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Eine beliebige Bushaltestelle im Schweizer Mittelland zu einem beliebigen Zeitpunkt. An der Seitenwand hängen Plakate, die für Veranstaltungen werben. Für eine klassische Soiree, ein Kindertheater, ein Musical, drei Popkonzerte und vier Partys, auf denen DJs ebenfalls Popmusik auflegen. Vor den Plakaten warten acht Personen auf den Bus, und sechs davon hören Musik. Gefragt, was das ist, was sie hören, antworten alle sechs mit Namen von Popmusikern. Es ist offensichtlich: Pop ist, sechzig Jahre nach seiner Entstehung in den USA, auch bei uns zur Musik geworden, die unseren Alltag begleitet und in der wir unser Leben wiedererkennen. Pop ist unsere Volksmusik, und ebenfalls so gut wie an den Bushaltestellen des Mittellandes erkennt man das am Programm der kommerziellen Radiosender, die eben nicht Ländler spielen oder volkstümlichen Schlager, sondern internationalen Pop.

Es heisst, die Nachfrage bestimme das Angebot, aber da wird die Sache kompliziert. Klar, das Publikum hat heute mehr Musik zur Verfügung denn je, und es war auch noch nie so einfach, ein Lied zu produzieren und zu veröffentlichen. Bei Soundcloud etwa, einem Streamingdienst mit Sitz in Berlin, gibt es über hundert Millionen Titel gratis, und jede Minute wird nach Angaben des Dienstes von den vierzig Millionen registrierten Usern zwölf Stunden neue Musik hochgeladen. Doch all diese Musik wird von kaum jemandem gehört. Eine Studie über den Onlinehandel mit Musik im Jahr 2008 unterstreicht den Befund: Damals standen rund dreizehn Millionen Songs im Internet zum Verkauf. Zehn Millionen wurden kein einziges Mal verkauft, und 0,4 Prozent der Songs sorgten für über achtzig Prozent der Einnahmen. «Das Internet hat nichts daran geändert, dass die meisten Leute das hören wollen, was alle anderen auch hören», schreibt John Seabrook in «The Song Machine», seiner Recherche über die Massenproduktion von Hits in der Musikindustrie: «Die Hits sind grösser denn je.»

So mag es eine erfreuliche Nachricht sein, dass die Musikbranche zuletzt ihren fünfzehnjährigen Niedergang stoppen konnte – dank des Streamings, aber auch dank eines enormen Booms im Konzertgeschäft. Weniger erfreulich ist, dass davon, in den virtuellen Musikshops wie auch auf der Bühne, letztlich nur ein kleiner, exklusiver Kreis von Künstlern profitiert. Und dahinter verwandelt sich Pop zurück in eine folkloristische Kultur, in ein riesiges, unerforschliches Hinterland. Weitab der glitzernden Kulissen des Starsystems dienen die Lieder hier dem Alltagsgebrauch ganz gewöhnlicher Menschen. Hier spielen die Sänger, DJs und Bands eine meist gewöhnliche, vertraute Musik; eine Musik, die ihnen mehr ein sozialer Zeitvertreib ist als eine künstlerische Ambition. Verdienen werden sie damit nie viel mehr, als ein rühriges Profil auf Bandcamp, ein schmales Konto bei der Urheberrechtsgesellschaft und die Hutkollekte hergeben. Diese Musiker führen ein Künstlerleben mehr oder weniger innerhalb der eigenen Community – zwischen den immer gleichen Clubs, Kaffeehaus- und Wohnzimmerkonzerten sowie, wenn es hochkommt, der Main Stage am lokalen Open Air.

Das klingt und ist nicht glamourös. Wie viele Leute aber an diesem Leben trotzdem teilhaben wollen, zeigt sich auch in der Schweiz immer wieder. Für die «Demotape Clinic» etwa, einen Nachwuchswettbewerb des Migros-Kulturprozents, bewerben sich jedes Jahr rund siebenhundert Bands. Und im Rockförderverein Basel sind über fünfhundert Acts aus der Stadt und Region angeschlossen. Der Verein ist einzigartig in der Schweiz, aber in anderen grossen Agglomerationen des Landes wie in Zürich, Genf, Lausanne oder Bern dürfte die Dichte an aktiven Popmusikern genauso gross sein. Sie alle bilden eine Volkskultur auch darum, weil sie seit den Neunzigerjahren keine Subkultur mehr sind. Die Bandprobe ist gesellschaftlich nicht weniger akzeptiert als der Jassabend, und längst spielt Pop in einem politisch breit abgestützten Netzwerk von professionell oder auch ehrenamtlich geführten Bühnen. Ob nun die Schülerband im Jugendhaus vor den Peers aufspielt, oder ob fünf Mittvierziger das Stadtfest mit alten und neuen Hits von Pearl Jam bis Adele beschallen: Die meisten dieser Konzerte locken nicht eingeweihte «Fans» an, die mit einer bestimmten Band auch an einem bestimmten Lebens- oder Gesellschaftsentwurf riechen wollen. Pop fördert nicht mehr die Distinktion, sondern führt die unterschiedlichsten Leute zusammen.

