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Gotteskindschaft

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Das unerreichte Ziel des Mensch-Seins in der Theologie Eugen Bisers

Wer in den Genuss kam, Eugen Biser als Universitätslehrer oder Prediger zu hören, der wird einen unvergesslichen Eindruck von diesem einzigartigen Theologen erhalten haben. Obwohl er in seinem geradezu biblisch langen Leben zahlreiche Schwierigkeiten und herbe Enttäuschungen hinnehmen musste und seit jungen Jahren an einer Verletzung aus dem Zweiten Weltkrieg leidet, waren und sind all seine Äußerungen und Taten stets von einem ungebrochenen Optimismus getragen. Während in den jüngeren Generationen (innerhalb und außerhalb der Kirche) sich zunehmend rückwärtsgewandter Fundamentalismus, Stagnation, Resignation oder auch nur Gleichgültigkeit breit machen, richtet sich die Hoffnung des Neunzigjährigen gerade und ausdrücklich auf die Zukunft. Seine Gedanken sind stets von einer visionären Kraft beseelt.

Wenn man sich nun fragt, woher dieser Mann von eher kleiner Körperstatur seine schier unerschöpflich anmutenden Energien und Hoffnungen nimmt, würde man von ihm selbst wohl unmittelbar eine ganz eindeutige Antwort bekommen: Eugen Biser schöpft die Kraft seiner Lebendigkeit aus dem christlichen Glauben. Für uns ist aber das Geheimnis dieses Mannes damit noch nicht ganz gelöst, denn wir alle kennen bekennende Christen, denen wir nicht jenes Maß an uneingeschränkter Bewunderung entgegenbringen können wie Eugen Biser. Es muss daher wohl an seinem besonderen Verständnis des Christentums liegen und an der Weise, wie er dieses zu vermitteln und vorzuleben weiß. Von daher stellt sich die Frage, wie Eugen Biser als Theologe das Christentum theoretisch und existenziell einlöst.

Wer Eugen Bisers Faszination verstehen will, ist daher auf sein theologisches Werk zurückverwiesen. Jedoch ist das leichter gesagt als getan. Denn von ihm gibt es Hunderte von theologischen Büchern und Beiträgen, von den vielen spontan gehaltenen mündlichen Vorträgen und Predigten ganz abgesehen. Er ist damit einer der produktivsten Autoren unserer Zeit. Trotz der schier unüberschaubaren Fülle seiner Schriften ist sein Denken dennoch nicht unübersichtlich. Von seinen frühesten Arbeiten an, seiner Heidelberger Doktorarbeit über die Religionskritik Friedrich Nietzsches, bis heute zieht sich ein tragendes Grundanliegen gleichsam wie ein roter Faden. Als ob er sein Gesamtwerk wie eine Symphonie mit verschiedenen Themen und Motiven komponiert hätte, die sich am Schluss in einer Coda zu einem überwältigenden Höhepunkt steigern, stellen seine Bücher aus den letzten Jahren eine Art konzentrierte Synthese von theologischen Bausteinen aus fast einem Jahrhundert intensivem und engagiertem Nachdenken dar.

Seit längerer verfolgt Eugen Biser ein Projekt, mit dem er sein theologisches Werk abschließend zusammenfassen und krönen möchte. Er arbeitet an einer theologischen Trilogie, also einem Werk aus drei Teilbänden, in denen seine Deutung des Christentums im Zusammenhang dargestellt werden soll. In der Theologie weckt der Gedanke an eine Trilogie natürlich sofort die Assoziation zum zentralen christlichen Glaubensgeheimnis der Trinität, dem Glauben daran, dass der christliche Gott eine lebendige Einheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist ist. Dementsprechend verhält es sich auch im Falle von Eugen Bisers Trilogie: Der erste Band ist Gott als Vater gewidmet und trägt den Titel „Gotteskindschaft“, der zweite Band soll Jesus Christus als den inwendigen Lehrer des Menschen zum Inhalt haben und soll dementsprechend den Titel „Christomathie“ haben, der abschließende Band wird „Geistesgegenwart“ heißen und die Bedeutung des Heiligen Geistes für Gegenwart und Zukunft des Christentums zum Thema haben. Es entspricht der inneren Logik einer Trilogie, dass der erste Baustein gleichsam das Fundament darstellt, auf dem alles Weitere aufgebaut wird. Von daher ist es naheliegend und gerechtfertigt, im Thema „Gotteskindschaft“ den inneren Kern von Eugen Bisers Theologie des Christentums zu sehen. In seinem 2007 erschienenen Buch „Gotteskindschaft. Die Erhebung des Menschen zu Gott“ stellt Eugen Biser dies auch ausdrücklich so dar.1

