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Einleitung

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Die Ungleichheit der Menschen in ihrer Persönlichkeit bei gleichzeitiger Anerkennung der Gleichheit der Menschenwürde stellt eine der großen Herausforderungen dar, der sich das europäische Denken in seiner Wertetradition zu stellen hat(te). Anders gesagt: Wie kann beobachtbare Ungleichheit mit nicht beobachtbarer Gleichheit versöhnt werden? Oder auch: Wie kann eine fundamentale Gleichheit jenseits erfahrbarer Ungleichheit plausibel gemacht und operationalisiert werden? Es geht um die Herausforderung, Menschen in entscheidenden Hinsichten „als Gleiche“ und dennoch nicht „gleich“ zu behandeln.

Wir könnten hier ein eigenartiges Paradox beobachten: Die Anerkennung der Einzigartigkeit von Menschen (damit: die Anerkennung der Ungleichheit) ist Grundlage für die Anerkennung der fundamentalen Gleichheit der Menschen. Wieder anders gesagt: Wenn wir anerkennen, dass die Einzigartigkeit von Menschen auf je gleiche Weise zustande kommt, haben wir einen Anhaltspunkt gefunden, „tiefer liegende Gleichheit“ bei Anerkennung der Differenzen zwischen Menschen und der Einzigartigkeit eines bestimmten Menschen zu identifizieren. Der rechte Umgang mit Ungleichheit wird seit den Anfängen der griechischen Philosophie als Merkmal von Gerechtigkeit gesehen.

Die Idee der Gleichheit ist mit der Idee einer gemeinsamen „Conditio Humana“ in Zusammenhang zu bringen. Stoische Philosophie wie auch die Aufklärung haben hier entscheidende Impulse geleistet – der kategorische Imperativ Kants verbindet den Gedanken der Gleichheit mit einem Grundpfeiler der Moralphilosophie, der Universalisierbarkeit. Die Universalisierbarkeit gewinnt nur im Rückbezug auf Gleichheit ihre Plausibilität als Kriterium. Hier geht es vor allem um die Idee, dass Menschen etwas gemeinsam haben, das sie zu Menschen macht. In der Aufklärungstradition steht die gemeinschaftsstiftende Gleichheit von Anfang in einem bestimmten Spannungsverhältnis zu individueller Freiheit, die in der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ von 1789 neben den Wert der Gleichheit gestellt wurde.

Neben philosophischen Grundlagen des europäischen Werts der Gleichheit sollen aber auch die biblischen Wurzeln des Gleichheitsgedankens in der europäischen Geistesgeschichte nicht unterschätzt werden. Die Anerkennung geteilter Kreatürlichkeit, die Idee also, dass alle Menschen von Gott geschaffen wurden, schafft eine gemeinsame „Identitätsbedingung“, eine geteilte Form der Identitätszuweisung bei Menschen.1 Auch das Verhältnis zwischen Menschen und dem einen Gott, wie es in den in Europas Geschichte wirksamen Formen des Monotheismus deutlich wurde, schafft eine Form der Gleichheit vor Gott und damit auch eine Form horizontaler Gleichheit. Durch das Christentum kommen neue Impulse für die Gleichheit ins Spiel. Dies möchte ich in aller Kürze, weil im vorliegenden Band nicht geschehen, illustrieren (auch auf die Gefahr hin, den Eindruck zu erwecken, das Christentum als prioritäre Kraft in der Gleichheitsbewegung zu positionieren):

