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Deutsche Wörter aus dem Orient in der „indischen Geschichte“ Ral und Damajanti von Friedrich Rückert (dvandva, bahuvrīhī, karmadhāraya)

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Marina Foschi Albert

Edward Saids bekannte Kategorie „Orientalismus“1 ist nicht unumstritten. Sie wird beispielsweise von Polaschegg2 für unbrauchbar gehalten, wenn es darum geht, den zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland herrschenden Orient-Diskurs zu beschreiben. Nach Polaschegg kann die Situation des Zeitalters vor der Kolonialpolitik vielmehr durch die Kategorie „anderer Orientalismus“ beschrieben werden. Der andere Orientalismus erkenne den Orient als vertraute Kultur, um sich ihn anzueignen. Die dazu führenden Wege heißen Literatur, protestantische Theologie und historisch-vergleichende Sprachwissenschaft. Auch Messling und Ette3 widersprechen Saids These, der europäischen Philologie sei eine wesentliche Verantwortung für die Entwicklung eines rassistischen Orientbilds zuzuschreiben. Sie weisen vielmehr darauf hin, dass es schon im 19. Jahrhundert philologische Ansätze gab, die eine Vorstellung der Alterität anbahnen. Eine positive Einschätzung hinsichtlich der Toleranz von deutschen Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheint Said selbst zu teilen, als er im Vorwort zur 2003 Neuausgabe seines Werks4 die Vision der Weltliteratur hervorhebt, die u.a. bei Wolf, Goethe, Humboldt, Herder heranwächst. Die Frage, der hier nachgegangen wird, ist, ob auch Friedrich Rückert, orientinspirierter Dichter und Orientalist von Beruf, einen gebührenden Platz in diesem „alternativen Orientbild“ verdienen kann.

Rückerts sprachbedingter Blick auf den Orient scheint alles andere als ein konventioneller und pointierter zu sein. Er betrachtet die Sprachen der orientalischen Dichtung, vor allem die arabische, persische und indische, vielmehr als besonders leistungsfähige Ausdrucksmittel der Poesie, wobei er die poetische Sprache als das privilegierte Mittel ansieht, durch welches der menschliche Geist zum gegenseitigen Verständnis unter allen Völkern beitragen kann. Seine aufgeklärte Perspektive auf die orientalische Dichtung kostete Rückert vermutlich seinen dichterischen Ruf. Heute ist er als Lyriker so gut wie vergessen. Die Aktualität seiner Denkweise wurde allerdings in mehreren Gedenkartikeln anerkannt, die 2016 zu seinem 150. Todestag erschienen sind.5 Seine Aktualität bestehe u.a. darin, wie halb humorvoll geschrieben wurde,6 dass er schon damals wusste, „wie die Integration von Flüchtlingen gelingen kann.“

Diese Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile, in denen es jeweils um Rückerts Rezeption und um seine Auffassung von Sprache und Philologie mit besonderem Augenmerk auf seine Tätigkeit als Übersetzer aus den orientalischen Sprachen geht (1). Es soll danach an einem konkreten Beispiel – der Wortbildung des Sanskrits – Rückerts Programm gezeigt werden, durch Aneignung fremdsprachiger Ausdrucksmöglichkeiten aus dem Orient, die deutsche Sprache zu bereichern und „Universalpoesie“ zu verwirklichen: So wird in (2) die Wortbildung des Sanskrits in großen Zügen präsentiert, um eine Hypothese über die Übertragung fremder Mechanismen von altindischen Wortbildungsformen in Rückerts Nachdichtung Ral und Damajanti (1838) zu erstellen (3). Es werden schließlich die Ergebnisse der Wortbildungsanalyse derselben präsentiert, wobei es um das Verhältnis von „fremden“ dvandva- und bahuvrìhì-Bildungen und „typisch deutschen“ karmadhāraya- Komposita geht (4).7

