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Moses I. Finley Die Entstehung einer Gesellschaft der Sklaverei

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[…] Soweit wir das beurteilen können, formten die Griechen und Römer diese „uranfängliche Erscheinung“ um in etwas Neues und in der Weltgeschichte ihnen ganz Eigenes (und in der Geschichte überhaupt Seltenes), nämlich in ein institutionalisiertes System, das in großem Ausmaß sowohl auf dem Lande als auch in den Städten Sklavenarbeit einsetzte. Marxistisch ausgedrückt bedeutet das: „Die Produktionsweise der Sklaverei war die entscheidende Erfindung der griechisch-römischen Welt“.1 Diese Erfindung ist nicht „leicht zu erklären“.

Zu Beginn müssen wir eine grobe, aber grundsätzliche und eigentlich selbstverständliche Unterscheidung treffen, nämlich die zwischen Arbeit für sich selbst und der Arbeit für andere. Das ‚für sich selbst‘ ist nicht im begrenzten individuellen Sinne zu verstehen, sondern schließt die Familie, wie groß oder klein sie in den jeweiligen Gesellschaften auch sein mag, mit ein. Das bedeutet, daß die Arbeit von Frauen und Kindern in der Familie, unabhängig davon wie patriarchalisch oder autoritär ihre Struktur ist, nicht zur Kategorie der Arbeit für andere gezählt wird, obwohl mir bewußt ist, daß ich dabei mit Widerspruch aus verschiedenen Richtungen zu rechnen habe. Auch die Hilfe von Familien untereinander etwa während der Erntezeit zählt nicht dazu. ‚Arbeit für andere‘ heißt nicht nur, daß ‚andere‘ einen Anteil am Ertrag haben, sondern auch, daß sie gewöhnlich direkte Kontrolle auf die Arbeit und die Art und Weise ihrer Durchführung ausüben, was entweder durch sie selbst oder durch Vertreter und Verwalter geschehen kann. Diese zweite Bedingung ist normalerweise weder bei dem freien Bauern noch bei dem Pächter erfüllt, wenn er auch Steuern oder Pachtzins zahlt und auf verschiedenste Art und Weise durch das öffentliche Recht eingeschränkt sein mag. Das ist wieder eigentlich selbstverständlich, aber ich muß es zu Anfang noch einmal betonen, da ein großer Teil der Diskussion über die Sklaverei aus dem letzten Jahrhundert daran krankt, daß ein so grundlegendes Kriterium vergessen wird.

Die Notwendigkeit, Arbeitskräfte für Aufgaben zu mobilisieren, die die Fähigkeit des einzelnen oder der Familie übersteigen, reicht in die Vorgeschichte zurück. Eine solche Notwendigkeit entstand immer dann, wenn eine Gesellschaft ein Stadium erreicht hatte, in dem sich Reichtum und Macht in einigen wenigen Händen konzentrierten (gleichgültig ob es sich dabei um den König, einen Tempel, einen führenden Stamm oder die Aristokratie handelte). Und die benötigte Arbeitskraft verschaffte man sich unter Anwendung von Zwang – mit Waffengewalt oder durch die Gewalt von Recht und Gewohnheit, in der Regel durch alles zusammen – für Zwecke (oder Interessen), bei denen eine einfache Arbeitsgemeinschaft nicht möglich war, sei es in der Landwirtschaft, im Bergbau, bei öffentlichen Bauten oder bei der Herstellung von Waffen. Zwangsarbeit nimmt heute wie in der Vergangenheit die verschiedensten Formen an2 – Schuldknechtschaft, Klientelwesen, Frondienst, Helotentum, Leibeigenschaft, Kaufsklaverei und so weiter. Aber welche Form auch immer: der Zwang, der dahinter steht, ist von demjenigen bei Lohnarbeit grundsätzlich verschieden. Letzterer nämlich beinhaltet die gedankliche Trennung zwischen der Arbeit eines Menschen und dem Menschen selbst. Auch der Lohnarbeiter gibt einen Teil seiner Unabhängigkeit auf, wenn er eine Arbeit übernimmt, aber dieser Verlust kann nicht mit dem verglichen werden, den Sklaven und Leibeigene zu erleiden hatten.

In frühen Gesellschaften war freie Lohnarbeit (obwohl häufig belegt) eine unregelmäßige, zufällige, eine Randerscheinung. Bezeichnenderweise besaß weder das Griechische noch das Lateinische ein Wort, um den allgemeinen Begriff der ‚Arbeit‘ oder die Vorstellung von Arbeit als „einer allgemeinen sozialen Funktion“ auszudrücken.3 Erst mit der Entwicklung des Kapitalismus entstand Lohnarbeit als die charakteristische Form der Arbeit für andere. Arbeitskraft wurde damit eine der wichtigsten Waren auf dem Markt. Bei der Sklaverei ist im Gegensatz dazu der Arbeiter selbst die Ware. Die Sklaverei ist in dieser Hinsicht unter den Formen der Arbeit einzigartig, wenngleich es Überschneidungen mit zum Beispiel den drückendsten Formen von Leibeigenschaft oder Sträflingsarbeit gab.4 Somit stehen sich der Sklave und der freie Lohnarbeiter als Extreme im Rahmen der Arbeit für andere gegenüber, historisch gesehen ist jedoch der bedeutende Unterschied eher der zwischen Sklaven und anderen Arten von Zwangsarbeit. Als institutionalisierte Systeme der Arbeitsorganisation gingen andere Formen von Zwangsarbeit der Kaufsklaverei voraus, und beide existierten vor (und bestanden dann neben) der freien Lohnarbeit. Um die antike Sklaverei zu verstehen, muß man sich deshalb vorweg einige Gedanken über die Arbeitssysteme machen, innerhalb derer sie entstand und die sie in zentralen, wenn auch keineswegs in allen Teilen der klassischen Welt ersetzte.