Man könnte hier vier Eckpfeiler eines neuen Verständnisses von Gleichheit unterscheiden und anführen: Erstens der Hinweis auf die gleichheitsschaffende Kraft einer Glaubens- und Taufgemeinschaft. Ambrosius von Mailand gibt in seinem Exameron, das im vierten Jahrhundert entstanden ist, einen Hinweis auf die gebotene innerkirchliche Gleichheit: „Kein Reicher und Hochgestellter darf sich da überheben, kein Armer verächtlich und kein Niedriger wegwerfend von sich denken.“2 Der 461 verstorbene Papst Leo der Große wies in seiner Festpredigt zur Jahrtagsfeier seiner Erhebung auf den Stuhl Petri auf die durch Glauben und Taufe gewonnene Gleichheit hin: „In der Einheit des Glaubens und der Taufe genießen wir, Geliebteste, unterschiedslose Gleichheit und gemeinsame Würde.“3 Die Gleichheit der Menschen ergibt sich aus der Gleichförmigkeit des Glaubens und aus der durch die Taufe neu konstituierte Identität (stiftet doch die Taufe nach christlichem Verständnis ein „signum indelebile“). Zweitens wird Gleichheit im christlichen Denken, wie es sich in patristischen Schriften darstellt, durch den Glauben an die Menschwerdung Gottes neu bedacht. Die Theologie der Inkarnation, der Menschwerdung Gottes, geht von der Prämisse aus, dass Gott in Jesus Christus Mensch geworden ist und damit die Conditio Humana geteilt und den Menschen gleich geworden ist. Diese Gleichheit kommt am vielleicht deutlichsten im Philipperhymnus zum Ausdruck, wo es im Philipperbrief (2, 5–11) heißt: „Jesus Christus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ Hier wird eine innergöttliche Gleichheit zum Ausgangspunkt für die Unerhörtheit einer neuen Gleichheit zwischen Gott und Mensch. Johannes Chrysostomus hebt in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium den normativen Aspekt dieser neuen Gleichheit zwischen Gott und Mensch gerade mit Blick auf menschliche Hierarchien hervor, wie wir es bereits im „Exameron“ gesehen haben – der König steht nach dieser Lesart nicht viel höher als der Bettler.4 Auch Leo der Große unterstreicht das neue Verständnis von Gleichheit dadurch, dass Gott in die Conditio Humana eintaucht.5 Somit haben wir bereits zwei Anhaltspunkte für das Verständnis von Gleichheit als Wert: Die Glaubens- und Taufgemeinschaft und die Inkarnation.

Drittens kann Gleichheit in der Lehre von der Dreifaltigkeit, in der Theologie der Trinität, gefunden werden. Diesen Aspekt von Gleichheit finden wir bei Ambrosius6 und an mehreren Stellen bei Johannes Chrysostomus hervorgehoben – Jesus und der Vater sind wesensgleich, gleich in Ehre, gleich an Wirkkraft.7 Deutlich wird dieser Aspekt von Gleichheit auch bei Leo dem Großen: „Die Gottheit, die in der Dreifaltigkeit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes ein und dieselbe ist, [schließt] jegliche Annahme einer Ungleichheit aus. Hat doch hier ihre Ewigkeit nichts Zeitliches, ihre Natur nichts Ungleiches. Hier gibt es nur einen Willen, die nämliche Wesenheit und die gleiche Macht, nicht drei Götter, sondern nur Einen Gott, weil da wahre und unzertrennliche Einheit vorhanden ist, wo keinerlei Verschiedenheit bestehen kann.“8