Jeder Bibel-Leser und Kenner der Geschichte der christlichen Spiritualität kennt natürlich den Gedanken der Gotteskindschaft: „Seht doch, welch große Liebe der Vater zu uns hegt, dass wir Gottes Kinder nicht nur heißen, sondern es sind“ (1 Joh 3,1) – so heißt es an der klassischen Stelle im Ersten Johannesbrief. Mit Ausnahme einiger mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Mystiker (Meister Eckhart, Jacob Böhme) hat aber kaum ein Theologe den Gedanken der Gotteskindschaft so sehr ins Zentrum der Theologie gestellt und von daher den Sinn des Christentums erschlossen, wie Eugen Biser es macht. Wie kommt er nun dazu, diesen alten und in der Theologiegeschichte nur mehr oder weniger verfolgten Gedanken so sehr zu aktualisieren und in die Mitte zu rücken?

Um das nachvollziehen zu können, muss man zu den Anfängen des theologischen Denkens von Eugen Biser selbst zurückgehen. In einer Zeit vor dem Aufbruch des Zweiten Vatikanischen Konzils, wo dies alles andere als selbstverständlich war, hat sich Eugen Biser als junger Priester und Religionslehrer ebenso ausgiebig wie fundiert mit den scharfen Kritikern des Christentums auseinandergesetzt, allen voran mit jenem Philosophen, der sich selbst unumwunden als den Antichristen bezeichnet hat, mit Friedrich Nietzsche. Dabei ist es für Eugen Biser und sein Selbstverständnis als Christ charakteristisch, dass er die bisweilen polemisch zugespitzte Kritik Nietzsches am Christentum nicht seinerseits aus der Warte des Christentums apologetisch-polemisch zurückwies, wie das zu jener Zeit im katholischen Milieu üblich war, sondern, ganz dem christlichen Gedanken „Liebe deine Feinde“ gemäß, offen und sachlich auf die Kritik eingegangen ist und vorurteilslos frei nach ihren Ursachen und Wurzeln gefragt hat. Dabei konnte er die Entdeckung machen, dass vieles was Nietzsche am Christentum kritisiert, auch aus einer genuin christlichen Sicht selbst zu kritisieren wäre. Die Auseinandersetzung mit dem Christentumskritiker Nietzsche schärft beim christlichen Theologen Eugen Biser den Blick dafür, dass im Laufe der Christentumsgeschichte vieles als christlich verkauft worden ist, was eigentlich das ursprünglich helle christliche Gottesbild verdunkelt und geradezu in sein Gegenteil pervertiert hat. In einer selbstkritisch auf die Christentumsgeschichte bezogene Leseweise kann Biser entdecken, dass der Zerstörer des Christentums Friedrich Nietzsche auch als ein Erneuerer des Christentums gelesen werden kann, wie dies aus einem berühmten Buchtitel Eugen Bisers hervorgeht („Friedrich Nietzsche. Zerstörer oder Erneuerer des Christentums?“). Gerade weil Nietzsche die lebensverneinenden Elemente in der Geschichte des Christentums so radikal zur Sprache bringt, kann er den Blick auf den ursprünglichen Sinn des Christentums frei machen. Eugen Biser als theologischer Interpret Nietzsches kann diesen überraschenden Untergrundeffekt von Nietzsches Generalangriff auf das Christentum freilich seinerseits viel deutlicher sehen, als dies dem Autor Nietzsche selbst möglich war, da dieser seinen ausdrücklichen Intentionen nach gerade nicht an einer Freilegung des ursprünglichen Christentums arbeitete, sondern im Gegenteil dessen endgültige Destruktion im Sinn hatte. So begegnen uns im Werk Nietzsches zahlreiche Elemente, die er oberflächlich gesehen aus christentumsfeindlicher Intention ins Feld führt, die sich aber überraschenderweise bei genauerer theologischer Betrachtung eigentlich als genuin und ursprünglich christliche Phänomene erweisen.