Es muß gleich zu Anfang bemerkt werden, daß es in der gegenwärtigen historischen und soziologischen Literatur um die Klassifizierung der Formen der Arbeit schlecht bestellt ist. Hinter einer falschen Klassifizierung steht natürlich eine falsche Theorie oder wenigstens eine unzureichende gedankliche Erfassung. Erst vor ein paar Jahren klagte Meillassoux, daß „es nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung in der Tat keine anerkannte Theorie gibt, die es uns erlaubt, die Sklaverei oder die objektive Grundlage ihrer Entstehungsmöglichkeit (existence eventuelle) zu definieren […]. Es ist kein formales Kriterium gefunden worden, welches eine kategorische Unterscheidung zwischen Sklaven und allen anderen Gruppen erlaubt“.5 Eine extreme Ansicht ist es, so starkes Gewicht auf nebensächliche Unterschiede zu legen, daß alle Institutionen zu einer Unmenge von Einzelbeispielen reduziert werden und so jede Möglichkeit der Analyse oder des Verstehens verstellt wird. Zum Beispiel versicherte uns Lauffer auf dem Stockholmer Historikerkongreß, daß wir das griechische Wort doulos oder das lateinische servus nicht mit ‚Sklave‘ übersetzen können, da dieses Wort zu sehr an die moderne Negersklaverei erinnere, denn „der antike ‚Sklave‘ ist ein ganz anderer gesellschaftlicher Typus“ (obwohl er uns nie gesagt hat warum).6 Das andere Extrem ist die Tendenz, „über das Historische hinausgehende, verallgemeinernde Vorstellungen“ zu entwickeln, die „allen wissenschaftlichen Grundsätzen widersprechen“.7 Eine Spielart, die unter den anglo-amerikanischen Anthropologen verbreitet ist (und die sich keineswegs auf die Sklaverei beschränkt), hört sich folgendermaßen an: Zuerst wird eine Unzahl von zum Beispiel afrikanischen Ausdrücken für Rang und soziale Stellung mit ‚Sklave‘ übersetzt. Dann bemerkt man dazu, daß sich diese sogenannten Sklaven in entscheidenden Punkten völlig von den Sklaven der klassischen Antike oder den Sklaven Amerikas unterscheiden. Und schließlich, statt die Bezeichnung ‚Sklave‘ für die von ihnen selbst behandelten Fälle, zu überdenken, protestieren diese Anthropologen heftig gegen den ‚Ethnozentrismus‘ der ‚abendländischen‘ Historiker und Soziologen und fordern, daß diese die Sklaverei neu definieren und klassifizieren sollen, damit man darin Raum gewinne für ihre eigene sogenannte Sklaverei.8

Eine noch schlimmere Situation herrscht in bezug auf andere Formen der Zwangsarbeit, die im Laufe der Geschichte immer wieder auftraten. Daß wir nicht einmal in der Lage sind, die Bezeichnungen in moderne, westliche Sprachen zu übersetzen, ist ein Zeichen für unsere ernsthafte Schwierigkeit, sie zu verstehen: ‚Helot‘ wird nicht übersetzt, sondern als Fremdwort übernommen; ‚ Schuldknechtschaft‘ ist eine künstliche Wortbildung; pelatai, laoi, clientes, coloni werden meist nicht einmal als Fremdworte übernommen, sondern bleiben einfach so stehen. […]

Es ist nicht überraschend, wenn sich herausstellt, daß Versuche einer Klassifizierung, seien sie gut oder schlecht, von den ihnen zugrunde liegenden theoretischen oder ideologischen Betrachtungen abhängig sind. Während Lauffer die humanistische Bewertung der klassischen Gesellschaft verteidigt, indem er auf der Einzigartigkeit des antiken Sklaven als sozialem Typus besteht, verteidigen Diakonoff und seine Schule ihre Lesart des Marxismus, indem sie „über das Historische hinausgehende, verallgemeinernde Vorstellungen“ entwickeln, die „allen wissenschaftlichen Grundsätzen widersprechen“. Im wesentlichen stützen die letztgenannten Leute sich auf eine Tautologie: Der Sklave ist ein Werkzeug in der Produktionsweise der Sklaverei. Jedoch um Meillassoux noch einmal zu zitieren: „Es leuchtet wirklich nicht ein, daß Sklaverei nur ein Produktionsverhältnis sein soll.“9 Ob das so ist oder nicht, bleibt zu beweisen und ist kein vorauszusetzendes Axiom. Eine Tatsache ist zumindest nicht zu bezweifeln, daß nämlich Kaufsklaverei als Institution ein wesentlicher Bestandteil in so unterschiedlichen Gesellschaftsformen, wie dem Römischen Reich und dem Amerika des 19. Jahrhunderts, war. […]

Es ist zum Beispiel kaum zu bestreiten, daß die Heloten „kollektive Knechte‘ waren, das heißt, es gab ein ganzes Volk oder Völker, die der Knechtschaft unterworfen waren, wohingegen in Schuldknechtschaft Geratene und Sklaven einzeln, jeder für sich der Knechtschaft anheim fielen. Dieses Kriterium trifft sogar auf die Hunderttausende von Kriegsgefangenen zu, die von Julius Caesar verkauft wurden, oder für die Schiffsladungen afrikanischer Gefangener, die man nach Amerika transportierte: Ihr Schicksal war ein Einzelschicksal, kein kollektives. Ebenso sicher ist zweitens, daß, bis auf die Kaufsklaverei, die Menschen bei allen Formen der Zwangsarbeit in unterschiedlichem Ausmaß ein beschränktes Recht auf Eigentum und in der Regel sehr viel weiterreichende Rechte im Bereich der Eheschließung und der Familie besaßen. Diese Rechte bestanden zumindest in einigen Gesellschaften de jure, wie die „Rechtsordnung‘ von Gortyn in Kreta deutlich zeigt, vielleicht nur de facto in anderen Gesellschaften, obwohl diese Annahme lediglich in der Spärlichkeit der Überlieferung begründet sein mag. So oder so ergaben sich entscheidende Konsequenzen: Die Heloten, clientes und die übrigen derartigen Gruppen sorgten von sich aus für Nachwuchs, und im Gegensatz zur Sklavenbevölkerung mußten sie nicht durch Zufluß von außen ergänzt werden, damit die erforderliche Anzahl aufrechterhalten blieb. Sie wurden von ihren Herren aus gutem Grund für eine möglicherweise aufständische Gruppe angesehen und waren als solche gefürchtet.10 Die in Schuldknechtschaft Geratenen im frühen Athen und Rom sind ein extremes Beispiel dafür, und es mag vergleichbare abhängige Klassen in frühen Gesellschaften gegeben haben, über die wir nichts wissen. Es gelang ihnen, sich selbst als Gruppe insgesamt zu befreien, und sie versetzten sich damit automatisch wieder in den Stand vollwertiger Mitglieder ihrer entsprechenden Gesellschaft. Das war eine bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzung, ein Konflikt innerhalb der Gemeinschaft, keine Sklavenrevolte. Ziel von Sklavenaufständen war es, als Individuen die Freiheit zu erlangen und nicht zu einem Mitglied der Bürgerschaft der Herren zu werden oder die soziale Struktur umzuwandeln. Ebenfalls bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die messenischen Heloten, als sie von den Thebanern nach deren Sieg über Sparta bei Leuktra (371 v. Chr.) befreit wurden (auch sie als ganze Gruppe), sie von allen Griechen sogleich als normale, griechische Gemeinde anerkannt wurden.