Schließlich ein vierter Anhaltspunkt für ein neues Verständnis von Gleichheit im Christentum: Gleichheit durch moralische Gleichförmigkeit, durch ein gemeinsames Streben nach geteilten Zielen; durch ein Verfolgen desselben moralischen Ideals. Gleichheit ergibt sich hier als innere Struktur einer Moralgemeinschaft. Gleichheit wird durch Gleichgesinntheit hergestellt, wie sie eine Tugendethik nahelegt; dies kann zu einer „Lastergemeinschaft“ wie auch zu einer „Tugendgemeinschaft“ führen.9 In der frühchristlichen Literatur, etwa bei Johannes Cassian, wird vor der destruktiven Kraft des Vergleichs, vor Neid, gewarnt. Cassian benennt Fehlhaltungen der Seele, unter anderem den Neid.10 In seinen „Collationes patrum“ lesen wir, dass der Neid von allen Fehlhaltungen am schwersten zu heilen sei11 – und zwar deswegen, weil der Neid gerade von dem entflammt wird, was die anderen Fehlhaltungen heilen kann, da man schließlich gerade auch Tugendhafte beneiden und die Kräfte des Guten gierig begehren kann. Der Vergleich als Ausdruck der Erfahrung von Ungleichheit wird also als moralzersetzend betrachtet. Das gilt nicht nur für Einzelne, sondern auch für eine Gemeinschaft: Die Mönchsregeln des ägyptischen Mönches Pachomius, warnen im ersten Drittel des vierten Jahrhunderts vor dem toxischen Effekt, der vom Vergleich ausgeht.12 Die Bedeutung der Ordnung wird unter anderem in den Klosterregeln des Pachomius dadurch klar gemacht, dass jeder Mönch seinen spezifischen Rang und Sitzplatz zugewiesen bekommt, eine Position, die nicht ohne ausdrückliche Intervention des Oberen verändert werden darf (I,1); mehr noch: es ist Ausdruck der Autorität, Ordnung einsetzen und verändern zu können. Wichtiges, aber nicht zwangsweise bindendes Rangprinzip ist die Seniorität im Sinne des Eintrittsalters. Die Ordnung der Gemeinschaft wird dadurch aufrecht erhalten, dass Eintrittsstellen für Unordnung unterbunden werden. Dies betrifft etwa die Aufnahme neuer Mitglieder der Gemeinschaft – Pachomius schildert hier einen anspruchsvollen Prozess, bei dem sich die Kandidaten durch Demut und Geduld auszeichnen müssen (I, 49). Eine mögliche Eintrittsstelle für Unordnung ist auch der Umgang mit Gästen – bei allem Respekt vor Gastfreundschaft (vgl. I, 51; 52) soll niemand die Vollmacht haben, einen Gast zum Tisch einzuladen (I, 50). Die Regelung des Kontakts zur Welt außerhalb des institutionellen Schutzes des Klosters ist eine gewichtige Führungsaufgabe. In der frühchristlichen Literatur war die destruktive Kraft des Neids als einer Frucht der Gier erkannt worden, sowohl für das Seelenleben von einzelnen als auch für das Gemeinschaftsleben. Es verwundert deswegen nicht, dass sich in der Klosterregel des Pachomius immer wieder Hinweise dafür finden, dass der Vergleich zu unterlassen sei: Niemand soll den anderen beim Seildrehen oder beim Beten anschauen (I, 7), die Mönche sollen sich auf das je eigene Werk konzentrieren. Auch beim Essen soll man nicht anderen zuschauen (I, 30). Entscheidend für die Kontrolle von Eintrittsstellen für Neid ist der Umgang mit Privilegien: Es stellt nicht nur in monastischen Kontexten eine besondere Herausforderung dar, wie Privilegien erworben werden können. In den Klosterregeln finden sich immer wieder Hinweise auf Eintrittsstellen für Privilegien: Die Tischdiener, die offensichtlich einen privilegierten Zugang zur Küche haben, sollen nach Mahnung des Pachomius nichts anderes essen als die anderen Mitbrüder auch und es ist ihnen ausdrücklich verboten, sich eigene Speisen zu bereiten (I, 35); die mit besonderen Aufgaben betrauten und damit auch mit besonderen Privilegien ausgestatteten Minister sollen nichts nach eigenem Gutdünken für sich in Anspruch nehmen (I, 38). Selbst im Krankheitsfall soll sich ein Minister nicht einfach etwas aus Küche oder Vorratsraum erhalten, sondern soll dies ausgehändigt bekommen (I,41) – das gilt auch für andere Kranke (I, 43), die ebenfalls keine Zugangsprivilegien zur Nahrung erhalten. Der rechte Umgang mit Vorrechten, das „Ungleichheitsmanagement“, wird zur Schlüsselfrage der rechten Gestaltung des Klosterlebens. Eine moralische Gemeinschaft, wie sie eine monastische Kommunität unter anderem darstellt, ist auf die Anerkennung von und Verpflichtung auf Gleichheit angewiesen.