Auf frappierende Weise ist dies bei einem Thema der Fall, das eigentlich zu den Grundphänomenen des Christentums gehört, im Laufe der Christentumsgeschichte aber verdrängt worden ist und erst bei Nietzsche wieder in sein volles altes Recht eingesetzt wird. Ich meine das Phänomen des „Kind-Seins“, das eigentlich, da der christliche Gott sich zuerst als das neugeborene Kind in Bethlehem geoffenbart hat, für jede christliche Theologie das A und O sein müsste, aber fatalerweise erst beim Christentumszerstörer Nietzsche eine zentrale Stelle in einem philosophischen System einnimmt.

Normalerweise denkt man bei Nietzsche an den „Übermenschen“ und assoziiert diesen mit dem Monster der „blonden Bestie“. Wer aber bei Nietzsche in jener Schrift „Also sprach Zarathustra“ genauer nachliest, wie der Übermensch seinem Erfinder nach bestimmt sein soll, der erlebt eine Überraschung: Jene Seinsweise, die dem Übermenschen nach Nietzsche am meisten und allein entspricht, ist das Sein des Kindes. Der Zarathustra-Autor macht dies in der berühmten Gleichniserzählung „Von den drei Verwandlungen“ deutlich. Drei Verwandlungen habe der Mensch individuell und die Menschheit als Gattung durchzumachen: vom Kamel über den Löwen bis hin zum – Kind! Das Kind-Sein erscheint bei Nietzsche als die Spitze der menschlichen Möglichkeiten, die selbst noch die Stärke und den Machtwillen des Löwen hinter sich lässt. Wie Nietzsche das meint, ist leicht aus den von ihm verwendeten Bildern zu entschlüsseln. Das die schweren Lasten durch die Wüste tragende Kamel ist ein Sinnbild für den unter dem äußeren Diktat einer lebensfeindlichen und erdrückenden Moral stehenden und zerbrechenden Menschen in einer ethischen Heteronomie. Daraus befreit sich der Mensch in einem ersten und wichtigen Schritt, durch den er seine moralische Autonomie gewinnt. Im Schrei des Löwen manifestiert sich der Mensch, dem nicht mehr gesagt wird „du musst“, sondern der aus eigener Kraft heraus sagt „ich will“. Doch offenbar ist für Nietzsche mit dem autonomen Machtwillen noch nicht die höchste Freiheitsstufe für den Menschen erreicht. Dazu bedarf es der dritten und abschließenden Verwandlung des Löwen zum Kind. Das Kind-Sein ist deshalb für Nietzsche der Inbegriff menschlicher Freiheit, weil das Kind ohne Grund frei spielt, ohne damit eine Funktion in den gesellschaftlichen Strukturen einzunehmen, ohne damit wirtschaftliche Gewinn-Zwecke zu verfolgen, rein aus einer im Grunde ästhetisch motivierten Freude am Sein und Leben heraus. Das spielende Kind bejaht das Leben, so wie es ist, und freut sich daran. Es ist frei von allen gesellschaftlichen Zwängen und selbst auferlegten Erfolgsmaximen.

Es bedurfte mehr als ein Jahrhundert, bis entdeckt wurde, dass Nietzsche mit seiner Deutung des Kind-Seins als Erfüllung menschlicher Freiheitsmöglichkeiten im Grunde genommen einen Gedanken artikuliert hat, der für den christlichen Glauben ganz zentral ist. Von Nietzsches Aussagen über die philosophische Bedeutung des Kind-Seins ausgehend erscheint auch die Tatsache in ganz neuem Licht, dass es zuerst der christliche Gott war, der sich durch seine Geburt aus Maria als Kind geoffenbart hat. In dieses von Nietzsche mit ermöglichte neue Licht wird diese zentrale christliche Glaubensbotschaft von Gott als Kind erst in der Theologie Eugen Bisers gerückt.

