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Becker, Oskar

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Geboren 1889 in Leipzig, gestorben 1964 in Bonn. 1908/09 Studium der Physik und Chemie in Oxford, 1909–14 der Mathematik, Philosophie, Physik in Leipzig. 1914 Promotion in Mathematik bei Otto Hölder mit einer Arbeit zur geometrischen Axiomatik. 1922 Habilitation in Philosophie bei Edmund Husserl mit einer Studie zu den Grundlagen der Geometrie und Physik. 1928 außerordentlicher Professor in Freiburg, 1931 ordentlicher Professor in Bonn. Nach dem Krieg aus dem Hochschuldienst entlassen und 1951 wiederberufen bis zur Emeritierung 1955.

Becker war Philosoph, Grundlagenforscher und Historiker der Mathematik und Logik und gilt als einer der Begründer der Modallogik. Er entwickelt eine Phänomenologie-konzeption zwischen Edmund Husserl und Martin Heidegger. Beckers grundlagentheoretische Arbeiten zu den exakten Wissenschaften schließen besonders an Husserl an. In seiner Habilitationsschrift legt er eine philosophische Grundlegung der Geometrie vor, die eine Brücke vom allgemeinen Ansatz der transzendentalen Phänomenologie zur zeitgenössischen Mathematik und Physik schlägt (Becker 1923). Unter den mathematischen Theorien des Kontinuums, die er ausgehend von Husserls Begriff der definiten Mannigfaltigkeit analysiert, schließt er sich dem intuitionistischen Ansatz L. E. J. Brouwers an. Becker entwickelt eine Geometriebegründung, die nicht auf axiomatischer und mengentheoretischer Ebene, sondern schon bei vorwissenschaftlichen Erkenntnisleistungen des Menschen ansetzt. Mit Kant geht er davon aus, dass die Geometrie wenigstens partiell in der Anschauung fundiert ist, und zieht zur Rekonstruktion die husserlschen Konstitutionsanalysen zu Raum und Zeit heran. Er bezieht sich auf verschiedene Stufen der Räumlichkeit, um den Konstitutionsprozess der exakten geometrischen Idealgebilde in Sinne der Phänomenologie aufzuklären. Becker weist der euklidischen Geometrie einen apriorischen Sonderstatus zu und wendet sich wie in der Auseinandersetzung mit Hans Reichenbach gegen empiristische Deutungen. Die Annahme von Apriorizität für die lebensweltliche Raumanschauung steht für Becker nicht in Widerspruch zur Rolle nicht-euklidischer Geometrien in der Physik. Insbesondere mit Bezug auf Einsteins relativistische Physik arbeitet er an der phänomenologischen Aufklärung der Grundlagen physikalischer Gesetze.

Beckers Hauptwerk bietet eine philosophische Analyse der Grundlagen der Mathematik. Den Ansatzpunkt bildet der Grundlagenstreit um die Strategien zur Vermeidung der mengentheoretischen Antinomien (Becker 1927). Teile von Beckers Korrespondenz mit führenden Wissenschaftlern wie u.a. Arend Heyting, Hermann Weyl, Ernst Zermelo sind aus diesem Kontext erhalten (Peckhaus 2005). Ziel von Beckers Analysen ist eine Entscheidung zwischen David Hilberts Formalismus, bei dem die Mathematik axiomatisch formuliert und auf Basis einer Beweistheorie durch Widerspruchsfreiheitsbeweise abgesichert werden soll, und L. E. J. Brouwers Intuitionismus, nach dem die Rückführung aller mathematischen Erkenntnisse auf gedankliche Konstruktionen gefordert wird. Gegenüber Hilbert problematisiert Becker den Anspruch, in der Beweistheorie nur mit finiten Mitteln auszukommen. Der axiomatische Formalismus mit seinem Kriterium der Widerspruchsfreiheit ist für Becker in ontologischer Hinsicht problematisch, da er sich nicht auf phänomenologisch fassbare Sachverhalte bezieht. Die logische Zielrichtung des Ansatzes wird mit Hilfe einer Unterscheidung Husserls als die einer „Logik der Konsequenz“ charakterisiert. Becker hebt demgegenüber die auf Entscheidungsprobleme ausgerichtete „Logik der Wahrheit“ im Intuitionismus ab. Er bezieht auf der Grundlage der Phänomenologie Stellung für den Ansatz L. E. J. Brouwers. Dabei bringt er Husserls Prinzip der Ausweisbarkeit mit dem intuitionistischen Existenzkriterium der Konstruierbarkeit zusammen. Zusätzlich versucht er, durch umfangreiche philosophiegeschichtliche Analysen ein besseres Verständnis für die zeitgenössischen Begründungsansätze zu gewinnen. Mit in der Antike ansetzenden Interpretationen zum Begriff des Potentiell-Unendlichen ergänzt er seine Argumentation für den Intuitionismus. Die Hinweise auf die zeitliche Konstitution des Unendlichen bei Aristoteles und Kant zeigen für Becker die Bindung mathematischer Existenz an eine endliche Subjektivität an, die er von einem anthropologischen Standpunkt aus deutet. Um zu einem umfassenden Verständnis mathematischer Vollzüge zu gelangen, bezieht er auch lebensphilosophische Gesichtspunkte mit ein. Seine Konzeption konkreter Subjektivität versteht er dabei nicht im Sinne eines empirisch orientierten Anthropologismus, sondern als Kombination von Husserls transzendentaler Phänomenologie und dem hermeneutischen Ansatz aus Heideggers frühen Freiburger Vorlesungen.