Die moralische Komponente des Gleichheitsgedankens im Christentum wird auch von Gregor von Nyssa, der gegen Ende des vierten Jahrhunderts verstorben ist, in seinen „Homilien über die acht Seligkeiten“ ausdrücklich diskutiert: In seiner vierten Rede über die Seligpreisungen geht es um die Charakterisierung der Gerechtigkeit: „Selig sind die, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden“. Wir finden hier drei gewichtige Aussagen: Der Durst nach Gerechtigkeit, der wohl auch den Aspekt einer Verpflichtung auf Gleichheit impliziert, schafft eine Wertegemeinschaft; dieser Durst ist nicht selbstverständlich und schafft, wenn man so viel, Ungleichheit; und: dieser Durst wird belohnt. Der moralische Aspekt kann freilich auch bei äußerer Gleichheit zu „innerer Ungleichheit“ führen, wie Augustinus im „Gottesstaat“ deutlich macht. Im achten Kapitel des ersten Buches spricht er über den Unterschied zwischen tugendhaften und lasterhaften Menschen, ein Unterschied, der auch durch Gleichheit des Leidens nicht aufgehoben werden könne: „Denn die Ungleichheit der Leidenden bleibt auch bei Gleichheit der Leiden bestehen, und wenn auch der gleichen Marter unterworfen, ist Tugend und Laster doch nicht das gleiche. Denn wie im gleichen Feuer das Gold glänzt, der Schaum rußt und in der gleichen Dreschmaschine das Stroh zerstoßen, das Getreide gesäubert wird und wie sich die Ölhefe mit dem Öl nicht vermengt, obwohl sie durch den Druck der gleichen Kelter ausgepreßt wird, so erprobt, reinigt und klärt ein und dasselbe Geschick die Guten und verdammt, vernichtet und verscheucht die Bösen.“ Interessanterweise zeigt sich gerade an diesem Punkt einer neuen Grundlage für die Gleichheit eine neue Eintrittsstelle für Ungleichheit. Diese Tiefe der Ungleichheit ortet Augustinus auch bei Esau und Jakob.13 Wieder stoßen wir auf das Paradox, dass neue Eintrittsstellen für Gleichheit neue Eintrittsstellen für Ungleichheit mit sich bringen können. Augustinus selbst beschäftigt sich explizit mit dem schillernden Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit im 21. Buch des „Gottesstaates“: „Wie wunderbar zum Beispiel ist, wie man leicht einsieht, wenn man’s recht bedenkt, die Verschiedenheit des Gesichtes bei der unermeßlichen Zahl von Menschen und bei so großer Ähnlichkeit der Natur! Jeder hat ein anderes Gesicht, und dabei sind die Gesichter einander doch so ähnlich, daß man nur daran die Menschenarten von den übrigen Leibeswesen unterscheiden kann, und hinwieder einander so unähnlich, daß man nur daran die Einzelmenschen voneinander unterscheiden kann. Die wir also als gleich bezeichnen müssen, finden wir doch wieder ungleich. Merkwürdiger jedoch ist die Feststellung der Ungleichheit; denn die Gleichheit ist als eine Art selbstverständlicher Voraussetzung schon durch die gemeinsame Natur bedingt. Dennoch ist unser Staunen viel größer, wenn wir auf zwei Menschen stoßen, die einander so ähnlich sind, daß wir sie stets oder leicht miteinander verwechseln: so sehr gilt uns nur das Seltene für merkwürdig.“ Gleichheit wird hier als „natürlich“ dargestellt, wohl aufgrund des Menschseins und der Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie. Ungleichheit stellt sich uns als Ausdruck der Einzigartigkeit von Menschen dar. Ungleicheit wird „gemacht“, „errungen“, während Gleichheit die Ausgangsposition ist. Diese Ausgangsposition, so könnte man sagen, wurde nach christlichem Verständnis durch die Menschwerdung Gottes wieder hergestellt (was einerseits einen neuen Universalismus der Gleichheit durch die christliche Öffnung hin auf alle Menschen, andererseits neue Eintrittsstellen für Ungleichheit durch die Unterscheidung zwischen „christlich“ und „pagan“ mit sich brachte). Es bleibt das paradoxe Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit, das uns auch in diesem Band beschäftigt.

Erzeugt die Annahme natürlicher Gleichheit soziale Imperative? Tatsächlich beschäftigen uns in der Auseinandersetzung mit Gleichheit vor allem auch die sozialen Differenzen. Die Auseinandersetzung mit Gleichheit wird nicht um eine besondere Aufmerksamkeit auf neuralgische Punkte und Risikogruppen umhinkommen. Hier sind „Lackmustests“ für die Gleichheit zu finden. Der Aufbau dieses Bandes versucht diesen Risiken Rechnung zu tragen.