Rückert als Dichter und Orientalist: die Aufgabe der Philologie

Rückert war ein Virtuose der lyrischen Form und verfasste in Versen auch Texte anekdotischer und moralischer Natur. Sein dichterisches Werk steht zum großen Teil unter dem Einfluss des Orients, darunter die Gedichtsammlungen Ghaselen nach Dschelaleddin Rumi (1819) und Östliche Rosen (1821) (inspiriert von Goethes West-Östlichem Divan) sowie seine Morgenländische Sagen und Geschichten (1837). Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts war er ein sehr populärer Dichter: Sein sechsbändiges Lehrgedicht Weisheit des Brahmanen (1836/39) und die Gedichtsammlung Liebesfrühling (1844) gehören zu den meistgelesenen Büchern seiner Zeit. Rückert hat kein in sich geschlossenes, größeres Werk verfasst8. Er publizierte vor allem in kleinformatigen Taschenbüchern und versuchte dabei, aus finanziellen Gründen so viele Gedichte wie möglich zu platzieren. Die Fülle und Verschiedenartigkeit seiner Produktion fiel schon in seiner Zeit negativ auf. So schrieb etwa der Kritiker Wilhelm Müller (1824):

Es scheint wahrlich, als triebe Rückert die Poesie […] als eine Fabrik: Heut wollen wir hundert Sonette anfangen, die werden übermorgen fertig; dann kommen ein paar Schock Epigramme daran, dann liefern wir orientalische Arbeit, einige Dutzend Ghaselen, und daß wir nicht aus der Übung kommen, lassen wir zu guter letzt italienische Ware folgen.9

Rückert ist heute insgesamt besser bekannt im Kreis der Orientalisten als im Germanistenbereich,10 wo seine dichterische Produktion als „Epigonenlyrik“ eingestuft11 und als „Gartenlauben-Dichtung“ abgewertet wird12. Sein Name zirkuliert vor allem dank der zahlreichen Vertonungen seiner Lieder, darunter diejenigen von Fanny Mendelssohn-Hensel.13 In einer Zeit, wo Romane und Reisebeschreibungen sehr beliebt waren, zeigte Rückert keine Duldung für Unterhaltungsliteratur. Als „Polenlieder“ zur Mode wurden,14 weigerte er sich, sich mit dem Genre zu beschäftigen, obwohl er seinen früheren poetischen Ruf der patriotischen Geharnischten Sonette verdankte15. Stattdessen konzentrierte er seine Produktion auf Übersetzungen und Nachdichtungen aus den orientalischen Sprachen. Damit stieß er auf Unverständnis. In den Blättern für literarische Unterhaltung hieß es 1843, Rückert sei „fast außer Zusammenhang mit der übrigen deutschen Dichterwelt“. Sein Versuch, bestimmte Strukturen der orientalischen Sprachen zu verdeutschen, verursachte scharfe Kritik an seinem Stil, z.B. gegen „Geschmacklosigkeiten“, „ungeschickte Wortstellung“, „triviale Sprache“, wovon 1840 in den Hallischen Jahrbüchern für Deutsche Wissenschaft und Kunst die Rede war.16

Rückert betrachtete Sprachen als Ausdrucksmittel des menschlichen Geistes. Sprachkenntnis und die Kenntnis der Poesie fremder Völker und Zeiten konnten seiner Ansicht nach zur allgemeinen Weltversöhnung beitragen.17 Seine Vorstellung über Sprache zeigt sich im folgenden Gedicht (Nr. 297) aus der Sammlung Die Weisheit des Brahmanen (1836-1839): Sprachen vereinigen in sich ein universales Element und ein eigenartiges Element: den menschlichen Geist (I, 2) und die „Seele“ des jeweiligen Volks (I, 9):

Mit jeder Sprache mehr, die du erlernst, befreist

Du einen bis daher in dir gebundnen Geist,

Der jetzo tätig wird mit eigner Denkverbindung,

Dir aufschließt unbekannt gewes’ne Weltempfindung,

Empfindung, wie ein Volk sich in der Welt empfunden;

Nun diese Menschheitsform hast du in dir gefunden.

Ein alter Dichter, der nur dreier Sprachen Gaben

Besessen, rühmte sich, der Seelen drei zu haben.

Und wirklich hätt’ in sich nur alle Menschengeister

Der Geist vereint, der recht wär’ aller Sprachen Meister.18

Rückerts Auffassung von Sprache als Einheit in der Vielheit, die er der Naturphilosophie Johann Jakob Wagners (Organon der menschlichen Erkenntnis, Erlangen, 1830)19 entnahm, wird in seiner 1811 vorgelegten Dissertation De idea philologiae (Über den Begriff der Philologie) postuliert. Wie im Abschnitt 4 seiner Dissertation zu lesen ist, widerspiegelt sich die natürliche Dichotomie zwischen Wesen und Form in der Sprache:

Lingua mundi humani interni ideoque mundi externi imago, ut una quidem et tota, in ipsa mente consistit, sed forma duplici ex mente prodit, sono et litera. Sonus et litera pariter in se effingunt mundi ideam, sonus fluens in tempore, litera consistens in spatio, sonus per aurem ad mentem loquens, aurem ad mentem loquens, litera per oculos.20

Die wesentliche Universalität der Sprache zeigt sich nach Rückert dadurch, dass Sprache Organ der menschlichen Erkenntnis sowie Ausdruck des menschlichen Geistes ist. Rückerts Vorstellung der Philologie stimmt nicht mit derjenigen seiner Zeitgenossen überein, die durch etymologische Untersuchungen die Ursprache oder gemeinsame Sprache zu entdecken suchten. Sein Interesse gilt der lebendigen Sprache und nicht deren Beschreibung, wie „die Sprache“, die Hauptfigur des Gedichts Die Sprache und ihr Lehrer, ihrem „Lehrer und Meister“ erklärt:

Die Sprache ging durch Busch und Gehege,

Sie bahnte sich ihre eigenen Wege.

Und wenn sie einmal verirrt im Wald,

Doch fand sie zurecht sich wieder bald.

Sie ging einmal den gebahnten Steg,

Da trat ein Mann ihr in den Weg.

Die Sprache sprach: Wer bist du dreister?

Er sprach: Dein Lehrer und dein Meister.

Die Sprache dacht’ in ihrem Sinn:

Bin ich nicht selber die Meisterin?

Aber sie ließ es sich gefallen,

Ein Streckchen mit ihrem Meister zu wallen.

Der Meister sprach in einem fort,

Er ließ die Sprache nicht kommen zum Wort.

Er hatt’ an ihr gar manches zu tadeln,

Sie sollte doch ihren Ausdruck adeln.

Die Sprache lächelte lang’ in Huld,

Endlich kam ihr die Ungeduld.

Da fing sie an, daß es ihn erschreckte,

Zu sprechen in einem Volksdialekte.

Und endlich sprach sie gar in Zungen,

Wie sie vor tausend Jahren gesungen.

Sie konnt’ es ihm am Maul ansehn,

Daß er nicht mocht’ ein Wort verstehn.

Sie sprach: Wie du mich siehst vor dir,

Gehört’ das alles doch auch zu mir;

Das solltest du doch erst lernen fein,

Eh’ du wolltest mein Lehrer sein.

Drauf gingen sie noch ein Weilchen fort,

Und der Meister führte wieder das Wort.

Da kamen sie, wo sich die Wege theilten,

Nach jeder Seit’ auseinander eilten.

Die Sprache sprach: Was räthst nun du?

Der Meister sprach: Nur gerade zu!

Nicht rechts, und links nicht ausgeschritten;

Immer so fort in der rechten Mitten!

Die Sprache wollt’ einen Haken schlagen,

Der Meister packte sie beim Kragen:

Du rennst mein ganz System über’n Haufen.

Wenn du so willst in die Irre laufen.

Die Sprache sprach: Mein guter Mann,

Was geht denn dein System mich an?

Du deutest den Weg mir mit der Hand,

Ich richte mich nach der Sonne Stand;

Und wenn die Stern’ am Himmel stehn,

So lassen auch die mich nicht irre gehn.

Macht ihr nur keinen Dunst mir vor,

Daß ich sehn kann den ewigen Chor.

Doch daß ich jetzo mich links will schlagen,

Davon kann ich den Grund dir sagen:

Ich war heut’ früh rechts ausgewichen,

Und so wird’s wieder ausgeg lichen.21

Im Gedicht wird Sprache als ein alle „Volksdialekte“ (I, 20) aller Zeiten umfassendes, lebendiges Wesen repräsentiert, die sich in den unterschiedlichen Formen manifestiert, welche die Sprachen der Welt im Laufe der menschlichen Geschichte übernahmen. In ihrer naturgemäßen Entwicklung orientiert sich die lebendige Sprache an dem „Stand der Sonne und der Sterne“, nicht an grammatischen Vorschriften (vgl. Die Sprache und ihr Lehrer, II, 16-17). Rückert betrachtet Poesie als die älteste Ausdrucksform aller Völker. In den lyrischen Formen werden alte Verwandtschaften zwischen den Sprachen sichtbar, die sich im Laufe der Geschichte auseinanderentwickelt haben.22 Formale Beziehungen werden durch Reim und Metrik auch zwischen Wörtern erstellt, die aus verschiedenen Wortfeldern stammen.23 Philologische Arbeit stellt für Rückert die Basis für die Übersetzungsarbeit dar, wobei Ziel der Übersetzungsarbeit ist, die Universalsprache der Poesie zu konstruieren, die das kulturelle Gesamtvermögen der Menschheit zu vermitteln vermag.24 Nur die Universalsprache kann – im erwähnten Gedicht – „den ewigen Chor“ (die poetische Produktion aller Völker und Zeiten) „sehen“ (Die Sprache und ihr Lehrer, II, 20), d.h. sichtbar und wahrnehmbar machen.