Nach Eugen Biser ist die Gotteskindschaft der Spitzenbegriff der christlichen Anthropologie, ja der Anthropologie überhaupt. Kind-Sein ist nach Eugen Biser der Inbegriff einer höchstmöglichen Freiheit, denn das Kind ist gesellschaftlich noch nicht auf eine bestimmte Rolle fixiert und festgelegt, wie dies beim Erwachsenen der Fall ist. Beim Kind sind noch alle Möglichkeiten offen. Von daher gleichen die Kinder jenen Menschen, die von der Gesellschaft diskriminiert und ausgestoßen werden, denn auch diesen Menschen wird eine bestimmte Funktion und Rolle in der Gesellschaft verweigert. Eugen Biser entdeckt einen tieferen inneren Zusammenhang darin, dass sich der biblische Jesus in seiner Umwelt den Ausgestoßenen, Kranken, Armen und den Kindern gleichermaßen zugewandt und ihnen das Evangelium vom Reich Gottes verkündet hat. Denn all diesen Menschen ist es gemeinsam, dass sie außerhalb einer gesellschaftlichen Prägung leben und in diesem Sinne mehr an Freiheit verwirklichen, als die etablierten Erwachsenen.

Im Hinblick auf diese Zusammenhänge kann Biser auch gleich ein mögliches Missverständnis seiner Theologie der Gotteskindschaft eliminieren: Es geht dabei keineswegs um eine Verniedlichung oder Infantilisierung des Menschen, sondern um eine Erhebung des Menschen in seine höchsten Freiheitsmöglichkeiten, nämlich in seine Möglichkeiten, alles werden zu können.

Wenn Eugen Biser in seinem Buch über die Gotteskindschaft im Untertitel von der „Erhebung des Menschen zu Gott“ spricht, so markiert er damit auch eine wesentliche Differenz zwischen seiner Theologie der Gotteskindschaft und der Philosophie des Kind-Seins bei Friedrich Nietzsche. Während es bei Nietzsche mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt wird, dass der Mensch sich selbst auf die Höhe des freien Kind-Seins verwandelt, es aber dabei nicht reflektiert wird, ob der Mensch aus eigener Kraft dazu überhaupt in der Lage ist, sagt Eugen Biser ganz eindeutig, dass die Verwandlung des Menschen zum Kind Gottes nicht des Menschen eigenes Werk sein kann. Da die Freiheit des Gotteskindes das Ziel des Mensch-Seins ist, als solches aber noch keineswegs verwirklicht wurde, wie die vielen politischen, moralischen und religiösen Knechtsverhältnisse hinlänglich bezeugen, in denen sich der Mensch auch heute noch befindet, kann der Mensch diese höchste Freiheitsstufe nicht selbst hervorbringen. Er muss vielmehr dahin „erhoben“ werden, was nur von jener Freiheit selbst bewirkt werden kann, auf die hin der Mensch ausgerichtet ist. Die absolute Freiheit des Kind-Seins aber ist identisch mit jener absoluten Freiheit, die Gott selbst ist. Die Erhebung des Menschen zur Gotteskindschaft kann daher nur durch Gott selbst in seiner Freiheit vollzogen werden. Das christliche Heilswerk, wie es im Leben Jesu und im Neuen Testament bezeugt ist, stellt sich für Eugen Biser fundamental als dieser Prozess der Erhebung des Menschen in die Freiheit der Gotteskindschaft dar. Der Gottessohn Jesus Christus gewinnt dabei die Bedeutung, dass Gott in ihm den Menschen jene Freiheit des Gotteskindseins als Zielbestimmung menschlichen Seins nicht nur ansichtig gemacht hat, sondern auch vermittelt und geschenkt hat. Das erste vollkommene Gotteskind Jesus Christus ist daher nicht nur ein beliebiges Modell für die Gotteskindschaft als das in der Zukunft zu erreichende Ziel des Mensch-Seins, sondern deren ebenso einziges wie notwendiges Prinzip.