Der Band ist in vier Teile gegliedert: Begriffliche Grundlagen, erarbeitet von Stephan Gosepath, Gottfried Schweiger, Mario Wintersteiger und Clemens Sedmak bilden den ersten Teil, gefolgt von neuralgischen Punkten des Gleichheitsdiskurses mit Blick auf Altern (Anne Siegetsleitner), disability (Nicola Santamaria), sexuelle Orientierung (Stephanie Eldridge) und gender (Michaela Moser). Im dritten Teil kommen Anwendungen des Gleichheitsdiskurses zur Sprache, nämlich die europäische Rechtsprechung (Daniela Reitsamer) und eine Illustration am Beispiel der Bekleidungsfreiheiten (William Keenan). Der vierte Teil lässt über den binneneuropäischen Diskurs hinaus blicken, mit Beiträgen von Luis Sánchez über den Primat der Freiheit vor der Gleichheit in lateinamerikanischen Kontexten und von Jean Scrimgeour über das Südafrika nach der Apartheid.

Ein kurzer Überblick: Der Philosoph Stephan Gosepath gibt die Grundlinien des Verständnisses von Gleichheit wieder – was ist Gleichheit? In Bezug worauf kann von Gleichheit gesprochen werden? Was sind Eckdaten der Problemgeschichte? Auf diese Weise wird das Handwerkszeug für den Umgang mit Gleichheit an die Hand gegeben. Gottfried Schweiger, auch er Philosoph, rekonstruiert den Gleichheitsbegriff, indem er ihn in einen Zusammenhang mit dem Begriff der Anerkennung stellt. Das Denken Axel Honneths hat wichtige Impulse für das Verständnis von Gleichheit geliefert. Der Wert der Gleichheit kann nicht von der Anerkennung als gleich gelöst werden. Dies geschieht nicht nur auf einem persönlichen Niveau, sondern hat auch strukturelle, wohlfahrtstaatliche Konsequenzen. Schweiger illustriert das am Beispiel der Arbeit. Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt ist eine Erosion des Gleichheitsgedankens, mehr noch: Identitätszuschreibung allein durch Erwerbsarbeit bedroht menschliche Integrität. Der Leistungsmodus in der Erwerbsarbeit steht, wie Schweiger schreibt, in einem Spannungsverhältnis zur Gleichheitsidee des Wohlfahrtsstaates. Das zieht denn auch Überlegungen zu Umverteilung nach sich. Mario Claudio Wintersteiger, ein Politikwissenschafter, geht in seinem grundsätzlichen Beitrag der Ideengeschichte nach. Er rekonstruiert die Entstehung des Gleichheitsdenkens aus der Mythologie und den Wertvorstellungen der antiken und mittelterlichen Welt. Er kann einige Anhaltspunkte vor der Aufklärung finden, die deutlich machen, dass der Gleichheitsgedanke tiefer in der europäischen Geistesgeschichte verankert ist, als man mitunter annimmt. Clemens Sedmak zeichnet den „Stachel der Ungleichheit“ nach – Ungleichheit ist einerseits ein Ärgernis, andererseits Ausdruck des Respekts vor der Einzigartigkeit von Menschen; zwei Grundlagen für die Anerkennung von Gleichheit bietet der Beitrag an: Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit und das europäische Selbstverständnis des Menschen aufgrund von „Innerlichkeit“.