Es ist in letzter Zeit Widerspruch laut geworden gegen meine Betonung solcher Unterschiede zwischen den Arten von Zwangsarbeit: Das gesamte Schema sei nur eine „Juristische Abstraktion“ oder nur eine Beschreibung von Institutionen, „ohne daß ihre Funktion untersucht wird“.11 Es ist richtig, daß keine Klassifizierung oder Einordnung, ganz gleich wie eingehend sie ist, als Darstellung der Beschaffenheit einer bestimmten Gesellschaft und ihrer Veränderungen ausreicht. Man kann sie lediglich als ein besseres oder schlechteres analytisches Werkzeug im Vergleich zu konkurrierenden Klassifizierungen bei einer bestimmten Fragestellung betrachten. Im vorliegenden Zusammenhang ist die Frage, ob die genannten Unterschiede, deren Existenz man nicht ernsthaft leugnen kann, entscheidend zum Verständnis der Entstehung einer Sklavengesellschaft beitragen, d.h. mit anderen Worten zur Ersetzung anderer Formen der Zwangsarbeit durch die Kaufsklaverei, wo immer das geschah. […]

Als Ware ist der Sklave Besitz. Spätestens seit den Schriften von Westermarck zu Beginn dieses Jahrhunderts haben einige Soziologen und Historiker beharrlich versucht, die Bedeutung dieser einfachen Tatsache zu leugnen, und zwar mit der Begründung, daß der Sklave auch ein menschliches Wesen sei oder daß die Rechte des Besitzers oft durch das Gesetz eingeschränkt seien.12 All dies scheint mir nebensächlich zu sein: Die Tatsache, daß ein Sklave ein menschliches Wesen ist, hat mit der Frage, ob er zum Besitz zählt oder nicht, nichts zu tun, sondern läßt nur erkennen, daß er eine besondere Form von Besitz ist, nämlich, wie Aristoteles sagt, „beseelter Besitz“ (Politik 1253b32). Ähnlich legt andererseits auch das altlateinische Wort erus die Eigenart des Sklavenbesitzes nahe. Im ‚Oxford Latin Dictionary‘ definiert als „ein Mann im Verhältnis zu seinen Dienern, der Herr“, war erus ein gewöhnlich und häufig von Sklaven in den Komödien des Plautus und sogar des Terenz statt dominus benütztes Wort. Auch spätere Dichter verwendeten den Ausdruck als einen gelegentlichen Archaismus, aber sie erweiterten seine Bedeutung, indem sie damit auch die Besitzer von Tieren und anderem Eigentum bezeichneten. Auf diese Weise ging der ursprüngliche Sinn verloren, wonach die Beziehung zwischen Sklaven und Herren eigentümlich, ja einzigartig unter den Besitzverhältnissen war.13

Die rechtlichen Beschränkungen des Sklavenbesitzers sind ebenfalls ein nebensächlicher Aspekt. Die modernen soziologischen und juristischen Theorien aller Schulen verstehen unter Besitz ein Gerüst von Rechten, die selten oder nie unbegrenzt sind. Die genau umschriebenen Rechte, die dieses Gerüst ausmachen, sind je nach Art des Besitzes und der Art der Gesellschaft unterschiedlich. Besitz ist mit anderen Worten eine historische Kategorie – eine weitere Selbstverständlichkeit, die ich leider anführen muß, um der Verwirrung zu begegnen, die auf diesem Gebiet noch immer vorherrscht. Wenn römische Juristen einen Sklaven als jemanden bezeichnen, der sich im dominium eines anderen befand,14 benutzten sie damit den absoluten Eigentumsbegriff. Die menschliche Qualität des Sklaven war für sie kein Widerspruch (nicht einmal angesichts der Tatsache, daß sie die Bezeichnung homo für einen Sklaven verwendeten, was häufig vorkam).15 Ebensowenig kümmerte dies die Millionen von Sklavenbesitzern, die Sklaven kauften und verkauften, sie ohne Unterlass arbeiten ließen, sie schlugen, quälten und manchmal zu Tode schunden, genau wie es im Laufe der Geschichte Millionen von Pferdebesitzern mit ihren Tieren taten. Es gab auch Millionen anderer Sklavenbesitzer, die ihre Rechte nicht auf diese Art und Weise ausschöpften. Das ist interessant und sogar wichtig, aber es ändert grundsätzlich nichts an der Tatsache, daß die Sklaven als Besitz angesehen wurden.

Wenn ein Sklavenbesitzer darauf verzichtete, alle Rechte, die er über seinen Sklavenbesitz hatte, auszuschöpfen, war das immer ein von ihm einseitig vorgenommener, ihn niemals bindender und stets widerruflicher Akt. Das ist eine entscheidende Tatsache. Auf der anderen Seite ist auch die Gewährung einer besonderen Auszeichnung oder Vergünstigung eine ebenso einseitige, stets widerrufliche Handlung des Sklavenbesitzers. Was Versprechungen anbetrifft, so hat einer der Sklaven bei Plautus ihren Wert unumwunden klargestellt: Kein Herr kann wegen Bruch eines einem Sklaven gegebenen Versprechens vor Gericht gebracht werden (Persa 193-4). Sogar die Freilassung konnte, was oft der Fall war, durch verschiedene Bedingungen eingeschränkt werden. Wenn man die fundamentale Bedeutung dieser Einseitigkeit nicht genügend in Betracht zieht, wie es Eduard Meyer tat, als er die Chancen antiker Sklaven, Wohlstand und sozialen Aufstieg zu erreichen, mit denen heutiger Lohnabhängiger verglich,16 verbaut man sich damit die Möglichkeit, Wesen und Geschichte der Sklaverei innerhalb einer jeden Gesellschaft zu verfolgen und zu verstehen.

Paradoxerweise war es genau diese Eigenschaft des Sklaven, nämlich Eigentum zu sein, die der besitzenden Klasse eine Bewegungsfreiheit ermöglichte (auf die ich gleich zurückkommen werde), die bei keiner anderen Form von Zwangsarbeit gegeben war. Das ist einer der Gründe, warum ich diese juristische Kategorie betone, die als solche und an sich keine ausreichende ‚Definition‘ des Begriffs Sklave ist. Wie die einzelnen Besitzer ihr jeweiliges Eigentum behandelten, war normalerweise nicht eine Frage der bloßen Laune oder unterschiedlicher Temperamente. Besitzer boten Sklaven häufig eine eventuelle Freilassung als Anreiz. Dies konnte mittels der verschiedensten Vereinbarungen geschehen, und sie hatten automatisch eine Reihe von Verhaltensweisen und Erwartungen zur Folge, die auch die Haltung des Herrn betrafen. Obwohl er nach dem Gesetz die reale Möglichkeit hatte, dieses Angebot stets zu widerrufen, wäre der materielle Gewinn aus der Sklaverei drastisch reduziert worden, wenn solche Vereinbarungen nicht allgemein beachtet worden wären.

Die Rechte des Sklavenbesitzers über seinen Sklavenbesitz waren in mehr als einer Hinsicht unbegrenzt. Der Sklave erlitt als solcher nicht nur den „völligen Verlust der Kontrolle über seine Arbeit“,17 sondern auch den völligen Verlust der Kontrolle über seine Person und seine persönliche Lebensgestaltung. Ich betone nochmals, daß die Einzigartigkeit der Sklaverei in der Tatsache lag, daß der Arbeitende selbst die Ware war und nicht nur seine Arbeit oder Arbeitskraft. Ferner war sein Verlust an Kontrolle zeitlich. nicht begrenzt und erstreckte sich auch auf seine Kinder und Kindeskinder, wenn nicht wiederum der Besitzer durch den einseitigen Akt einer uneingeschränkten Freilassung diese Kette durchbrach. Und auch dann kam dies nur den Kindern zugute, die später geboren wurden, nicht aber denen, die zum Zeitpunkt der Freilassung bereits da waren. Es gibt in der Tat zahlreiche Anzeichen dafür, daß nicht selten die Freilassung aufgeschoben wurde, bis ein Sklave oder eine Sklavin Kinder hatte, die seinen oder ihren Platz als Sklave übernehmen konnten. Es ist allerdings nicht festzustellen, wie häufig das wirklich geschah, oder ob man sich dabei hauptsächlich auf bestimmte Kategorien von Sklaven beschränkte, wie zum Beispiel die im Dienste des römischen Kaisers.