Diese Bedeutung Jesu als prinzipieller Vermittler der Gotteskindschaft ergibt sich dabei nach Eugen Biser primär aus dem zentralen Inhalt der Gottesverkündigung Jesu. Jesus hat Gott in radikaler Eindeutigkeit als die Liebe verkündigt und als den Vater beim Namen genannt. Dadurch wurde Jesus nach Eugen Biser zum „größten Revolutionär der Religionsgeschichte“. Denn während alle anderen Offenbarer und religiösen Traditionen Gott als Wesen zeigten, das für den Menschen Gegenstand von Liebe und Furcht zugleich war, hat Jesus diese Ambivalenz im Gottesbild irreversibel durch die Absolutheit der Liebe Gottes überwunden. Nach Jesus braucht und darf Gott nicht mehr Anlass für Furcht und Angst des Menschen sein, sondern im Gegenteil die Zusage dessen, dass der Mensch radikal und unwiderruflich in seinem Sein gewollt und angenommen ist. Erst in dieser Gewissheit der liebenden Annahme durch Gott kann der Mensch sein eigenes geschöpfliches Sein voll und ganz selbst annehmen und damit frei er selbst sein. Das freie Selbstsein des Menschen setzt daher die Entdeckung Gottes als des liebenden Vaters unbedingt voraus, wie sie von Jesus Christus geleistet worden ist. Nur durch die Offenbarungsleistung Jesu Christi kann der Mensch daher das werden, was er sein soll, nämlich Kind Gottes. Die Erhebung des Menschen zur Gotteskindschaft setzt den Glauben an Jesus Christus voraus, oder – anders gesagt: Die Erhebung des Menschen zur Gotteskindschaft ist der tiefere und letztliche Sinn des Glaubens an Jesus Christus. Der christliche Glaube ist dann verdunkelt und pervertiert, wenn er dieser hohen Zielsetzung nicht mehr dienen kann und den Menschen zurück in jene alte Knechtschaft führt, aus der er ihn eigentlich befreien soll.

Mit diesem Gedanken ist der tiefere Grund dafür erreicht, warum nach Eugen Biser Zukunft der Menschheit und christlicher Glaube unzertrennbar miteinander verbunden sind. Auf dem geschichtlichen Weg zur Höhe der Gotteskindschaft war und ist der Mensch ebenso gefährdet wie der christliche Glaube und von den düsteren Abgründen des Versagens bedroht. Ebenso, wie der Mensch häufig seine Zielbestimmung der Gotteskindschaft verfehlt hat und in tierisch brutale Barbarei zurückverfallen ist, hat auch der Glaube in seiner Geschichte seine Bestimmung allzu oft verraten, den Menschen in die Freiheit der Gotteskindschaft zu führen. Die prinzipielle Bedeutung, die Eugen Biser dem christlichen Glauben für eine Freiheitszukunft der Menschheit zuspricht, darf also keineswegs als Grund zu Selbstüberschätzung oder Hochmut missverstanden werden. Geradezu das Gegenteil ist der Fall. Im Blick auf seine eigentliche Sendung als Prinzip der Gotteskindschaft muss das Christentum ein hohes Potential an Selbstkritik entfalten. Nur wenn das Christentum sich ausdrücklich und radikal von seinen vergangenen und gegenwärtigen Fehlern distanziert, kann es sich so weit reinigen, dass es in der ebenso schwierigen wie gefährlichen Gratwanderung des Menschen auf dem Weg zum Gipfel der Gotteskindschaft diesen so sachte, behutsam und liebevoll führt, dass der Mensch in dieser für ihn so ungewohnten und unsicheren Höhe nicht verletzt wird oder gar abstürzt. Gerade aus seiner Urbestimmung als Weg zur Gotteskindschaft heraus muss der christliche Glaube erkennen, dass er umso sensibler und geradezu zart mit dem Menschen umgehen muss, je höher er ihn Gott entgegenführen will. Das Christentum der Zukunft muss, wie Eugen Biser im Anschluss an Kant sagt, seine unter Moral und Dogmatik verschüttete „Liebenswürdigkeit“ wieder entdecken und den Menschen neu bekannt machen.