Anne Siegetsleitner setzt sich mit einem Aspekt der europäischen Gesellschaften auseinander, der angesichts der demographischen Entwicklung für den Gleichheitsdiskurs richtungweisend ist: Die Frage nach dem nichtdiskriminierenden Umgang mit älteren Menschen, die Frage nach der Gleichheit im Alter und im Altern. Als Philosophin skizziert Siegetsleitner die Conditio humana und Ansätze zu einer Phänomenologie des Alterns. Dann spricht sie die Frage nach Gleichheit und Würde im Altern an. Das Verständnis von Würde wird von ihr als Verankerung des Gleichheitsdiskurses positioniert. „Wie sich das Leben im Alter für die zunehmend ältere Bevölkerung in Europa gestalten wird, hängt nicht unerheblich davon ab, wie der Wert der Gleichheit die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen bestimmt.“ Nicola Santamaria, eine englische Theologin, zeichnet Konturen des disability-Diskurses nach; auch hier finden sich neuralgische Punkte des Gleichheitsdiskurses; die Europäische Union hat sich auf die Nichtdiskriminierung von Menschen mit Behinderungen verpflichtet; im Alltag zeigen sich Herausforderungen für diese Verpflichtung, etwa in der Wahl der Sprache, die „sticky labels“ produzieren kann oder auch in einer medizinischen Terminologie verfangen bleibt. Der Diskurs wird auch von Standards politischer Korrektheit geprägt. Des weiteren zeichnet Santamaria die Geschichte der disability-Bewegung nach, die ein soziales Modell von disability in seiner politischen Dimension verfolgt. Es wird sich zeigen, inwieweit die Alltagspraktiken mit dem öffentlichen Diskurs mithalten können. Stephanie Eldridge, eine junge englische Ethikerin, beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der operativen Bedeutung von Gleichheit in Bezug auf die Frage nach der sexuellen Orientierung; dabei geht sie in Fallstudien aus dem Vereinigten Königreich der Frage nach der Gleichstellung von Homosexuellen nach. Sie zeigt die Kontroversen, die sich rund um die einschlägigen Gesetze in Großbritannien entwickelt haben, im Zusammenhang mit IVF-Behandlung und dem Status von Lebensgemeinschaften. Die in diesen Debatten gezeigten Diskussionen zeigen, dass wir es mit „heißer Geschichte“ zu tun haben, mit einem Topos, an dem sich Wertehaltungen zeigen, die in Emotionen zum Ausdruck kommen. Die Möglichkeit des Ausdrucks dieser Emotionen ist wiederum ein wichtiges Vehikel für die Demokratie; so wird der gleiche Zugang zur öffentlichen Diskussion um Ungleichbehandlung zu einem demokratiepolitischen Gut. Die Armutsforscherin und Ethikerin Michaela Moser zeigt einen Lackmustest für Gleichheit – den Umgang mit Dynamiken der gender-Diskriminierung. Sie rekonstruiert die europäische Gleichstellungspolitik, um den Papieren Frauenrealitäten in Europa gegenüber zu stellen. Das Beispiel von Roma in der Slowakei zeigt die Realisierungslücke deutlich auf. Ebenso wie zwei weitere Beispiele aus Kopenhagen und Athen. Es gibt ihn, den europäischen Rand – und es gibt sie, die Frauen, die an den Rand gedrängt werden. Dass die soziale Ungleichheit in Europa wächst, ist kein Geheimnis. Frauen sind vielfach in diesen Ausgrenzungsdynamiken in besonderer Weise gefährdet. Gleichstellung allein, so wichtig sie ist, ist freilich nicht genug. Moser kommt auf die Frage nach Konzeptionen des Guten und des guten Lebens zu sprechen, die leitend sein sollten. „Flourishing“ kann hier zum Orientierungsbegriff werden, in dem sich europäische Werte verdichten und konkretisieren. Daniela Marielen Reitshammer schlägt die Brücke zur Anwendung und geht in einem rechtswissenschaftlichen Beitrag der Gleichheit im Lichte der europäischen Rechtsprechung nach. Sie rekonstruiert die Rechtsgrundlagen der Gleichheit um Unionsrecht und weist den Europäischen Gerichtshof als europäisches Höchstgericht mit Auslegungsmonopol aus. In den Mittelpunkt ihrer Darstellung rückt Reitshammer den Begriff der Diskriminierung. Dieser wird anhand von Diskriminierungsfällen in der Judikatur des europäischen Gerichtshofes verdichtet. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das Diskriminierungsverbot einen Pfeiler der europäischen Rechtskultur darstellt. Immer mehr Anlassfälle werden systematisch zu Diskriminierungsfällen gemacht. Philosophisch interessant ist freilich die Frage nach berechtigter bzw. rechtfertigbarer Diskriminierung, ein Thema, das Reitshammer auch angeht. William Keenan, ein Soziologe aus Nottingham, illustriert Gleichheit an einem Beispiel: am Wert kleiner Freiheiten, am Wert kleiner Ungleichheiten, wie man sagen könnte. Der Beitrag zeigt den Zusammenhang zwischen Gleichheit und Freiheit. Auf den ersten Blick mag man den Eindruck haben, dass hier ein Artikel aus der Art geschlagen ist; aber wenn man tiefer blickt, erkennt man den Zusammenhang zur Gleichheitsthematik – gewollt indirekt gehalten. William Keenan geht vom großen Wort der Freiheit aus, die sich aber auch in kleinen Alltagsfreiheiten zeigt. Interessanterweise sind diese Alltagsfreiheiten (die Freiheit, sich zu kleiden!) mit dem Ausdruck des Andersseins verbunden, mit dem Recht auf Ungleichheit. Anders gesagt: Die Anerkennung von Gleichheit führt zum Recht auf Individualität und damit auch zu einem Recht sekundärer Ungleichheit auf der Basis primärer Gleichheit. Teilweise schelmenhaft geht William Keenan dieser Dynamik nach und zeigt, dass die Bekleidungsfreiheit keineswegs nur als Nebenfrage angesehen werden muss. Gleichheit zeigt sich: In der Ungleichheit!