Die Tatsache, daß der Sklave immer ein entwurzelter Mensch und Außenseiter war, erleichterte diese Unbegrenztheit der Rechte eines Sklavenbesitzers – ein Außenseiter erstens im Sinne seiner Herkunft von außerhalb der Gesellschaft, in die er als Sklave hineinkam, und zweitens ein Außenseiter durch die Tatsache, daß ihm die elementarste aller sozialen Bindungen verwehrt war, die Familienbindung. […]

Diese drei Komponenten der Sklaverei – die Stellung des Sklaven als Eigentum, seine völlige Rechtlosigkeit und sein Mangel an familiären Bindungen – verschafften dem Sklavenbesitzer a priori entscheidende Vorteile im Vergleich zu anderen Formen unfreiwilliger Arbeit: Er hatte größere Gewalt und war beweglicher beim Einsatz seiner Arbeitskräfte und hatte wesentlich größere Handlungsfreiheit, sich unerwünschter Arbeitskräfte zu entledigen.18 Folglich entstand innerhalb der Sklavenbevölkerung eine Hierarchie. Man braucht sich nur vor Augen zu halten, daß es gleichzeitig folgendes gab: die Sklaven in den spanischen Gold- und Silberminen oder die Masse der Ackersklaven, die auf den Landgütern Italiens in Ketten arbeiteten; die Sklaven im kaiserlichen Verwaltungsdienst; die Sklavenaufseher und Verwalter auf dem Lande; die Sklaven in den Städten, die in Rom und anderen Gemeinden Italiens ihre eigenen Handels- und Handwerksunternehmen mit Hilfe der Einrichtung des peculium betrieben (worauf wir später zurückkommen werden). Die Sklaven waren mit anderen Worten eine eigene Art innerhalb der größeren Klasse von Zwangsarbeitern, zugleich aber ließen sie sich deutlich in Untergattungen gliedern. Anders ausgedrückt waren die Sklaven zwar im logischen und juristischen Sinne eine Klasse, aber keine soziale Klasse im landläufigen Sinne.19

Dennoch war die Sklaverei trotz aller Vorteile (oder scheinbarer Vorteile) ganz allgemein im Rahmen der Weltgeschichte und auch, was die Antike angeht, eine späte und relativ seltene Form von Zwangsarbeit. Vor- und Nachteile sind keine absoluten Werte, sondern historisch bedingte Eigenschaften, die den wechselnden sozialen und ökonomischen Bedingungen folgen. Die kritische Frage nach der Entwicklung und dem Niedergang der antiken Sklaverei kann daher nur beantwortet werden durch eine Untersuchung der Bedingungen, die dafür notwendig und hinreichend waren. Was, mit anderen Worten, verursachte den Übergang von der „uranfänglichen Erscheinung“, daß es einzelne Sklaven gab, zu einer Gesellschaft der Sklaverei, und wodurch kam später dann eine Umkehrung dieses Vorgangs zustande? […]

Zusammenfassend ist also zu sagen, daß es nicht in allen Gebieten des späteren Römischen Reichs Gesellschaften der Sklaverei gab (slave societies), was etwas anderes ist als Gesellschaften, in denen es Sklaven gab (societies in which there were slaves). Was wir als eine politische und in einem gewissen Sinne auch als eine kulturelle Einheit verstehen, war allein dadurch noch kein einheitliches ökonomisches oder soziales Gebilde. Nach Wallersteins Konzeption war es ein ‚Weltreich‘, aber kein ‚Weltsystem‘; ein Gebilde, in dem verschiedene Arbeitsformen und Produktionsweisen nebeneinander bestanden und eher durch die politischen als durch die ökonomischen Umstände miteinander verbunden waren.20 Eine Darstellung der Entwicklung der griechisch-römischen Sklaverei muß sich deshalb, zumindest für den Anfang, auf die zentralen Gebiete Griechenland, Italien und Sizilien beschränken. Und das ist es, was ich tun werde.

Es ist üblich, die Untersuchung mit dem zu beginnen, was ich wiederholt das ‚Zahlenspiel‘ genannt habe. Ich werde mich daran nicht beteiligen, einmal, weil seit langem klar geworden ist, daß der Befund eine quantitative Betrachtung nicht wirklich zuläßt, und zum anderen, weil die meisten Mitspieler unter der falschen Annahme an den Start gehen, sie müßten entweder mit astronomischen Zahlen aufwarten, um die Bezeichnung ‚Gesellschaft der Sklaverei‘ zu rechtfertigen, oder ganz im Gegenteil die Existenz einer Gesellschaft der Sklaverei leugnen, indem sie die außerordentlich hohen Zahlen herunterspielen. Im Jahre 1860 bestand die Bevölkerung in den Südstaaten der USA zu 33 % aus Sklaven, ein nur geringfügig niedrigerer Prozentsatz galt für Kuba und Brasilien.21 Nach vorsichtigen Schätzungen – 60.000 Sklaven in Athen am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr., zwei Millionen im Italien der ausgehenden Republik – bewegten sich die vergleichbaren Prozentsätze in demselben Rahmen, schätzungsweise bei 30 bis 35 %. Das ist eine mehr als genügende Menge, besonders wo alle Anzeichen darauf hindeuten, daß in der Antike Sklavenbesitzer noch auf einem beträchtlich niedrigeren sozialen und wirtschaftlichen Niveau zu finden waren als in der Neuen Welt,22 und angesichts der Tatsache, daß man diesen Anteil an Sklaven in der Antike über einen langen Zeitraum aufrechterhielt. Die gesamte Geschichte der Sklaverei in den Vereinigten Staaten dauerte nicht länger als der Zeitraum von Augustus bis Septimius Severus. […]

Ich habe diese wenigen, zugegebenermaßen außergewöhnlich hohen Zahlen zitiert als Einleitung zu der allgemeinen Feststellung, daß eine Einschätzung der Bedeutung der Sklaven in einer Gesellschaft nicht von ihrer Gesamtzahl abhängt, wenn die erst einmal genügend hoch ist, sondern von ihrem Standort. Ihrem Standort in zweierlei Hinsicht: Erstens wer ihre Besitzer waren; zweitens welche Rolle sie in der Wirtschaft spielten, aber nicht nur dort. Es gab keine eigentlichen Sklavenberufe, außer grundsätzlich den Bergbau und die Hausarbeit, soweit unter letzterer der Dienst in einem Haushalt zu verstehen ist, der nicht der der eigenen unmittelbaren Familie war. Ebensowenig gab es eigentlich freie Berufe, außer die Rechtsprechung und die Politik (im Unterschied zur Verwaltung) sowie normalerweise den Militärdienst (allerdings nicht den in der Flotte und ausgenommen die Dienerschaft einzelner Soldaten). Wie immer auch Moralisten wie Aristoteles und Cicero eine Arbeit eingeschätzt haben, in der Praxis wurden alle übrigen Beschäftigungen sowohl von Sklaven als auch von Freien ausgeführt, und oft arbeiteten sie Seite an Seite an der gleichen Aufgabe. […]