Um diese Position der Führung in der Erhebung des Menschen zur freien Höhe der Gotteskindschaft überhaupt legitimieren zu können ist nach Eugen Biser vom Christentum eine „glaubensgeschichtliche Wende“ zu leisten, wie sie katholischerseits mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zwar eingeleitet, aber noch lange nicht endgültig durchgesetzt wurde. Die „Freiheit eines Christenmenschen“ muss zum Prinzip von Theologie und kirchlicher Wirklichkeit werden: Konkret erforderlich auf dem Weg zur Gotteskindschaft ist daher eine Wende vom Gehorsams- zum Verstehensglauben, vom Bekenntnis- zum Erfahrungsglauben, vom Leistungs- zum Verantwortungsglauben, vom Gegenstands- zum Innerlichkeits- und Identitätsglauben. Eugen Bisers zukunftsgerichtete Vision der Gotteskindschaft wird daher zu einem Korrektiv gegenwärtiger Theologie, gegenwärtigen Glaubens und gegenwärtiger kirchlicher Wirklichkeit.

Im Zusammenhang mit der prinzipiellen Bedeutung der Gestalt Jesu Christi für die Erhebung zur Gotteskindschaft ergibt sich freilich ein schwerwiegendes Problem, mit dem sich schon Gotthold Ephraim Lessing unter dem Titel „der garstige Graben“ ausgiebig beschäftigt hat: Wie können Menschen, die Jesus von Nazareth nicht wie die Jünger persönlich begegnet sind, überhaupt seiner Offenbarungsleistung teilhaftig werden, erst recht zweitausend Jahre nach seinem Tod? In seiner Antwort auf diese Frage erweist Eugen Biser den tieferen Sinn eines ebenso zentralen wie häufig missverstandenen Datums des christlichen Glaubens, nämlich des Glaubens an die Auferweckung Jesu von den Toten. Nach Eugen Biser hat diese für das Christentum identitätsstiftende Glaubensannahme keine im physikalischen Sinn zu verstehende Bedeutung, sondern einen tieferen spirituell-mystischen Sinn. Jesus Christus ist – so Eugen Biser – in die Herzen der Gläubigen hinein auferstanden. Er lebt fort in der Weise der Einwohnung im Inneren des Menschen, als der „inwendige Lehrer“ des Menschen, wie Eugen Biser in seiner „Christologie von Innen“ im Anschluss an die mittelalterliche Tradition sagt. In dieser mystischen Präsenzweise im Inneren des Gläubigen kann Jesus Christus den Grundbezug des Menschen zum liebenden Vatergott in noch viel höherem Maße bewirken als durch seine äußere Präsenz in der Mitwelt der Jünger. Durch diese Einwohnung des Auferstandenen verliert der Glaube an den liebenden Vatergott den Charakter einer rein äußerlichen Botschaft und wird zu einem lebendigen inneren Gottesverhältnis des Menschen.

Wenn sich die Einwohnung des auferstandenen Christus im Menschen zur Intimität einer mystischen Einung steigert, verschwindet langsam die Differenz zwischen Jesus Christus und dem Gläubigen, ganz gemäß dem paulinischen „nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“. In der von der Auferstehung bewirkten Einwohnung Jesu Christi im Herzen der Gläubigen ist der tiefere Grund dafür verborgen, dass nicht nur der Gottessohn Jesus Christus das Gotteskind ist, sondern dass in jedem Menschen die Potenzialität zur Gotteskindschaft eröffnet ist. Durch die Einwohnung Jesu als des inwendigen Lehrers, die „Christomathie“ kann der Mensch so mit Christus und seinem Bezug zum göttlichen Vater eins werden, dass er selbst „christusförmig“ wird, dass er schließlich selbst zum Sohn Gottes wird. Ähnlich wie Meister Eckharts Gedanke der Gottessohnschaft des Menschen birgt auch Eugen Bisers Theologie der Gotteskindschaft in der letzten Konsequenz die Möglichkeit, dass der Mensch im Verlauf eines sich in seinem Inneren ereignenden mystischen Prozesses so sehr von Gott auf dessen Höhe erhoben wird, dass er schließlich selbst über alles Kreatürliche hinaus mit Gott eins wird. Auch wenn ich dies bei Eugen Biser nirgends so direkt gelesen habe, so drängt es sich mir als das letzte Potenzial seiner Theologie der Gotteskindschaft doch auf: Die durch Jesus Christus innerlich ermöglichte Gotteskindschaft intendiert – so unerhört scheint es mir zu sein – letztlich die Vergöttlichung des Menschen. Höher kann vom Menschen wohl kaum gedacht werden, als es in der Theologie der Gotteskindschaft geschieht!