Luis Sánchez wirft einen Blick über den europäischen Gartenzaun und bringt den lateinamerikanischen Diskurs ein: Dabei zeichnet er im Rahmen der einschlägigen Befreiungsdiskurse den Vorrang der umkämpften und anzuerkennenden Alterität vor der Gleichheit aus. Der von ihm rekonstruierten Befreiungsethik geht es vor allem um die Anerkennung des Anderen als Anderen. Auf diese Weise unterscheidet sich eine Befreiungsethik, wie sie in lateinamerikanischen Kreisen beheimatet ist, von einer europäischen Diskursethik. Der Begriff der Gleichheit spielt vor allem im Ringen um die Anerkennung der nichteuropäischen Lebens- und Denkwelten eine Rolle, bleibt dem Begriff der Freiheit aber nachgeordnet. Daran schließt die südafrikanische Politikwissenschafterin Jean Srimgeour an – ihrem Beitrag wurde einiger Platz eingeräumt, vor allem auch deswegen, weil das südafrikanische Apartheidregime eine Negativfolie im Umgang mit Gleichheit darstellt. Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission war machtvoll und öffentlichkeitswirksam für die Idee der Gleichheit („promoting national unity“) eingetreten. Scrimgeour geht der Situation, zwanzig Jahre nach dem offiziellen Ende des Apartheidregimes, nach. Sie fragt nach den Ursachen der Zunahme gewalttätiger Proteste, die vor allem junge Südafrikaner involvieren. Die Erwartungen wurden hoch gesteckt, politische Versprechen abgegeben – und nicht erfüllt. Dadurch steigt nach einer Theorie Ted Gurrs die Bereitschaft zum Protest. Gebrochene Gleichheitsversprechen führen in Südafrika, so Scrimgeours Analyse, in die Gewalt. Gleichheit besteht zwar auf dem Papier, wirkt sich aber nicht in der ökonomischen Alltagsrealität der Menschen aus. Gleichheit braucht, so könnte man daraus schließen, einen „cash value“, eine Tangibilität – und vor allem: Eine Verhältnismäßigkeit zwischen Rhetorik und Versprechen auf der einen Seite und der Lebenswirklichkeit auf der anderen.

Der vorliegende Band oszilliert zwischen diesen beiden Polen: Diskurse mit ihren Rhetoriken und Versprechen, Lebenswirklichkeiten mit ihren Fragilitäten und Komplexitäten.

1 R. Williams, On being creatures. In: Ders., On Christian Theology. Oxford 2000, 63–78.

2 Ambrosius von Mailand, Exameron III, 12.

3 Leo d. Gr., Sermones. Sermo IV,3.

4 Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae XIX,4.

5 Vgl. Leo d. Gr., Sermones. Sermo XXI,1.

6 Ambrosius von Mailand, Exameron VI, 7.

7 Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae III, 1; XV, 5; XXXVIII, 2; XLIII, l; XLIX, 2.

8 Leo d. Gr., Sermones. Sermo XXIII, 3.

9 Vgl. Leo d. Gr., Sermones. Sermo XXVI, 6. An einer anderen Stelle spricht Papst Leo davon, dass unter den Christinnen und Christen „natürliche Gleichheit“ herrschen solle (Sermo XXXVII, 7).

10 Johannes Cassian, De institutis coenibiorum et de octo principalibus vitiis, 5,21.

11 Johannes Cassian, Collationes patrum, 18,16.

12 Heinrich Bacht (Hg.), Pachomius, Klosterregeln. St. Ottilien. 2. Auflage 2010.

13 Augustinus, Gottesstaat V,4.

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