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8. Der christliche Begriff des Gesetzes
ОглавлениеUnter den Bereichen, die das Christentum unbeachtet ließ, weil sie ihrer Zielsetzung nicht entsprachen, verdient der Bereich des Rechts einen vorzüglichen Platz.23 Das Christentum, so formulierte im 19. Jahrhundert der französische Historiker Fustel de Coulanges, ist „die erste Religion, die nicht beanspruchte, dass das Recht von ihr abhängt“.24 Ganz im Gegenteil: das Christentum begnügte sich damit, die traditionelle Moral, das, was C. S. Lewis die „großen Platitüden“ nannte, zu bewahren. Man kann diese Haltung allerdings auch als Grundausstattung für das Überleben der Menschheit, als deren survival kit, würdigen, wie sie beispielsweise auch im Dekalog formuliert ist.
„Tue das Gute, meide das Böse!“ (Ps 34,15; zitiert in 1 Petr 3,11; angespielt in Röm 11,9) ist eine Formel, die uns wegen ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit oft verlegen schmunzeln lässt. Denn es wird ja nicht gesagt, was das Gute ist, das da anzustreben ist, und was das Böse ist, das gemieden werden soll. Viele sind deshalb versucht, präzise sittliche Anweisungen einzufordern. Als „Gutmensch“ tituliert zu werden, ist heutzutage nicht unbedingt ein Kompliment. Gleichwohl eröffnet diese Unbestimmtheit einen Raum der Freiheit. Die inhaltliche Unbestimmtheit der Formel ist die Kehrseite jenes Vertrauens, das Gott dem Menschen entgegen bringt. Denn grundsätzlich ist der Mensch dazu imstande, auf der Grundlage jener Fähigkeiten, die ihm von seinem Schöpfer verliehen wurden, die besten Wege für sein Handeln aufzuspüren. Gott hat den Menschen mit der Fähigkeit ausgestattet, das Gute vom Bösen zu unterscheiden, mag dieses Vermögen nun „praktische Vernunft“, „Gewissen“ oder was auch immer heißen. Gott muss nicht im Einzelnen festlegen, was jeweils zu tun ist. Eher schon ist es seine Aufgabe, unserem sittlichen Handeln mit seiner Gnade beizustehen. Der heilige Augustinus hat dies in einer wunderbar prägnanten Formel so ausgedrückt: „Gib, was du befiehlst und dann befiehl, was du willst“ (da quod iubes et iube quod vis).25
All dies setzt ein bestimmtes Verständnis voraus, wonach sich das Göttliche nicht in erster Linie als „Gesetzgeber“ offenbart, wie dies beispielsweise im Islam der Fall ist. Das berühmte Schreckgespenst „Anwendung der Sharia“ mag dabei noch nicht einmal das Schlimmste sein. Denn – und dieses Argument wird oft vorgebracht – als eine menschliche Unternehmung ist die Sharia vielgestaltig. Und weil dies immer schon der Fall war, ist die Sharia weiterhin offen für unterschiedliche Deutungen – darunter gewiss auch solche, die freundlicher sind als jene, welche die radikalen Islamisten vertreten. Doch ist auch deren Argumentation nicht vollständig aus der Luft gegriffen. Denn hinter jedem konkreten Rechtssystem, hinter jedem Versuch von Menschen, Recht wirksam zur Geltung zu bringen, steht letztendlich die Vorstellung von einer göttlichen Gesetzgebung (šarʿ). Das aber heißt von Gott anzunehmen, dass er vermittels des Koran und durch das Beispiel und die Worte seines Propheten der einzige legitime Gesetzgeber ist. Er ist der einzige, der dem Volk sagen kann, was es zu tun hat; er ist der einzige, der absoluten Gehorsam einfordern kann.26
Um genau zu sein, muss man einräumen, dass das Göttliche auch in der westlichen moralischen Kultur irgendwie anwesend ist. Aber es manifestiert sich nicht in der Weise, dass es ein äußerliches Gesetz erließe. Vielmehr wirkt es durch das Gewissen. Paulus erklärt, wie sittsame Heiden, die keinerlei Ahnung von dem Gesetz des Mose haben, in lobenswerter Weise sittlich handeln können. Zu diesem Zweck entleiht er der stoischen Philosophie den Begriff des Gewissens (συνείδησις) und wendet seine Bedeutung zum Moralischen (vgl. Röm 2,14f.). Indem er die Vorstellung von einer „göttlichen Stimme“ oder – so Rousseau – von einem „göttlichen Instinkt“ einführt, eröffnet er die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugangs zu dem, was Gott dem Volke Israel offenbart hat. Der Ausdruck „göttlicher Instinkt“ sollte womöglich wörtlicher genommen werden, als Rousseau selbst ihn verstanden wissen wollte.27 Jedenfalls ist die letzte Instanz, die Menschen dazu anhält, moralisch zu handeln, und die darüber urteilt, ob ihren Forderungen Genüge getan ist, von göttlicher Natur. Insofern leben auch die Angehörigen der westlichen Kultur in einer Art Theokratie.28