Andere Historiker, die sich mit der Antike befaßten, gingen dann einen Schritt weiter und behaupteten, daß Krieg und Eroberung die notwendige Voraussetzung für die Entstehung einer Gesellschaft der Sklaverei gewesen seien. Dagegen muß ich einigermaßen ausführliche Einwände vorbringen. Der Irrtum entsteht aus einer Sicht der römischen Geschichte, die von dem gewaltigen Ausmaß der Eroberungen und Versklavungen der beiden letzten vorchristlichen Jahrhunderte so geblendet ist, daß sie gegenüber dem nicht zu übersehenden, beträchtlich früheren Anwachsen der Sklaverei in Rom blind ist.23 Keiner wird einen sprunghaften Anstieg nach dem zweiten Punischen Krieg leugnen wollen. […]

Niemand wird ernsthaft behaupten wollen, daß alle diese Männer, Frauen und Kinder nach Karthago oder in den griechischen Osten verkauft wurden und nicht nach Italien. Ebensowenig kann man wohl die Behauptung aufrechterhalten, die Römer seien — mit dem noch nie dagewesenen und ‚unerwarteten’ Phänomen Zehntausender von Sklaven konfrontiert – ganz einfach, sei es nun bewußt oder unbewußt, dazu übergegangen, zum erstenmal Sklavenarbeit in größerem Maße einzusetzen. […]

Während des Hannibalischen Krieges war jeder zweite Bürger im wehrfähigen Alter zum Dienst in der Armee oder Flotte eingezogen, und das ist nicht zu erklären, ja eigentlich undenkbar, ohne das Vorhandensein einer großen Anzahl von Sklaven unter den Arbeitskräften und ohne die Existenz eines fest etablierten Systems von Sklavenarbeit.24 Es gab zu dieser Zeit sogar genug Sklaven, um auch sie in großer Zahl zur Armee einziehen zu können.25

Keiner dieser Gesichtspunkte soll die besondere Bedeutung der Eroberungen für die Geschichte der römischen Sklaverei schmälern. Deren ausschlaggebende Rolle lag jedoch in der Tatsache, daß sie die Grundlage für Großgrundbesitz schufen mit allen Konsequenzen, die sich daraus für die römische Gesellschaft und damit die ‚Struktur‘ der römischen Sklaverei ergaben. Die ‚Eroberungstheorie‘ hilft somit, den besonderen Charakter der römischen Gesellschaft der Sklaverei zu erklären, nicht jedoch deren Entstehung. Vergleichsmaterial zeigt, daß eine notwendige Voraussetzung für die ausreichende Versorgung mit Sklaven nicht Eroberung ist, sondern das Bestehen eines „Reservoirs“ potentieller Sklaven außerhalb der in Frage stehenden Gesellschaft, aus dem diese Arbeitskräfte schöpfen kann, und zwar systematisch und, wie man es treffend ausgedrückt hat, „zu grundsätzlich annehmbaren (rechtlichen und kulturellen) Bedingungen“.26 […]

Anders ausgedrückt lautet mein Argument, daß der Bedarf an Sklaven der Versorgung vorausgeht. Die Römer nahmen Zehntausende von Männern, Frauen und Kindern in den Italischen und den Punischen Kriegen gefangen, weil bereits ein Bedarf an Sklaven bestand, und nicht umgekehrt. Das Vorhandensein eines hinreichenden Bedarfs setzt wenigstens drei notwendige Bedingungen voraus.27 Erstens muß es in einer ganz überwiegend agrarischen Welt privaten Grundbesitz geben, und zwar in hinreichendem Maße in den Händen weniger konzentriert, so daß über den Rahmen der Familien hinaus ständige Arbeitskräfte erforderlich sind. Zweitens müssen die Warenproduktion und die Märkte weit genug entwickelt sein — für den hier untersuchten Zusammenhang macht es keinen Unterschied, ob es sich um einen entfernt gelegenen Markt handelt, also einen Exportmarkt im landläufigen Sinne, oder ein nahegelegenes städtisches Zentrum. Heloten und andere Arten von abhängiger Arbeit können theoretisch in Gesellschaften ohne Warenproduktion eingesetzt werden, nicht jedoch Sklaven, die regelmäßig in großen Mengen importiert und daher auch bezahlt werden müssen. Als drittes gibt es noch eine negative Bedingung, daß nämlich innerhalb der Gesellschaft keine Arbeitskräfte zu bekommen sind, was die Arbeitgeber zwingt, Außenstehende heranzuziehen. Alle drei Bedingungen müssen gleichzeitig erfüllt sein, wie es in Athen und anderen griechischen Staaten im 6. Jahrhundert v. Chr. und in Rom spätestens im 3. Jahrhundert v. Chr. der Fall war.

Die römische Überlieferung bietet kein ausreichendes Belegmaterial, wie ich bereits sagte, auch wenn ich keine Zweifel an der Chronologie und an den Grundzügen der Entwicklung hege. Im Gegensatz dazu reichen für Athen sowohl die archäologischen als auch die literarischen Belege aus, und ich werde mich auf Athen konzentrieren.28 Vor 600 v. Chr. hatte sich die Bevölkerung Attikas nach dem Tiefpunkt der ‚Dunklen Jahrhunderte‘ auffallend vermehrt, eine herrschende Klasse von Familien, von ‚Eupatriden‘ besaß einen Großteil des Landes, in gewissem Grade war die städtische Entwicklung vorangekommen, und sowohl im ländlichen wie im städtischen Bereich hatte sich eine beschränkte Warenproduktion entwickelt. Daher bestanden damals einige der notwendigen Voraussetzungen für die Sklaverei, so wenig wir auch über die Hintergründe wissen mögen, die dahin führten. Solon war es, der dann die entscheidende negative Voraussetzung schuf: Wie immer man sich den Status der hektemoroi und pelatai vor Solon vorstellt (Aristoteles, Athenaion Politaia 2,2), so besteht doch kein Zweifel, daß nach Solon Schuldknechtschaft und andere Formen von Zwangsarbeit in Attika auf Dauer zu bestehen aufhörten (in vielen anderen Gegenden der griechischen Welt war dies nicht der Fall, was man leider immer wieder betonen muß). Die Eupatriden und vermutlich auch einige nichtaristokratische reiche Familien brauchten nun Arbeitskräfte, um die ihnen durch die solonischen Reformen verlorengegangenen zu ersetzen. Innerhalb der Gesellschaft konnten sie sie nicht finden und zogen daher Außenstehende heran, und das heißt Sklaven. Weshalb? […]

