Читать книгу Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert - Группа авторов - Страница 20

Blumenberg, Hans

Оглавление

Geboren 1920 in Lübeck, gestorben 1996 in Altenberge bei Münster. 1939 Abitur in Lübeck; obwohl katholisch getauft, wird ihm aufgrund seiner jüdischen Herkunft das Studium an regulären Universitäten verwehrt. Nach Kriegsende Studium der Philosophie, Germanistik und klassischen Philologie in Kiel. 1947 Promotion, 1950 Habilitation. Ab 1960 Professur in Gießen, ab 1965 in Bochum. 1970 Ruf an die Westfälische-Wilhelms-Universität in Münster, wo er bis zu seiner Emeritierung 1985 unter großem Interesse auch der außeruniversitären Öffentlichkeit lehrt.

Blumenberg lässt sich weder einer bestimmten Schule zuordnen, noch hat er selbst eine solche begründet. Zu seinen – in eigenen Worten – „Lebensthemen“ gehören die Modernetheorie, die Technikphilosophie, die philosophische Anthropologie, die Ästhetik und vor allem die von ihm selbst begründete Metaphorologie. Sein Werk umfasst rund 20 Monographien, zahlreiche hochbedeutsame Aufsätze und einen Nachlass von rund 40.000 Seiten.

Beständiger Referenzpunkt für Blumenberg ist die Phänomenologie (Blumenberg 2007); zudem zeichnet sich sein Werk durchgängig durch eine besondere Sensibilität für die rhetorische Dimension philosophischer Texte aus, die sowohl in der Analyse fremder Texte ausgewiesen als auch im eigenen Stil deutlich wird. Blumenbergs Werk beeinflusst das gesamte Spektrum der Kulturwissenschaften nachhaltig, vor allem seine ideengeschichtlichen Thesen und seine Metaphern- und Mythostheorie wirken breit. Blumenberg, Mitbegründer und entscheidender Ideengeber der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“, gilt als Vater der Rezeptionsästhetik; als Ratgeber des Suhrkamp Verlags gehört er bis zum Rückzug aus der Öffentlichkeit auch zu den einflussreichsten Impulsgebern in der deutschen Forschungslandschaft. Neben seinen großen Monographien sind es auch bedeutende Aufsätze, die in vielen Fällen seit Jahrzehnten als Standardreferenz für wichtige Thesen benutzt werden. Blumenberg beweist dabei literarisches Formbewusstsein und meidet anders als beispielsweise Habermas meist eine explizite Auseinandersetzung mit konkurrierenden Ansätzen.

Schon vor Kriegsbeginn beschließt Blumenberg, seine Exzerpte und Entwürfe in einem Zettelkasten zu sammeln. Nachdem dieser erste Zettelkasten im Krieg zerstört wird, beginnt Blumenberg nach Kriegsende mit einem neuen Zettelkasten, der bis zu seinem Tode auf gigantische Ausmaße anwächst. Der Nachlass lagert heute im Literaturarchiv in Marbach. Nach seinem Tod erscheinen zahlreiche Publikationen aus dem Nachlass, die teilweise als abgeschlossene Manuskripte, teilweise als nachträglich zusammengestellte Textsammlungen betrachtet werden müssen. Blumenberg betrachtete sich selbst auch als Autor und beweist in vielen kürzeren Texten einen tiefgründigen Humor.

Als erstes Hauptwerk kann der Text Paradigmen zu einer Metaphorologie (Blumenberg 1960) gelten, der ursprünglich auf einen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) hin konzipiert war, dann aber als eigenständige Publikation erschien. Blumenberg entfaltet hier die These, dass Metaphern nicht nur schmückendes Beiwerk sind, sondern als „Leitfossilien“ fungieren können. Gegen die These eines von der Form unabhängigen propositionalen Inhalts von Aussagen argumentiert Blumenberg hier mit der welterschließenden und damit kognitiv bedeutsamen Funktion von Metaphern: Metaphern leisten ein „Mehr an Aussageleistung“, sie sind nicht nur Restbestände – sozusagen Verschmutzungen einer auf verlustlos-begriffliche Darstellung zulaufenden Wissenschaft –, sondern Grundbestände. Besondere Bedeutung kommt dabei nach Blumenberg jenen Metaphern zu, die man als „absolute Metaphern“ bezeichnen kann; diese lassen sich nicht in Aussagesätze zurückübersetzen. Inwiefern Blumenberg damit die Begriffsgeschichte wesentlich erweitert oder aber ihre methodische Ausrichtung für unmöglich erklärt (Blumenberg 1998), ist umstritten.

