsten erkennbare Trend der Weimarforschung, der mittlerweile auch in einige in Studium und Lehre häufig verwendete Gesamtdarstellungen der Epoche Eingang gefunden hat.15 Wer sich der Erforschung von Ritualen und Symbolen etwa auf der Ebene von Worten und Erinnerungen zuwendet, erhält neue Perspektiven auf die gesellschaftlichen Funktionen, Wahrnehmungen und Zuschreibungen von Politik. Das kann sich an Parlamentsdebatten ebenso diskutieren lassen wie am Beispiel von Interviews oder Reportagen fremder Beobachter der politischen Landschaft. In den Blick gerät dabei auch, wie mit- oder gegeneinander und mit welchen politischen Begriffen gesprochen wird. Die in Reichstagsdebatten von den Stenographen festgehaltenen Reaktionen von Abgeordneten und Publikum sagen viel aus über die Diskussionskultur und die teils vergiftete Atmosphäre in der politischen Arena.16
Ein weiteres Beispiel eröffnet die Quellensammlung: die lebendige Reportage des amerikanischen Journalisten Ben Hecht, der Karl Liebknecht und zahlreiche Matrosen Anfang November 1918 beim Sturm auf das Berliner Stadtschloss begleitete (Nr. 1). Mit einem wachen Blick für symbolisches Handeln – Karl Liebknechts Inbesitznahme des kaiserlichen Bettes – in der Revolution lässt Hecht die Anspannung unter den meuternden Einheiten unmittelbar vor die Augen des Lesers treten. Derartige Dokumente zur revolutionären Entstehungsphase der Weimarer Republik gestatten einen Einblick in die Komplexität von 1918/19, die bei Weitem noch nicht so differenziert ausgeleuchtet worden ist, wie etwa die der Revolution von 1848/49. Weniger bekannte und bisher unterbelichtete Aspekte des Revolutionsverlaufs rücken mit ihnen in den Vordergrund. Auch die ausführliche Debatte um den Tagungsort der Nationalversammlung im Rat der Volksbeauftragten (Nr. 14) offenbart neben sicherheitspolitischen Erwägungen das ausgeprägte Gespür der politisch Verantwortlichen für Symbolpolitik, denn die Frankfurter Paulskirche wurde insbesondere mit Blick auf die Erinnerung an 1848/49 ernsthaft erwogen, und für Weimar sprach die Verbindung mit den Klassikern der deutschen Literatur. Freilich sind auch die symbolpolitischen Defizite nicht zu verkennen, wie es Harry Graf Kessler in seiner kurzen Skizze über die in seinen Augen würdelose Vereidigung Eberts zum Reichspräsidenten prägnant auf den Punkt bringt (Nr. 21).
Wie sehr gerade in der Weimarer Republik symbolisches Handeln und Symbole die politische Arena dominierten und handfeste Folgen zeitigten, dokumentiert nicht nur der so genannte Flaggenstreit, sondern etwa auch jenes Foto, das Reichspräsident Friedrich Ebert und Reichswehrminister Gustav Noske privat zeigte und eine gewaltige Wirkung entfaltete: „Ebert und Noske in der Sommerfrische“ (Nr. 22). Dieses am 16. Juni 1919 in Haffkrug bei Travemünde aufgenommene Foto der beiden in Badehose erschien nicht von ungefähr unmittelbar zur Vereidigung Eberts als Reichspräsident auf die neue Verfassung. Rasch stieg es auf zum wirkungsvollsten Symbol gegen die Republik, wurde in den Kinos gezeigt und in zahllosen Karikaturen aufgegriffen. Vor den Augen der Zeitgenossen stand der Wilhelminische Prunk mit den glanzvollen Uniformen seiner Repräsentanten. Dagegen zeigte das Badehosen-Foto die beiden Volksvertreter entblößt, würde- und waffenlos.17
Umwelt- und Katastrophengeschichte
Mit umweltgeschichtlichen Fragestellungen geraten die Schattenseiten der Industrialisierung in den Blick. Denn Klagen über die ungeheuer große Umweltbelastung und deren Folgen für die Bewohner der industriellen Kerngebiete des Reiches waren ein Dauerbrenner. Das Schreiben des Dortmunder Landratsamts an den preußischen Minister für Handel und Gewerbe (Nr. 85) ist ein Beispiel aus einer schier endlosen Reihe und bringt den Konflikt zwischen industriellen und privaten Bedürfnissen auf den Punkt. Die Behörden galten den Zeitgenossen bis hinab auf die kommunale Ebene als industriefreundlich, zumal das Bürgerliche Gesetzbuch mit dem Grundprinzip der „Ortsüblichkeit“ den Anwohnern kaum Möglichkeiten eröffnete, sich erfolgreich gegen Industrieemissionen zu wehren. Andernorts konnte dasselbe Argument die unangenehmen Folgen allerdings abwenden, da sie dort nicht „ortsüblich“ waren. In der Debatte um Rauchschäden stellte sich immer wieder die Frage nach dem Hauptverursacher: Industrie oder Privathaushalte?