Damit wären wir wieder bei der entscheidenden Frage angelangt. Warum war es notwendig, Arbeitskräfte außerhalb zu suchen? Sklaverei als solche mußte nicht erfunden werden, sie war eine ‚uranfängliche Erscheinung‘ und war den Griechen so vertraut wie allen anderen. Aber Sklaverei als die Form der Arbeit für andere schlechthin war eine völlig neue Idee. Ich vermute, daß diese Entscheidung nicht von denjenigen durchgesetzt wurde, die Arbeitskräfte brauchten, sondern von den Athenern erzwungen wurde, die man als Arbeiter beschäftigen wollte. Daß sie nicht zur Verfügung standen, und zwar als Masse verschiedenster Individuen nicht zur Verfügung standen, verlangt nach einer Erklärung. Da es an jeglicher Überlieferung fehlt, haben wir keine andere Wahl als zu spekulieren, wobei uns allerdings die Erfahrungen in der Neuen Welt nicht helfen können. Letztere war ein Kolonialgebiet, in dem im Laufe der Zeit gewaltige Ländereien erschlossen wurden. Irgendwelche ansässigen Arbeitskräfte gab es nicht (außer die eingeborenen Indianer, die sich als nicht sehr brauchbar, wenn nicht überhaupt als nutzlos erwiesen). Frühzeitig erkannte man die Möglichkeiten einiger weniger Ausfuhrprodukte wie Baumwolle, Tabak und Zucker, für die auf dem Weltmarkt große Nachfrage bestand. Attika stand in völligem Gegensatz dazu mit wenig bebaubarem Land, von dem nichts ‚frei‘ war, und mit einer zahlreichen, oft zu zahlreichen Bevölkerung für eine vorindustrielle, vorkapitalistische Welt. In Attika war die Sklaverei niemals von der stark wachsenden Konzentration des Landbesitzes begleitet, die in Italien durch die Enteignung der Kleinbauern aufkam (das war, wie man sagen kann, der den römischen Verhältnissen eigene Ersatz für das ‚frei‘ verfügbare Land in der Neuen Welt).29 Aber sogar in Attika war die Sklaverei sowohl eine agrarische wie auch eine städtische Einrichtung.30

Es gibt allerdings einen Weg, wie die Grundbesitzverhältnisse einen ersten Anhaltspunkt für unsere Spekulation über den Ursprung der Gesellschaft der Sklaverei bieten können. Grundlegend für das Wesen der Polis, ob griechisch oder römisch, war seit der Zeit, als sie in ihrer archaischen Form aus dem Vorstadium der Entwicklung heraustrat, die tiefe Überzeugung, daß die Zugehörigkeit zur Polis (was man als Bürgerrecht bezeichnen kann) unlösbar mit dem Recht auf Grundbesitz, der Pflicht zum Kriegsdienst und dem Kult verbunden war. Ich kenne keine einzige Ausnahme von der Regel, daß das Recht auf Grundbesitz nach dem Gesetz auf Bürger beschränkt war, bis auf die wenigen einzelnen, denen der Staat dieses Recht als persönliches Privileg in Anerkennung ihrer auf die eine oder andere Weise erworbenen Verdienste um das öffentliche Wohl verlieh. Die übliche ‚revolutionäre‘ Parole war ‚Schuldentilgung und Neuverteilung des Landes‘, die Parole einer Bauernschaft ohne Landbesitz: Sie wurde im solonischen Athen ausgegeben und römische Senatoren wie auch Kaiser trugen ihr durch ihre Koloniegründungen und die Veteranenversorgung Rechnung. […]

Die Psychologie liefert die einzige Erklärung, auf die wir uns stützen können – die politische und soziale Psychologie, die in der Zeit vorherrschte, in der die führende Schicht, nachdem ihr die älteren Formen der Zwangsarbeit nicht mehr zur Verfügung standen, sich nach Sklaven von außerhalb umsah. Die Bauernschaft hatte ihre persönliche Freiheit und ihren Besitzanspruch auf das Land durch einen Kampf gewonnen, der ihnen auch das Bürgerrecht, die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, der Polis einbrachte. Das war schon an sich etwas vollständig Neues in der Welt, und es führte seinerseits zu der zweiten bemerkenswerten Neuerung – einer Gesellschaft der Sklaverei (slave society). […]

Nichts von dem, was ich gesagt habe, läßt auf eine bewußte Handlung schließen, auf ein Abwägen der Möglichkeiten, dem eine Entscheidung für die eine davon folgt, nämlich für die Sklaverei. Jedermann wußte, daß es unmöglich war, die Bauern oder Handwerker, die doch Bürger waren, zu Lohnarbeitern zu machen dieselben Bürger, die auch für die Armee gebraucht wurden.31 Jedermann wußte, daß ein freier Mann für einen anderen nicht regelmäßig und freiwillig arbeiten würde. Und ebenso wußte jedermann, daß es eine Einrichtung gab, die wir Sklaverei nennen. Daher herrschte, wie ich vermute, allgemeine Übereinstimmung darüber, daß man zu Sklavenarbeit überging. Man war auf Sklaven nicht eifersüchtig, es gab keinen Wettstreit mit ihnen, weder zu Beginn noch in den Blütezeiten.32 Im Gegenteil, der Traum des Mannes, der sich keinen Sklaven leisten konnte, war, eines Tages dazu in der Lage zu sein (Lysias 24,6). Ein freier Mann war jemand, der weder unter dem Zwang eines anderen lebte, noch zu dessen Vorteil arbeitete. Er lebte vorzugsweise auf dem Land seiner Vorfahren mit seinen Altären und Familiengräbern. Indem dieses Bild eines freien Mannes in einer vorindustriellen Welt mit gering entwickelter Technologie entstand, entwickelte sich als dessen Folge eine Gesellschaft der Sklaverei. Es gab keine realistische Alternative. […]

Die entscheidenden Punkte sind, daß erstens Griechen und Römer über viele Jahrhunderte von dem oft großen Einkommen lebten, das ihnen die Sklaven erwirtschafteten; daß wir zweitens keinerlei Anhaltspunkte haben, um die Effektivität, die Produktivität oder die Rentabilität verschiedener Formen der Arbeit in der Antike miteinander zu vergleichen (ebensowenig haben wir, wie ich hinzufügen möchte, ausreichend Material, um etwas über relativ hohe oder niedrige Kosten von Sklaven ganz allgemein oder in der von mir besonders behandelten Zeit aussagen zu können); daß es drittens den Menschen der Antike selbst an den Kenntnissen fehlte, solche Vergleiche anzustellen, was für sie ohnehin eine rein akademische Übung gewesen wäre. […]