In einem zweiten Hauptwerk, Legitimität der Neuzeit (Blumenberg 1966), entfaltet Blumenberg die These, dass das genuin moderne Konzept der Selbsterhaltung als Antwort auf einen Ordnungsschwund zu verstehen ist, der sich im Okkasionalismus der Hochscholastik andeutet. Da ein unberechenbar intervenierender Gott für die Bewältigung der Kontingenz keinerlei Orientierung bietet, wird dieser Orientierungsverlust mit der Neuzeit durch die Selbstbehauptung des Menschen beantwortet. Ein allmächtiger Gott, der sich nicht einmal mehr an die eigenen Gesetze zu halten hat, kann keine Orientierung bieten und muss dem Menschen einräumen, seine Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Dies aber bedeutet, dass die Neuzeit sich nicht gegen das scholastische Erbe gewendet entwickelt hat, sondern aus ihm erwachsen ist.

Versteht man die zentralen Begriffe der Moderne im Anschluss an Cassirer als Funktionsbegriffe, so erweisen sich diese nicht etwa als bloße Säkularisate christlicher Konzeptionen, sondern als genuin neue und vollständig immanenzorientierte Vorstellungen. Daraus ergibt sich für Blumenberg, dass wir in einem doppelten Sinne von einer Legitimität der Neuzeit sprechen können. Gegen Carl Schmitt verteidigt er die These, dass auch die Begriffe des Staatsrechts zwar vormoderne Vokabeln benutzen, diese jedoch vollständig neue Funktionen übernehmen und sich folglich von ihrer historischen Herkunft vollständig emanzipiert haben. Entsprechend weist Blumenberg einen Säkularisierungsbegriff, der die Kontinuität einer Substanz behauptet (nach Blumenberg z.B. Carl Schmitt oder Karl Löwith), vehement als Instrument der Delegitimierung einer Epoche zurück. Doch ist nicht nur die Neuzeit legitim; sie bringt zugleich eine eigene Vorstellung von Legitimität hervor, nämlich eine nicht transzendenzorientierte, sondern funktionale Legitimität, die auf den Beitrag zur Verarbeitung konkreter Herausforderungen verweist. Damit wird auch Martin Heideggers Theorie der Moderne widersprochen: Selbstbehauptung ist gerade keine seinsvergessene Bemächtigung des Menschen, sondern die legitime Notwehr eines Wesens, dessen Existenz stets unwahrscheinlich und gefährdet bleibt.

Damit geht eine ebenfalls vor allem gegen Heidegger formulierte philosophische Interpretation der Technik einher, die in einem Aufsatz mit dem Titel „Lebenswelt und Technisierung unter den Aspekten der Phänomenologie“ (Blumenberg 1963) ausgeführt wird. Blumenberg bestimmt Technik hier als „Rückgriff auf bereits Geleistetes“. Ein solcher Rückgriff geschieht jedoch nach Blumenberg bereits in den rudimentärsten Vollzügen des Bewusstseins, nämlich durch die Formalisierung von Gegenständen als je etwas Bestimmtes. Dies aber bedeutet, dass Technisierung und Lebenswelt nicht einfach als Gegensätze verstanden werden können, sondern immer schon Formalisierung stattfindet, wo immer sich der Mensch in der Welt orientiert. Technisierung in diesem philosophischen Sinne ist folglich nicht das Signum einer auf Verfall zulaufenden Moderne. Technische Innovationen wie beispielsweise ein Telefon mögen zwar zu Beginn als Fremdkörper in der Lebenswelt erlebt werden, werden jedoch schnell genuiner Bestandteil von Lebenswelt. Lebenswelt wird damit als Grenzbegriff gedeutet, der ein Weltverhältnis beschreibt, das sich immer erst im Rückblick analysieren lässt; sie kann weder einen historischen noch einen sozialen Teilausschnitt der Welt bezeichnen (Blumenberg 2010).

In Die Genesis der kopernikanischen Welt (Blumenberg 1981) rekonstruiert Blumenberg die Entstehung nicht nur der kopernikanischen Kosmologie, sondern einer Welt, die sich im umfassenden Sinne als „kopernikanisch“ beschreiben lässt: Die kopernikanische Welt operiert mit sich bewegenden Beobachterpositionen – ohne Fixpunkt – und gewinnt ihre Einsichten weniger durch bloße Betrachtung im Sinne der antiken theoria, sondern durch ein Umkreisen der Objekte. Der Mensch muss nun entgegen der antiken Vorstellung damit rechnen, dass gerade seine Position zur Beobachtung ungeeignet ist und daher eventuell verändert werden muss, beispielsweise durch die vielen Instrumentarien des Sichtbar-Machens. Den Endpunkt dieser Einsicht stellt die Diagnose dar, dass das menschliche Leben in den unendlichen Weiten des Alls einen extrem unwahrscheinlichen und vergleichsweise kurzlebigen Zufall darstellt.