Eine Antwort ermöglicht die französische und belgische Besetzung des Ruhrgebietes 1923 und der sich anschließende passive Widerstand der Bevölkerung (Nr. 46 u. Nr. 49). Sie ließen die industrielle Produktion nahezu vollständig versiegen und zeitigten aufschlussreiche Auswirkungen auf die natürliche Umwelt und die Ernteerträge, die eine Studie jener Jahre festhielt: „Mit der Einstellung der Kohle-, Koks- und Stahlgewinnung trat augenblicklich ein deutliche, selbst von Menschen wahrnehmbare Verbesserung der Luftverhältnisse im Ruhrgebiet ein, sodaß man keinen Unterschied mehr zu nicht industriellen Gegenden bemerkte. Auf die Vegetation hatte diese Änderung einen erstaunlich günstigen Einfluß. Am besten war die Wirkung an den Hackfrüchten zu beobachten, deren Laub bis weit in den Herbst hinein grün blieb, während es sonst bereits im Vorsommer viele welke Blätter aufwies.“18
Natur- und Landschaftsschutz waren in Artikel 150 der Weimarer Verfassung fest verankert (Nr. 20). Sie erklärte ihn zur staatlichen Aufgabe – eine Vorgabe, welche die Politik freilich allenfalls teilweise einlöste. So gab es zwar Landesnaturschutzgesetze in Anhalt, Lippe und Hessen, in Preußen dagegen scheiterte ein entsprechender Anlauf. Ein Reichsnaturschutzgesetz wurde erst 1935 erlassen. Bis dahin blieb es bei wenigen Ansätzen, die sich im internationalen Vergleich allerdings durchaus sehen lassen konnten: So fand 1925 in München erstmals ein Deutscher Naturschutztag statt (Nr. 71), dem bis 1931 drei weitere folgten und der die noch im Kaiserreich begonnene, amtliche Naturschutzarbeit stärker untereinander vernetzte und in der Öffentlichkeit verankerte. Die Schutzargumente hatten sich mit dem Ersten Weltkrieg nur wenig gewandelt: Als vorrangig schützenswert galten herausragende Naturdenkmäler wie die Landschaft im Allgemeinen. Das war von einem Umwelt- und Naturschutz, wie wir ihn heute kennen, noch weit entfernt.
In den Kinderschuhen steckt noch die Erforschung von (Umwelt-)Katastrophen und ihrer politischen wie gesellschaftlichen Bewältigung. Die sich am Morgen des 21. September 1921 ereignende Oppauer Explosionskatastrophe steht dafür, sucht man sie bisher doch vergeblich in den Gesamtdarstellungen der Weimarer Republik. Sie war die bis dahin größte europäische Industriekatastrophe, hinterließ auf dem Fabrikgelände der BASF bei Ludwigshafen einen riesigen Krater und forderte 561 Tote sowie rund 3000 Verletzte; selbst in 80 km Entfernung beschädigte die Explosion noch Häuser (Nr. 36 u. 37). Über Wochen war sie das beherrschende Thema in der nationalen wie auch der internationalen Öffentlichkeit; zeitweilig überbrückte sie die tiefen gesellschaftlichen und sozialen Gräben, ja überwand sogar den deutsch-französischen Antagonismus, wie die unmittelbar nach der Explosion anlaufenden Hilfsmaßnahmen eindrücklich belegen. Als Erklärung für die Risiken der hochindustrialisierten Gesellschaft musste die unberechenbare und gewalttätige Natur herhalten. Der Vorstandsvorsitzende der BASF, Carl Bosch, jedenfalls suchte die Schuld nicht beim Unternehmen oder in menschlichem Versagen.