Die Annahme der Gotteskindschaft als Spitzenbegriff der Anthropologie ist für Eugen Biser aber nicht nur eine neue und zugleich ursprünglich christliche Weise, vom Menschen zu denken und zu sprechen. Immer wieder macht Biser darauf aufmerksam, dass damit auch eine ganz neue und dem Hauptstrom der abendländischen Kultur gegenüber andersartige Weise einhergeht, nach dem Menschen zu fragen. In der klassischen Theologie und Philosophie wurde primär die Frage gestellt, „was der Mensch ist“, prominent etwa in Kants Frage „Was ist der Mensch?“. Demgegenüber erkennt Eugen Bisers „Neue Theologie“ der Gotteskindschaft, dass diese Art der Frage dem Menschen eigentlich nicht angemessen ist, weil sie auf ein gleichbleibendes Wesen zielt. Sie kann nicht nur keine angemessene Antwort finden, sondern ist von vornherein schon falsch gestellt. Da der Mensch keine fertige Wesensbestimmung besitzt, sondern vielmehr sich ständig auf dem Weg befindet, die in ihm angelegten Möglichkeiten bis hin zur Freiheit der Gotteskindschaft zu verwirklichen, kann man ihn nicht angemessen mit der Frage „Was ist der Mensch“ erkennen, weil der Mensch eben kein abgeschlossenes Wesen hat, das sich definieren und auf den Begriff bringen ließe. Dem Menschen als Wesen in ständiger Entwicklung und Seinssteigerung bis hin zur Gotteskindschaft in viel höherem Maße gerecht wird jene Frage, die schon der biblische Schöpfergott an das erste Menschenpaar im Paradies richtet: „Adam, wo bist du?“. Metaphorisch gesprochen befindet sich der Mensch in seiner individuellen und die Menschheit in ihrer kollektiven Geschichte wie auf einem Seil, das zwischen den Niederungen der dunklen Tierheit und den luftigen Höhen der Gotteskindschaft gespannt ist. Er kann, wie es die Geschichte zeigt, immer wieder in die Brutalität zurückfallen, aber ist auch zu selbstloser Hingabe und Liebe fähig. Gerade als Wesen der Freiheit der Realisierung von unbegrenzt vielen Möglichkeiten kann dem Menschen daher nicht die Frage „Was ist der Mensch?“ gerecht werden, sondern nur die biblisch bezeugte Frage „Wo ist der Mensch?“. Von seiner Theologie der Gotteskindschaft her bestimmt Eugen Biser deswegen den Menschen – ein Wort Robert Musils aufgreifend – als „Möglichkeitsmenschen“. Die Theologie der Gotteskindschaft erzwingt so eine Erneuerung, ja geradezu eine Wende der Anthropologie, der klassischen philosophischen Lehre vom Menschen. Dem als Kind Gottes verstandenen Menschen kann man nicht gerecht werden, wenn man deduktiv oder induktiv abstrakt bestimmt, was das Wesen des Menschen sei und dann von daher moralisch deduziert, was der Mensch zu sein und zu tun habe. Der Würde der Gotteskindschaft wird nur eine Anthropologie gerecht, die den Menschen nicht als fertiges Wesen, sondern von der Freiheit seiner Werdemöglichkeiten her in den Blick nimmt.

In seinem Werk hat Eugen Biser gewaltige Anstrengungen unternommen, eine solche, den Ansprüchen der Gotteskindschaft genügende, neuartige Anthropologie grundzulegen und zu entfalten. Leider sind diese seine weittragenden Entwürfe einer „Modalanthropologie“, etwa in seinem auf die spätere Theologie der Gotteskindschaft hinarbeitenden Buch „Der Mensch. Das uneingelöste Versprechen“ weder von der Theologie noch gar von der Philosophie inzwischen ihrer Bedeutung entsprechend wahrgenommen oder gar rezipiert worden.