Gegen das Kategoriensystem von Heideggers existenzialer Analytik hegt er jedoch Vorbehalte. Er kritisiert eine einseitige Fokussierung auf Geschichtlichkeit, die er in seinen philosophischen Aufsätzen (v.a. Becker 1963) durch eine dualistische Ontologie mit antagonistischen Seinsprinzipien auszugleichen versucht. In Hinblick auf die philosophischen Grundlagen der exakten Naturwissenschaften greift Becker dabei die Tradition des pythagoreischen Denkens auf. Ausgehend von ästhetischen Untersuchungen modifiziert er außerdem Heideggers Daseinsanalytik zu einer existenzialen Anthropologie, indem er zusätzlich sogenannte paraexistenziale Bestimmungen einführt. In Überlegungen zu einer entsprechenden „naturhaften“ Seite des Menschen bezieht Becker sich u.a. auf Otto Friedrich Bollnow, Max Scheler und Erich Rothacker und nimmt Impulse aus der Psychoanalyse auf. Im Kontext seiner Ontologie vertritt er auch eine nationalsozialistisch orientierte Rassentheorie, in der er sich vor allem auf Ludwig Ferdinand Clauß bezieht (Gethmann-Siefert u. Mittelstraß 2002, Hogrebe 2007). Beckers Wiederveröffentlichungen nach dem Krieg wurden von Bezügen zum Nationalsozialismus bereinigt.

Die logischen Schriften Beckers enthalten wichtige Beiträge zum Modalkalkül. 1930 stellt er verschiedene Modifikationen der Modallogik von Clarence Irving Lewis vor und analysiert Iterationen von Modalitäten. Er untersucht auch den intuitionistischen Logikkalkül Heytings im Verhältnis zum Modalkalkül und schlägt damit einen Weg ein, der in der späteren Logik bei Kurt Gödel u.a. bedeutsam wird. Zur modalen Semantik trägt er in den 1950er Jahren eine statistische Deutung der Modalitäten bei und entwickelt mit einem deontischen Kalkül – etwa zeitgleich zu Georg Henrik von Wright – eine normative Deutung (Becker 1952). Neben den formallogischen Analysen versucht Becker durch eine „philosophische“ Lehre von den Modalitäten eine weitere Perspektive auf den mathematischen Intuitionismus zu eröffnen und Gesichtspunkte für die Auseinandersetzung mit dem ontologischen Denken Nicolai Hartmanns und Martin Heideggers zu finden.

Beckers Werk zeichnet sich durchgängig durch die Verknüpfung philosophischwissenschaftstheoretischer Reflexionen mit historischen Untersuchungen aus. Vielfältige Studien zur Geschichte der Mathematik und Logik (z.B. Becker 1957), die wie seine Lehre einen Schwerpunkt in der Antike haben, haben Becker als Wissenschaftshistoriker bekannt gemacht. Mit seinen Arbeiten zu den Grundlagen der exakten Wissenschaften beeinflusste er insbesondere Paul Lorenzen und den Konstruktivismus der Erlanger Schule.

Literatur: Becker 1927, Becker 1952, Becker 1963, Gethmann-Siefert, Mittelstraß 2002, Peckhaus 2005

Jochen Sattler

Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert

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