Ingesamt gerät mit diesem Themenfeld deutlicher als zuvor die Ambivalenz der Weimarer Industriemoderne auf die Agenda, die eben nicht ausschließlich als Fortschritt gewertet werden kann. Nicht von ungefähr erlebte der Begriff „Krise“19 in der Zwischenkriegszeit eine beachtliche Hochkonjunktur – ein Umstand, den aufmerksame Zeitgenossen durchaus erkannten (Nr. 101).
Gewalt
Vermehrt in den Blick der Forschung geraten ist in den letzten Jahren der gewalttätige Charakter der Epoche im europäischen Vergleich insgesamt.20 Der Erste Weltkrieg sowie die Revolution hatten nicht nur die sozialen und gesellschaftlichen Gräben vertieft, sondern auch Gewalt und eine gewalttätige Sprache als soziale Praxis der politischen Auseinandersetzung etabliert. Verstärkend kam hinzu, dass die Ordnungsmächte insbesondere in der bürgerkriegsähnlichen Anfangs- wie der Endphase der Republik nicht immer Willens oder in der Lage waren, das staatliche Gewaltmonopol gegenüber allen politischen Gruppen und ihren Anhängern konsequent durchzusetzen.
Von rechts wie links versuchten politische Extremisten von Beginn an, die Staats- und Gesellschaftsordnung mit Gewalt zu ändern. Blutige Exzesse begleiteten diese Umsturzversuche – vom Kampf um die Münchner Räterepublik über den Märzaufstand bis zum Kapp-Lüttwitz-Putsch. Nach dem Scheitern des Kapp-Lüttwitz-Putsches verlegten sich konspirative rechte Kreise, wie die Organisation Consul, auf terroristische Anschläge. Die politischen Auftragsmorde an führenden Repräsentanten des neuen Systems wie Matthias Erzberger und Walter Rathenau sind nur die bekanntesten und folgenschwersten Beispiele für diese Taktik.21
Auch nach dem Ende der revolutionären Anfänge blieb die Bereitschaft zur Gewalt ab 1924 allgegenwärtig: Die Zahl der Männer, die militaristischen oder militärnahen Organisationen angehörte, ging in die Millionen; viele verklärten das Fronterlebnis zur mythischen Urerfahrung. Republikaner und Linke stellten den Rechten ihre eigenen Uniformierten entgegen: Anfang 1924 gründeten sie das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ sowie den kommunistischen „Roten Frontkämpferbund“; die Unversöhnlichkeit der politischen Lager vertiefte sich (Nr. 57 u. 60).
Aufgeregte Wortgefechte, die vor persönlichen Verunglimpfungen nicht Halt machten, Tumulte und Handgreiflichkeiten waren in den Parlamenten vor 1930 zwar eher die Ausnahme denn die Regel, aber sie kamen vor; die Debatte zu den Dawes-Gesetzen im Reichstag am 29. August 1924 zeigt dies beispielhaft (Nr. 62). Der inhaltlichen Auseinandersetzung um die Gesetze ging eine Diskussion um einen kommunistischen Antrag zur Geschäftsordnung voran. Dieser sah vor, in Haft befindliche Abgeordnete freizulassen, damit diese an der Abstimmung teilnehmen konnten. Das war weit mehr als Spiegelfechterei oder Symbolpolitik, denn mit deren Stimmen wäre die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Annahme der Gesetze in ernster Gefahr gewesen. Es entspann sich eine emotionsgeladene Debatte, in der schlussendlich kommunistische Abgeordnete auf den Demokraten Alfred Brodauf eindrangen und ihn verletzten.