Eingangs wurde gesagt, dass Eugen Biser seine Theologie der Gotteskindschaft abschließend im ersten Teil seiner späten Trilogie zusammengefasst hat. Im Laufe der Überlegungen wurde deutlich, wie sehr seine diesbezüglichen Gedanken mit dem zweiten, Jesus Christus gewidmeten Teil der Trilogie verzahnt sind, da die universale Verwirklichung der Gotteskindschaft prinzipiell mit der Einwohnung des Auferstandenen als inwendiger Lehrer im Herzen der Gläubigen, also mit der „Christomathie“ verknüpft ist. Wie verhält es sich nun mit dem dritten Teil der Trilogie, der „Geistesgegenwart“? Den Zusammenhang zwischen Gotteskindschaft und Glauben an den Heiligen Geist stellt Eugen Biser her, indem er dafür auf die Theologie eines mittelalterlichen Autors zurückgreift, nämlich auf die Gedanken zur Trinität des Kalabreser Abtes Joachim von Fiore († 1202). Dass dieser Autor gerade für diese Gedanken kirchlich als Ketzer verurteilt wurde, scheint Eugen Biser nicht davon abzuhalten, sich seine Gedanken anzueignen.

Joachim von Fiore dachte die Trinität nicht nur als der Geschichte und der Welt enthobene, zeitfreie Wirklichkeit in Gott, sondern übertrug den Gedanken der Trinität Gottes auch auf den Ablauf der Geschichte in der Welt, in der sich die Trinität gleichsam in zeitlicher Abfolge spiegelt und entfaltet. So unterschied er zwischen einem Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Diese Zeitalter sollten einander innerweltlich in geschichtlicher Sukzession ablösen. Auf ein Zeitalter des Vaters, das ein Zeitalter des Gesetzesgehorsams ist, folgt das Zeitalter des Sohnes, das im Zeichen der Liebe steht, und schließlich das Zeitalter des Heiligen Geistes, das ganz von der Freiheit geprägt ist. Joachim von Fiores Vision eines geschichtlichen Zeitalters der Freiheit des Heiligen Geistes integriert Eugen Biser nun als ein pneumatologisches, d.h. auf den Heiligen Geist bezogenes, Element in seine Theologie der Gotteskindschaft. Die Erhebung zur Gotteskindschaft ist nach Biser zugleich die Verwirklichung für jene Freiheit, für die trinitätstheologisch der Heilige Geist steht. Dabei ist es entscheidend, dass Eugen Biser diese Freiheitssituation nicht als eschatologischen, also jenseits von Raum und Zeit, nach dem Jüngsten Gericht eintretenden Zustand denkt, nein, sondern als Phase, die in der Geschichte Wirklichkeit werden soll. Die Gotteskindschaft soll nicht Gegenstand einer Vertröstung des Menschen auf ein Jenseits sein, sondern in Zeit und Gegenwart anbrechen, als die Freiheit des Heiligen Geistes, eine Freiheit, die nicht mehr an Gesetz und Institution gebunden ist. Dieser Glaube an das geschichtliche Wirken des Heiligen Geistes in unserer Zeit macht Eugen Biser zu einem sensiblen Zeitbeobachter und Zeitdiagnostiker. Keine Entwicklung in der Politik, Gesellschaft und Kunst der Gegenwart wird von ihm ignoriert, sondern alles Zeitgeschehen wird von ihm mit Zartheit und zugleich visionärer Kraft auf das Anbrechen der Gotteskindschaft hin durchleuchtet und orientiert. Sein Gedanke einer in der Freiheit des Heiligen Geistes gewirkten sukzessiven inneren Vergegenwärtigung der Gotteskindschaft in Zeit und Geschichte unserer Welt versetzt ihn seinerseits in die Freiheit, auch dort die Zukunft der Gotteskindschaft zu entdecken, wo sie mancher konservative Christ nicht nur nicht vermuten, sondern sogar ausschließen würde. Weil der Mensch auf die Erhebung zur Gotteskindschaft hin unterwegs ist, besteht seine Zukunft in der Weite einer Freiheit, die der geistgewirkten Gegenwart Gottes keine Grenzen mehr zu setzen braucht. Welch eine Vision!

Die Mitte des Christentums

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