Bezeichnend ist, dass die Sprache dieser neuen Volkskultur global ist. Klar, da sind lokale Dialekte vernehmbar, doch auch sie ruhen jederzeit griffbereit im grossen und ganzen Archiv der Cloud und sind damit nur noch als Tradition lokal, nicht mehr in der handlichen Anwendung per Klick. So hat, mit einigen Ausnahmen, auch der Schweizer Mundartpop aufgehört, über die Schweiz zu erzählen, und dekliniert die gleichen Befindlichkeiten durch, wie sie auch ein Justin Bieber verhandelt. Das ist ein bemerkenswerter Widerspruch: Pop bringt als Volkskultur zwar sehr viele Leute zusammen, aber nicht dadurch, dass er von einem «Wir» erzählt, sondern immer wieder von einem «Ich». Aber dieses «Ich» ist wiederum eingeschrumpft auf den kleinsten globalen Nenner: Es ist nämlich gerade glücklich oder – häufiger – unglücklich verliebt und geht durch melancholische Phasen. Es will aber trotzdem nicht die Welt verändern, sondern sich selbst treu bleiben.

Aber haben das Volkslieder nicht schon immer geleistet, einfach nicht auf globaler, sondern auf lokaler Ebene? Wer sich in einem solchen Global-Ich wiedererkennt, drückt sich mit einem Lied von Justin Bieber oder Rihanna genauso aus, wie es unsere Vorfahren mit einem Volkslied wie «Stets i truure» taten. Und tatsächlich werden ja alle diese Lieder im Augenblick ihres Erscheinens zum Allgemeingut: Die einschlägigen Seiten im Internet bunkern ihre Akkordfolgen und Texte, und auf Youtube gibt es die Tutorials, in denen man lernen kann, wie man sie richtig spielt. Zum Beispiel «Hello», den Welthit von Adele vom Herbst 2015. Es gibt auf Youtube mehrere hundert Versionen des Songs, es gibt ihn auf Spanisch, auf Russisch und auf Suaheli. Es gibt «Hello» als Pianosolo und auf der ukrainischen Laute. Es gibt «Hello» als Reggae, als Metal und als Rap. Es gibt «Hello» in der geschmeidigen Soulversion eines Leroy Sanchez, die von 29 Millionen Menschen angesurft wurde, oder von Jessica Muniz, deren melodramatisch vor einer Holzbrücke eingesungene Version zum guten Glück nur 108 Mal gesehen wurde.

Das Internet gleicht hier einem virtuellen Hootenanny, an dem alle zusammenkommen, um ein paar Lieder zu singen, die jeder kennt. Und niemand hat diesen Sachverhalt so liebevoll und ironisch auf den Punkt gebracht wie der US-Songwriter Beck Hansen, als er 2012 seinen «Song Reader» veröffentlichte. Denn dieses Album gab es nicht als LP oder CD oder Download, sondern nur als Notenbuch, und die erste Single war eine vierseitige Partitur in G-Dur. Ein nostalgisches Unterfangen, gewiss, doch gab es zum sorgfältig manufakturierten Büchlein auch eine gleichnamige Website, auf der Hansen nun die Videoclips mit all den Versionen veröffentlichte, die bald aus aller Welt bei ihm eintrafen. Und was für ein wunderbarer Einblick das war in die Küchen und Stuben der weltweiten Basisgitarrendemokratie! Die neueste Single von Beck direkt vom Stubenklavier in Rümmelsheim oder aus der Einbauküche in

St. Petersburg. Der stromlose Weltpop vor der Digicam als Hausmusik der digitalen Nomaden.

All diese Direktverschaltungen einer neuen Heimeligkeit mit dem World Wide Web passen gut zum Phänomen, dass Folk seit einigen Jahren auch als musikalischer Stil boomt. Bands wie die Fleet Foxes, Bon Iver oder Mumford & Sons verkaufen ihre Lieder in millionenfacher Auflage und spielen in grossen, ausverkauften Sälen. Zu ihrem halb akustischen Hymnensound tragen sie Bart und Bauernhemd und zitieren damit jene regionale, ländliche Verwurzelung herbei, die ihr globalisierter Folkpop nicht mehr hergibt. Aber das ist natürlich kein Widerspruch, sondern ein Erfolgsrezept: Folk erreicht die Massen darum, weil er eine Gegenerzählung zur Globalisierung schreibt, die global lesbar ist. Der «Song Reader» von Beck war der perfekte Kommentar dazu: Denn der neuen Folkbasis genügt es eben nicht, zu Hause auf dem Sofa diese Lieder zu singen; die Welt soll auch sehen, wie das Sofa aussieht, und hören, wie schön das Lied nun klingt. Das also ist Pop als Volkskultur, und vice versa. Das ist Cocooning als Castingshow, ein Rückzug ins Private, der wahrgenommen und bewertet werden will. «Thanks for sharing», schreiben noch die verschupftesten der Adele-Adepten zu ihrer Version von «Hello».