Die seltenen Kalkulationen antiker Schriftsteller sind in ihrer Ahnungslosigkeit einfach rührend.33 Es ist ein Fehler moderner Historiker, gelegentliche moralisierende Verallgemeinerungen ernst zu nehmen – Columellas Behauptung (Columella 1,7,5), daß eine persönliche Aufsicht sich in stärkerem Maße auszahlte als die Aufsicht durch einen vilicus oder als eine Verpachtung oder der unzählige Male zitierte Satz des älteren Plinius, daß „die Latifundien Italien zerstört haben“ (Naturalis Historia 18,35) – in der Annahme, sie basierten auf systematischen Erhebungen. Ähnlich verdrießliche Verallgemeinerungen sind über die Vereinigten Staaten in unendlich viel größerer Zahl überliefert. Aber kein Historiker, der sich mit amerikanischer Sklaverei beschäftigt, verwendet sie noch als Argument, es sei denn als Belege für die innewohnende Ideologie, und ich sehe keinen Grund, entsprechenden Äußerungen der Antike mehr Glauben zu schenken. Kurz gesagt, Überlegungen bezüglich der Effizienz, Produktivität und Rentabilität spielen, wenn überhaupt, eine sehr untergeordnete Rolle bei der Entstehung einer Gesellschaft der Sklaverei in Griechenland oder Rom m.E., eine vergleichende Abwägung fand überhaupt nicht statt.

Natürlich ist die Angelegenheit damit nicht zu Ende. Einmal entstanden, entwickelte eine Gesellschaft der Sklaverei (slave society) ihre eigene Dynamik. Die Bedingungen für ihre Entstehung waren nicht dieselben wie die, die zu ihrem Weiterbestehen und ihrer Ausbreitung oder ihrem Verfall führten. Einige der Bedingungen für den Niedergang waren Folgeerscheinungen der Existenz einer Gesellschaft der Sklaverei.

Anmerkungen

1 P. Anderson, Von der Antike zum Feudalismus. Spuren der Übergangsgesellschaften (edition suhrkamp 922), Frankfurt/M., 21.

2 Über die modernen Varianten siehe die 13 Fallstudien bei W. Kloosterboer, Involuntary Labour after the Aboliton of Slavery, Leiden 1960.

3 Siehe J.-P. Vernant, Mythe et pensé chez les Grecs, Teil 4, Paris 1965. Vgl. Y. Garlan, Le travail libre en Grece ancienne, in: P. Garnsey (Hrsg.), Non-Slave Labour in Greco-Roman Antiquity, Cambridge 1980, 7-22, über das relativ späte Erscheinen von Lohnarbeit und freien Kleinbauern in der griechischen Geschichte.

4 Für den Moment behandle ich den Sklaven als Idealtyp. Wir werden später sehen, wie viele Unterschiede es innerhalb der Sklavenbevölkerung gegeben hat.

5 C. Meillassoux (Hrsg.), L‘esclavage en Afrique précoloniale, Paris 1975, 20.

6 S. Lauffer, Die Sklaverei in der griechisch-römischen Welt, XIe Congrès International des Sciences Historiques, Rapports II (Antiquité), Uppsala 1960, 81.

7 P. Anderson, Lineages of the Absolute State, London 1974, 486. [In der deutschen Übersetzung (Absolutist. Staat) ist der hier zitierte Anhang nicht enthalten. Anm. d. Ü.]

8 Ein vollendetes Beispiel findet sich bei S. Miers und I. Kopytoff in der Einleitung zu: Slavery in Africa: Historical and Anthropological Perspectives, Madison 1977, bes. 5f., 11 und 76-78. Einen richtigen Ansatz vertritt J. Bazin, Guerre et servitude a Segou, in: Meillassoux (s. Anm. 5), 135-82, der allerdings nicht von allen Autoren des Buches geteilt wird; P. Hill, From Slavery to Freedom: The Case of Farm-Slavery in Nigerian Hausaland, in: Comparative Studies in Society and History 18, 1976, 395-426.

9 Meillassoux (s. Anm.5), 20.

10 J. Ducat, Aspects de l’hilotisme, in: Ancient Society 9, 1978, 5-46, hat all dies in einem langen und eigensinnigen Artikel verneint, der voll von Fehlurteilen (besonders über die Ansichten anderer) und von Auslassungen ist. So schreibt er z.B. auf S. 22, daß der Unterschied zwischen Kaufsklaven und Heloten „nur darin bestehe, daß die letzteren anstatt einem einzelnen der Allgemeinheit gehören“. Um zu einem solchen Schluß zu kommen, erwähnt er die selbständige Reproduktion der Heloten nicht und übersieht die Implikationen, die sich aus ihrem Recht auf einen formal festgelegten Anteil an dem Ertrag ergeben.

11 Ducat (s. Anm. 10), 23 und J. Annequin/M. Clavel-Lévëque/F. Favory, Présentation des recherches internationales à la lumière du marxisme. In: Dies. (Hrsg.), Formes d’exploitation du travail et rapports sociaux dans l’antiquité classique, Paris 1975 (RILM 84,3), 3-44, bes. 9.

12 O. Patterson, The Study of Slavery, in: Annual Review of Sociology 3, 1977, 431.

13 Siehe L.T. Capogrossi, Il Campo semantico della schiavitù nella cultura latina del terzo e del secondo secolo a.C., in: Studi storici 18, 1973, 716-733.

14 Dig. 1,5,4,1; weitere Texte in W.W. Buckland, The Roman Law of Slavery. The Condition of the Slave in Private Law from Augustin to Justinian, Cambridge 1908, Kap. 2. Vgl. die Definition im ‚Übereinkommen betreffend die Sklaverei‘, das der Völkerbund 1926 traf: „Sklaverei ist der Zustand oder die Stellung einer Person, an der die mit dem Eigentumsrecht verbundenen Befugnisse oder einzelne davon ausgeübt werden.“ Zit. nach B. Simma/U. Fastenrath (Hrsg.): Menschenrechte. Ihr internationaler Schutz (Beck-Texte im dtv 5531), München 1979, 107.

15 Capogrossi (s. Anm.13), 725f. Vgl. die Einbeziehung von versklavten Kriegsgefangenen in den Zehnten der Kriegsbeute, der einem Gott geopfert wurde: F. Bömer, Untersuchungen über die Religion der Sklaven in Griechenland und Rom. Teil III:. Die wichtigsten Kulte der griechischen Welt (FAS 14), Wiesbaden 1961, 252-255.

16 E. Meyer, Die Sklaverei im Altertum (1896), nachgedruckt in und zitiert nach: ders., Kleine Schriften, Bd. I, Halle a. S. 1910, 211.

17 Ebd. Patterson (s. Anm.12), schlägt als Arbeitshypothese folgende Definition der Sklaverei vor: „Der Zustand, in dem es eine institutionalisierte Entfremdung von den Rechten auf Arbeit und Verwandtschaft gibt.“

18 Zur Flexibilität der amerikanischen Sklaverei siehe C.N. Degler, The Irony of American Slavery, in: H.P. Owens (Hrsg.), Perspectives and Irony in American Slavery, Jackson, Miss. 1976, 8-10.