In der Endphase der Weimarer Republik verschärfte die politische Gewalt die Krise des Systems maßgeblich. Zwar meidet die Forschung zumeist den Begriff „Bürgerkrieg“, aber die Gewalt auf der Straße war ein Teil des bewaffneten Kampfes um die Macht. Einen traurigen Höhepunkt erreichten diese Kämpfe am 17. Juli 1932 im preußischen Altona (Nr. 120). Die als „Altonaer Blutsonntag“ bekannt gewordenen Zusammenstöße zwischen NSDAP und KPD mündeten in eine wilde Schießerei und kosteten 18 Menschen das Leben, 61 wurden teils schwer verletzt. Die Vorfälle korrespondierten mit einer Verrohung der Sitten im Reichstag und dienten als Vorwand für den sich anschließenden „Preußen-Schlag“ der Regierung Papen, die damit Gewalt als Mittel in der Politik verwendete. Dirk Blasius macht in dieser Phase Weimars gar einen Paradigmenwechsel aus. Hier wich die „Politik der vorausschauenden Eindämmung von Gewalt […] einer kurzsichtigen Politik der Gewaltverkündigung“ und beendete damit den staatlich garantierten Rechtsfrieden.22
Skandale
Skandale als Gegenstand der historischen Forschung sind ein bisher noch wenig erforschtes Terrain, gewinnen aber mit dem Aufschwung medien- und kulturgeschichtlicher Zugänge der Geschichtswissenschaft zunehmend an Bedeutung.23 Insbesondere Korruptionsskandale führten zwischen 1918 und 1933 zu grundsätzlichen Debatten über das demokratische „System Weimar“ und eröffneten seinen Kritikern reichhaltige Angriffsflächen. Die Analyse von Skandalen kann damit gleichsam als Seismograph für die politische Kultur von Gesellschaften dienen. Die Kampagnen der politisch ausgerichteten Presse befeuerten die Skandalisierung und untergruben das Ansehen der ersten deutschen Demokratie in der Öffentlichkeit nachhaltig. Was im Kaiserreich noch den Sozialdemokraten, den Demokraten und dem politischen Katholizismus vorbehalten war, übernahmen in der Weimarer Republik nun zumeist rechts wie links stehende Demokratiegegner. Der sogenannte „Barmat-Skandal“ ist dafür ein aussagekräftiges Beispiel. Die aus Polen stammenden Brüder Barmat waren Anfang 1925 verhaftet und wegen Kreditbetrugs angeklagt worden. Sie sollten hohe Beamte und Politiker bestochen haben, um Kredite in Höhe von rund 35 Millionen Goldmark aus öffentlichen Mitteln zu erhalten, ohne dass sie Sicherheiten dafür boten. Die öffentlichen Vorwürfe richteten sich vorwiegend gegen Vertreter der Sozialdemokratie und des Zentrums, Reichspostminister Höfle musste von seinem Amt ebenso zurücktreten, wie der vormalige Reichskanzler Bauer sein Reichstagsmandat zurückgab. Insbesondere die Presse der NSDAP instrumentalisierte den Skandal, um gegen die „Juden- und Schieber-Republik“ von Weimar Front zu machen und antisemitische Vorurteile zu verbreiten (Nr. 87).
Freilich konnte sich ein Skandal auch gegen diejenigen wenden, die ihn öffentlich gemacht hatten. Die SPD provozierte aus dem klassischen Dreigestirn von Missstand, Aufsehen und Empörung einen öffentlichkeitswirksamen Skandal, als sie die geheime deutsch-russische Rüstungszusammenarbeit zunächst im „Vorwärts“ und dann am 16. Dezember 1926 im Reichstag aufdeckte. Philipp Scheidemann hielt dort eine scharfe Rede gegen die illegalen Machenschaften und Finanztransfers der Reichswehr sowie ihre Verstrickung in rechtsradikale Kreise (Nr. 77). Darüber stürzte tags darauf das dritte Kabinett Marx (Zentrum). Weitaus gravierender waren aber die Folgen für die SPD, die sich nicht nur dem aus dem Kaiserreich herrührenden Vorwurf der „vaterlandslosen Gesinnung“ ausgesetzt sah, sondern sich auch die tiefe Abneigung der Reichswehrführung und Hindenburgs zuzog.
Die medienwirksame Skandalisierung des politischen Gegners vertiefte nicht nur die Gräben, sondern sie schürte grundsätzliches Misstrauen und schmälerte das ohnehin schwach ausgeprägte Vertrauen in die Funktion demokratischer Organe und politischer Parteien weiter. Auch dafür ist das bereits erwähnte Badehosen-Foto ein gutes Beispiel. Integrativ wirkten Skandale so zumeist nur nach innen, auch wenn die gemeinsame Empörung über Missstände kurzfristig half, weltanschauliche Milieu- und Parteigrenzen zu überwinden.