Eines fällt auf an all diesen halbanonymen Menschen und ihren Versionen von «Hello»: So gut wie nie verstehen sie ihr Cover als Spiel mit dem Original oder sogar als Parodie. Sieht man sich ähnliche Videos an, die Fans von Madonna, Michael Jackson oder Prince gemacht haben, den Superstars aus den Achtzigerjahren, zeigt sich ein ganz anderes Bild: Eine belustigte Distanz prägt die meisten Filmchen, die Sängerinnen und Tänzer eifern dem Star nicht einfach nach, sondern treten bewusst als Epigonen auf, die natürlich scheitern müssen. Es ist, als liessen sie die herrlichen Identitätsangebote, die ihnen die Stars machen, in die Realität zurückfallen: Wenn sich Madonna in «Hung Up» (2005) mit 47 Jahren noch einmal als belastbare Stretcherin und Turnerin profilierte, so kann man zusehen, wie sich ihre real existierenden Verkörperungen mitten in der Performance schon mal im Schritt das recht verschwitzte Trikot richten müssen. Die Performance der Stars prallt so aus einiger Fallhöhe im Alltag der Internetgemeinde auf. Doch es ist nicht so, dass der Star darum banal würde. Im Gegenteil: Der Vorgang macht beide grösser, die Banalität wie den Star. Es ist die pure Popmagie.

Bei Adele sind die wenigen Parodien schrill, sogar bösartig. Die meisten Videos zeigen aber Sängerinnen und Sänger, die sehr bemüht sind, sich selbst auszudrücken mit ausgerechnet einem der durchgenudeltsten Radiohits der letzten Jahre. Gut, man könnte sagen, in den Songs der britischen Soulsängerin gehe es gerade um den authentischen Gefühlsausdruck, während Madonna ja mit verschiedenen Identitäten gearbeitet habe. Das stimmt natürlich, aber vielleicht ist es kein Zufall, dass der grösste Popstar der Gegenwart das alte Popspiel um die Frage, wer man auch noch sein und wie man auch noch leben könnte, nicht mehr mitspielt.

Adele verkauft Echtheit, Bodenständigkeit und Identifikation. Es sind die Werte einer Volkskultur. Aufdatiert wurden sie durch und für die moderne Castinggesellschaft, in der es eben nicht um die schönsten Lebensentwürfe geht, sondern darum, das allgemein bekannte Programm möglichst als Klassenbester zu durchlaufen.

Aber natürlich gibt es die, die dabei nicht gesehen werden. Menschen wie Jessica Muniz mit ihren 108 Views. Aber da ist ein Künstler, der sich gerade für die Sperr- und Todeszonen der Aufmerksamkeitswirtschaft interessiert. Er heisst James Hinton, nennt sich The Range und sampelt für seine eleganten elektronischen Songs die Stimmen, wie sie aus dem Pophinterland zu ihm kommen. «Hier gibt es eine viel breitere Palette an Gefühlen und Geschichten als auf der Oberfläche von Youtube», hat Hinton in einem Interview erklärt, «und man bekommt es mit wirklichen und interessanten Dingen zu tun.» Der 27-jährige Amerikaner hat also in den Tiefen des Internets nach Originalen gefahndet, genau so, wie Harry Smith für seine berühmte «Anthology of American Folk Music» von 1952 im unüberblickbaren Wust der alten Folkmusik die wunderlichsten und ergreifendsten Stimmen aufspürte. Die «Anthology» wurde zu einer der einflussreichsten Liedersammlungen der Geschichte, sie beschwor eine Gegenwelt zum Alltag, das «old weird America». Und entwarf so in 84 seltsamen, betörenden Folkaufnahmen den Mythos vom Rock ’n’ Roll.

Vielleicht lässt sich davon lernen. Wenn Pop aus der Volkskultur wieder herausfinden will, muss er ihr unwegsamstes Gelände erforschen. Da fährt zwar kein Bus hin. Aber vielleicht beginnen die Appalachen ja schon auf der 28. Resultatsseite unserer nächsten Googlesuche. Wer geht mit ins new weird Web?

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