19 P. Vidal-Naquet, Les esclaves grecs étaients-ils une classe?, in: Raison Préstente 6, 1968, 103-112.

20 I. Wallerstein, A World-System Perspective on the Social Sciences, in: British Journal of Sociology 27, 1976, 343-52. Vgl. Anderson (s. Anm.1), 22: „Die antike Welt war insgesamt nie ständig und überall durch das Vorherrschen von Sklavenarbeit geprägt. Aber in ihren großen klassischen Epochen […] war Sklaverei inmitten anderer Arbeitssysteme massenhaft und überall vorhanden.“

21 Siehe die Tabelle in K. Hopkins, Conquerors and Slaves (Sociological Studies in Roman History 1), Cambridge 1978, 101; vgl. Degler (s. Anm.18).

22 Siehe M.H. Jameson, Agriculture and Slavery in Classical Athens, in: Classical Journal 72, 1977/78, 122-145.

23 Dies trifft (trotz tiefgreifender Differenzen in anderen Bereichen) auf Meyer (s. Anm.16), ebenso zu wie auf Hopkins (s. Anm.21), 8-15, 102-6; dagegen W.L. Westermann, The Slave Systems of Greek and Roman Antiquity, Philadelphia 1955, 70; P. Ducrey, Le traitement des prisonniers de la guerre dans la Grèce antique, Paris 1968, 74f.; und in anderem Zusammenhang F. De Martino, Intorno all‘origine della schiavitù a Roma, in: Labeo 20, 1974, 163-193, bes. 179-193.

24 P. A. Brunt, Social Conflicts in the Roman Republic, London 1971, 18f.

25 Die Belege sind gesammelt bei J. M. Libourel, Galley Slaves in the Second Punic War, in: Classical Philology 68, 1973, 116-119.

26 I. Hahn, Die Anfänge der antiken Gesellschaftsformation in Griechenland und das Problem der sogenannten asiatischen Produktionsweise, Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1971/II, 35, und S. A. Mintz, The So-Called World System: Local Initiative and Local Response, in: Dialectical Anthropology 2, 1977, 257.

27 Für das folgende bin ich Hahn (s. Anm. 26), 29-47 sehr verpflichtet.

28 Zum folgenden beschränke ich mich auf Literatur zu zwei Punkten: zum Bevölkerungswachstum siehe die vorläufige Analyse von A.M. Snodgrass, Archaeology and the Rise of the Greek State, Inaugural lecture, Cambridge 1977, 10-16 und ders., Archaic Greece, London 1980, Kap. 1; zum privaten Landbesitz siehe M.I. Finley, The Alienability of Land in Ancient Greece: A Point of View, in: Eirene 7, 1968, 25-32.

29 Hopkins (s. Anm. 21), 102, betont dies zu Recht: „Wir müssen nicht nur den Import von Sklaven, sondern auch die Vertreibung von Bürgern erklären.“ Wie ich bereits angedeutet habe, bringe ich das nicht mit der Einrichtung der Sklavengesellschaft, sondern mit ihrer Ausweitung in Zusammenhang. Was Athen betrifft, so war ich vermutlich der erste, der die herrschende Meinung von einem starken Niedergang des Bauerntums im 4. Jahrhundert korrigierte: Studies in Land and Credit in Ancient Athens 500-200 B. C., New Brunswick 1952, 79-87; vgl. mein Buch: Land, Debt, and the Man of Property in Classical Athens, in: Political Science Quarterly 68, 1953, 249-269 (= Economy and Society in Ancient Greece, London 1981, 62-76). Meine Argumente wurden im allgemeinen angenommen, z.B. von Cl. Mossé, La vie économique d‘Athènes au IVe siècle: Crise ou renouveau?, Praelectiones Pataviniae 1972, 135-144; V.N. Andreyev, Some Aspects of Agrarian Conditions in Attica in the Fifth to Third Centuries B. C., in: Eirene 12, 1974, 5-46, bes. 18-25; G. Audring, Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage der attischen Bauern im ausgehenden 5. und im 4. Jahrhundert v. u. Z., Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband 1977, 9-86, auf 35-43. Die Rolle des freien Landes bei der Entstehung der Sklaverei in der Neuen Welt ist noch umstritten: s. die ablehnenden Positionen von S. L. Engerman, Some Considerations relating to Property Rights in Man, in: Journal of Economic History 33, 1973, 43-65, und von O. Patterson, The Structural Origins of Slavery. A Critique of the Nieboer-Domar Hypothesis from a Comparative Perspective, in: V. Rubin/A. Tuden (Hrsg.), Comparative Perspectives on Slavery in New World Plantation Societies (Annals of the New York Academy of Science 292), New York 1977, 12-34, mit der wichtigen Einschränkung durch Mintz (s. Anm.26).

30 Jameson (s. Anm.22), 122-145.

31 Mintz (s. Anm.26), 257, zählt zu den Bedingungen, die der Einführung einer modernen Sklaverei entgegenwirken, eine „Polizeigewalt, die ausreicht, eine freie Bevölkerung gesetzlich-militärisch in Schach zu halten“.

32 Der einzige aus der ganzen Antike bekannte Beleg, von dem man hat sagen können, er impliziere einen Wettbewerb zwischen Sklaven und Freien, ist ein kurzes Fragment aus dem verlorenen Werk des Timaios, eines Historikers aus dem 3. Jh. v. Chr. (FGrHist 566F 11a, ap. Athenaios 6,264D): Mnason, ein Freund des Aristoteles, habe sich im rückständigen Lokris durch den Ankauf von 1000 Sklaven verhaßt gemacht, da sie die jüngeren Bürger ihres Lebensunterhaltes beraubten, den diese als Hausgehilfen der Älteren gehabt hatten. — Selbst wenn die Anekdote wahr ist, was keineswegs sicher ist, sagt sie noch nichts über Sklaven als Arbeitskräfte aus. W. E. Heitland, Agricola. A Study of Agriculture and Rustic Life in the Greco-Roman World from the Point of View of Labour. Cambridge 1921, 441, Anm.4, lehnt z.B. eine solche Interpretation schroff ab; die Anekdote beziehe sich ‚lediglich auf häusliche und persönliche Dienerschaft‘. Vgl. die differenziertere, doch ebenso negative Analyse von Vidal-Naquet (s. Anm. 19), 105f. Neuerdings hat G. Nenci, der zwar die Einzigartigkeit des Textes zugibt, einen einfallsreichen Versuch gemacht, aus ihm doch größere Bedeutung herauszupressen (hat mich aber damit nicht überzeugt): G. Nenci, II problema della concorrenza fra mandopera libera e servile nella Grecia classica, Annali della Scuola Normale di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia, 3.ser. 8, 1978, 1287-1300.

33 G. Mickwitz, Economic Rationalism in Graeco-Roman Agriculture, in: English Historical Review 52, 1937, 577-589 und ders., Zum Problem der Betriebsführung, bleiben hierzu grundlegend; vgl. G.E.M. de Ste. Croix, Greek and Roman Accounting, in: Studies in the History of Accounting, hrsg. v.A.C. Littleton und B.S. Yamey, London 1956, 14-74; R. Duncan-Jones, The Economy of the Roman Empire, Cambridge 1974, Kap. 2.

Antike Sklaverei

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