Zerklüftung der Gesellschaft
Obwohl sozialgeschichtlich inspirierte Fragestellungen und die Analyse der gesellschaftspolitischen Konflikte zwischen wirtschaftlichen, sozialen und auch konfessionellen Gruppen keine neuen Blickwinkel auf die Weimarer Republik sind, rangieren sie auf der Tagesordnung der Forschung nach wie vor ganz weit oben. Dies gilt auch für die Frage nach dem jeweiligen Verhältnis von Gruppen zur demokratischen Staatsform.
Die im 19. Jahrhundert wurzelnde Zerklüftung und Segmentierung der Gesellschaft in unterschiedliche sozialmoralische Milieus vertiefte sich durch die Erfahrungen von Krieg, Revolution und Inflation zunächst weiter, ja führte in weiten Teilen zu einer Politisierung selbst des privaten Raums. Nicht zuletzt auch die Reparationen engten den finanzpolitischen Spielraum der Regierungen derart ein, dass nicht alle Interessen hinreichend befriedigt werden konnten, zumal sich die Parteien zu allererst als Sachwalter bestimmter Milieus oder Gruppierungen verstanden. Auch wenn sich die Milieubindung bald teilweise erheblich abschwächte, leistete sie der Zersplitterung und dem Wandel der Parteienlandschaft ebenso Vorschub wie das Wahlrecht (Nr. 114).
Gleichzeitig wandelte sich die Gesellschaft im Übergang vom Agrar- zum modernen Industriestaat spürbar. Sie wurde freizügiger, mobiler, urbaner und pluralistischer. Neue Formen von Freizeitvergnügen begeisterten die Massen einer jugendlichen Gesellschaft: Sport, Tanz, Kino und Radio (Nr. 64, 68, u. 93). Sie erzeugten aber zugleich auch vielfältige Spannungen, Gegensätze und Widersprüche sowie das Gefühl von Orientierungslosigkeit, dem auf politischer Ebene die Suche nach einer neuen, autoritären Ordnung und – nicht nur in rechten Kreisen – nach einer nationalen „Volksgemeinschaft“ entsprach. Bis dahin ungekannte Chancen der Partizipation und Emanzipation eröffneten sich etwa für Frauen, Jugendliche, Katholiken, Protestanten und Juden – die Einführung des Frauenwahlrechts ist nur eines von vielen Beispielen für diesen Trend. Diese neuartige Konkurrenz schürte zugleich allerdings Unmut und verschärfte die bereits im Kaiserreich vorhandenen Basiskonflikte innerhalb der Gesellschaft zwischen Alt und Jung, zwischen Stadt und Land, zwischen Mann und Frau (Nr. 92).
Diese Konflikte schlugen nicht zuletzt deshalb verstärkt auf die politische Ebene durch, weil der demokratische Staat in sich wenig gefestigt und von vielen Seiten bedrängt war, zugleich aber allen durch die Verfassung gleiche Chancen einräumte. Das verschärfte die Brisanz von Konflikten ebenso wie die wirtschaftlich prekäre Lage, die immer wieder auch berufliche Unsicherheiten hervorrief, wie etwa die so genannte Akademikerschwemme, die seit Ende der 1920er Jahre in besonderer Weise angehende Ärzte und Juristen traf. Warnungen vor einem Studium und Klagen über den Zustand und die politischen Haltungen der akademischen Jugend waren daher keine Seltenheit (Nr. 111 u. 116).
Auf der politischen Agenda standen von Beginn an drängende Probleme des Alltags und der Versorgung, die aber nicht zuletzt aufgrund des engen finanziellen Spielraums und der Wirtschaftskrisen oft nicht zufriedenstellend gelöst werden konnten: Essen, Heizen, Wohnen – das waren nicht nur in der Revolution 1918/19 zu befriedigende Bedürfnisse, sondern sie schoben sich wiederholt in den Vordergrund und beschäftigten die Politik im Reich, in den Ländern und auch in den Kommunen (Nr. 8, 19 u. 110).