Die anthropologischen Positionen, die in den frühen Arbeiten impliziert sind und eher beiläufig explizit benannt waren, rücken in späteren Werken ins Zentrum. Bereits in seinem Aufsatz „Anthropologische Annäherung an die Rhetorik“ (Blumenberg 1971) argumentiert Blumenberg, dass die Rhetorik nicht als bloßes Gegenstück der Philosophie betrachtet werden kann, sondern als entschleunigende und zivilisierende Formgebung eine Leistung darstellt, die sich aus der anthropologischen Not erklärt, auch unter Bedingungen der Unsicherheit in schwer überschaubaren Möglichkeitshorizonten zu handeln. In Arbeit am Mythos (Blumenberg 1979) entfaltet Blumenberg eine Theorie menschlicher Mythenbildung und eine Theorie der Evolution menschlicher Imaginationssysteme. Entscheidend für die Weltbewältigung des Menschen und seine Auseinandersetzung mit dem „Absolutismus der Wirklichkeit“ ist nach Blumenberg die „Produktion von Bedeutsamkeit“, das aktive Hineinlesen von Figuren in die Welt. Diese verteidigt den Absolutismus der Wünsche, bietet Entlastungen und die Möglichkeiten, mögliche künftige Situationen durch literarische Simulation durchzuspielen. Die Figuren der Bedeutsamkeit verleihen unserer Erfahrung narrative Strukturen, plausible Sinnzusammenhänge oder auch nur eine bestimmte Prägnanz. Blumenberg liefert – in expliziter Abgrenzung zu Cassirers Philosophie der symbolischen Formen – keinen abschließenden Formenbestand, der eine teleologische Entwicklung impliziert, sondern eine lose Zusammenstellung: Gleichzeitigkeit, latente Identität, Kreisschlüssigkeit, Wiederkehr des Gleichen etc. Die Evolution dieser Figuren der Bedeutsamkeit verläuft nach Blumenberg vor allem durch „Umbesetzung“. Durch Umbesetzungen werden vorhandene Elemente neu arrangiert, umgruppiert oder kombiniert. Dabei entwickeln sich die Imaginationssysteme nach Blumenberg nicht etwa von einem besonders deutlichen Ursprungsmodell zu immer weiter ausdifferenzierten Formen, sondern tendieren im Gegenteil dazu, die eigene Figur in aller Prägnanz und Einsehbarkeit hervorzubringen. Im Moment ihrer höchsten Erkennbarkeit und Klarheit verlieren die Figuren dann ihre bedeutsamkeitsstiftende Kraft. Der Mythos wird damit gegen den Logos rehabilitiert, seine Hervorbringung bleibt jedoch Arbeit.

In Höhlenausgänge (Blumenberg 1989) rekonstruiert Blumenberg, wie die Bedeutsamkeitsfigur des Auszugs aus der Höhle, angefangen von Platons Höhlengleichnis, immer neue Umbesetzungen erfährt. Wittgensteins Bild vom menschlichen Verstand im Gefängnis der Sprache, den es wie eine Fliege im Fliegenglas zu befreien gilt (Wittgenstein, 1953, § 309), erweist sich als späte Form eines Höhlengleichnisses.

In vermeintlich literarischen Arbeiten rücken auch Techniken der Produktion von Bedeutsamkeit in den Fokus, die durch klassische Autoren wie Goethe (Blumenberg 1999) oder Fontane (Blumenberg 1998a) angewandt werden. Selbst in seinen Analysen von Anekdoten oder Zeitungsnachrichten sieht man mit Blumenberg einen Philosophen am Werk, der den menschlichen Erfindungsreichtum in der Produktion von Bedeutsamkeit mit Ironie und Wohlwollen gleichermaßen beobachtet. Die Philosophie löst sich so von dem Anspruch, Richter über andere Wissenschaften zu sein und wird zu einer Disziplin der Aufmerksamkeit.

Die Wirkung seines Werkes verlief lange eher untergründig, da sich Blumenberg seit den achtziger Jahren stark zurückzog und seine großen Monographien unkommentiert für sich selbst sprechen ließ. Da er das Ziel der Philosophie weniger im Verhandeln einzelner Thesen als vielmehr im Eröffnen neuer, ungewohnter Perspektiven sah, eignete sich sein Werk nur bedingt für öffentlichkeitswirksame Debatten. Die enorme Wirkung seiner Texte wird daher vor allem dort deutlich, wo Kulturwissenschaftler und Philosophen an seine Arbeiten anschlossen und Ansätze und Motive fortentwickelten – wie beispielsweise Ralf Konersmann mit dem Wörterbuch der philosophischen Metaphern (Konersmann 2007).

Literatur: Blumenberg 1981, Blumenberg 1986, Blumenberg 1998, Heidenreich 2005, Müller 2005, Wetz, Timm 1999

Bibliographie: Wetz, Timm 1999

Felix Heidenreich

Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert

Подняться наверх