Bei allen Schwächen des Systems und der Parteien darf man die großen sozialpolitischen Errungenschaften der Zeit nicht übersehen, die trotz allem zustande kamen. Die Weimarer Republik kam auf dem Weg zum modernen Sozialstaat ein beträchtliches Stück voran. An erster Stelle wird zumeist auf das am 16. Juli 1927 ergangene Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung mit seinen 275 Paragraphen verwiesen (Nr. 81). Auch wenn Frauen von einer Gleichstellung mit Männern nach wie vor weit entfernt waren: Das ebenfalls am 16. Juli ergangene Gesetz über die Beschäftigung vor und nach der Niederkunft war ein Schritt in die richtige Richtung (Nr. 80). Als fortschrittlich und zukunftsweisend dürfen auch das Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923 sowie das Volksschulgesetz vom 28. April 1920 gelten (Nr. 29 u. 47). Freilich schränkte der Schulkompromiss der Verfassung die Modernisierungswirkung des Gesetzes erheblich ein, denn er garantierte weiterhin den Bestand der Konfessionsschulen, da ein Reichsschulgesetz nie zustande kam.24
So sehr die beiden großen Konfessionen dem Trend der Entkirchlichung – der Katholizismus stärker als der Protestantismus – ausgesetzt waren, so sehr rangen sie um ihr Verhältnis zum Weimarer Staat: Im Katholizismus entbrannte dieser Streit 1922 auf dem Deutschen Katholikentag in München in aller Öffentlichkeit. Der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Michael Faulhaber, nutzte die Eröffnungsrede, um die Revolution als „Meineid und Hochverrat“ abzustempeln und sich deutlich gegen die Republik auszusprechen (Nr. 41). Diese Stellungnahme blieb nicht unwidersprochen, denn bereits in der Schlussansprache bezog der Präsident des Katholikentages und Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer deutlich Position und bekannte sich zur Verfassung (Nr. 42). Vielfältig waren auch im Protestantismus die Vorbehalte gegen die Demokratie und die Tendenzen der Industriemoderne: Auf dem Evangelischen Kirchentag in Königsberg 1927 suchte man einerseits Anschluss an die nationalen Bewegungen und forderte andererseits eine christlich begründete Loyalität gegenüber der Republik ein, womit man im protestantischen Milieu tief verwurzelten Vorbehalten gegenüber der ersten deutschen Demokratie begegnete (Nr. 79).
Diese Ablehnung des Staates war oft unterfüttert mit antijüdischen Ressentiments und antisemitischen Anwürfen. Fest beheimatet war der Antisemitismus in rechten Verbänden und Parteien, aber eine breite judenfeindliche Stimmung konnte sich jederzeit Bahn brechen: Die Diskussion über die Einwanderung von Ostjuden am 29. November 1922 im preußischen Landtag war nur einer von vielen Anlässen (Nr. 44a-c). Die leidvollen Erfahrungen der jüdischen Minderheit belegen exemplarisch, wie anfällig und schwach das demokratische Fundament in Weimar war.
Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler eines Präsidialkabinetts steht am Ende der Weimarer Republik. Mit ihr begann der Übergang erst zur autoritären, dann zur totalitären Diktatur. Die weit aufgefächerte Forschung ist sich weitgehend einig darüber, dass für das Scheitern Weimars eine Vielzahl von Faktoren verantwortlich ist. Gestritten wird indes über das Gewicht der einzelnen Faktoren und über die entscheidenden Weichenstellungen, weshalb die Antworten auf die Frage „Woran scheiterte Weimar?“ unterschiedlich ausfallen. In ganz groben Strichen reichen die Argumente von den Vorbelastungen durch das Kaiserreich über die Defizite der Weimarer Verfassung und die Selbstpreisgabe der Demokraten bis hin zur Verantwortung der alten Machteliten. Allerdings darf man die Geschichte der Weimarer Republik nicht ausschließlich vom 30. Januar 1933 her beurteilen, das „andere“, das moderne Weimar mit all seinen Chancen geriete damit zu sehr aus dem Blick. Denn unter schwierigen Bedingungen wurde in kurzer Zeit auch viel erreicht. So wurzelt in Weimar der moderne Sozialstaat, auf den die Bundesrepublik und auch die DDR nach 1945 aufbauen konnten und der auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch maßgeblich zur Stabilität des wiedervereinigten Deutschland beiträgt.