Rückert war also kein Philologe im engeren Sinn, obwohl er Orientalist von Beruf war, Professor für Orientalische Sprachen an der Universität Erlangen (1826-1841) und später (1841-1848) in Berlin. Er lehnte die „trockene Philologie“ ab, die in seiner Zeit nach dem Vorbild Wilhelm von Humboldts die Merkmale der einzelnen Sprachen auf der Grundlage empirischer sprachlicher Daten rekonstruiert.25 Seine Reflexionen über die formalen und semantischen Verwandtschaften von Wörtern sind mehr assoziativ als systematisch .26 Er strebt nicht nach theoretischen Erkenntnissen und zeigt kaum Interesse an den philologischen Debatten seiner Zeit, u.a. um die Urheberschaft des Nibelungenlieds oder der Ilias.27 Rückert betont immer wieder, dass er „eigentlich nur darum ein Orientalist geworden sei, weil ein Poet keine Familie ernähren kann“28. In Rückerts Zeit gehört die Orientalistik in Deutschland zur festen Grundausstattung der Philosophischen Fakultäten. Die Aufteilung in die Subdisziplinen für semitische und indogermanische Sprachen war noch nicht etabliert.29 Rückert, der insgesamt 44 Sprachen und 25 Schriftsysteme kannte, musste mehrere Sprachen unterrichten, vor allem diejenigen, die zur Ausbildung der Theologen dienten: Hebräisch, Syrisch und Chaldäisch. Seine Vorliebe galt aber den Sprachen, die ein umfangreiches und interessantes poetisches Korpus vorzeigen konnten. Sein größter Beitrag auf dem Gebiet der sprachwissenschaftlichen Studien hat Rückert durch seine Übersetzungstätigkeit und die Verbreitung der persischen, arabischen und altindischen Literatur geleistet.30 Im Vorwort zur ersten Ausgabe der Makamen des Hariri (1848) wies er hin auf die Besonderheit „der unendlichen Wort- und Klangspiele, der gereimten Prosa, der übertriebenen Bilder, des spitzsündigen überkünstlichen Ausdrucks, kurz, alles dessen, was man den falschen orientalischen Geschmack nennen kann“. Anschließend erklärt er, dass genau in dieser „ausschweifenden Form“ ein Geist wohne, und dass ein solcher Geist, „nur in dieser Form sichtbar werden“ kann.31 Übersetzung bedeutet für ihn nicht allein die Übertragung gedanklicher Inhalte. Er versucht zugleich, bestimmte Strukturen der orientalischen Sprachen in der eigenen Sprache nachzubilden, um den „Geist des Orients“ zu vermitteln. Durch philologische Arbeit versucht Rückert, die Strategien der poetischen Sprache ausfindig zu machen, welche die großen dichterischen Werke der verschiedenen Kulturen aufweisen. In jeder Fremdsprache erkennt Rückert besondere Strategien, die zum Ausdruck der Poesie besonders dienlich sind. Es ist für ihn Aufgabe des Übersetzers, diese Strategien zu ,verdeutschen‘, um das Repertoire der poetischen Ausdrucksmittel der deutschen Sprache zu erweitern. Die deutsche Sprache, die alle metrischen Formen nachbilden und unbegrenzt neue Wortbildungen produzieren kann,32 sieht Rückert wegen ihrer Duktilität als ein besonders gut geeignetes Mittel zur Entwicklung der Universalsprache der Poesie. Bei der Übersetzung des Korans hebt Rückert vor allem Reime und Assonanzen hervor. Für die Übertragung der Makamen von Hariri (1100) – Gattung der arabischen Literatur, gekennzeichnet durch die Verwendung von Reim im Prosatext – spielen eine wichtige Rolle Wortspiele, Doppelsinne, witzige Bemerkungen.33 Bei der persischen Poesie des Hafis geht es vor allem um sprachliche Zweideutigkeiten, die das „Opalisieren, Schweben zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen“34 ermöglichen. Als ein besonders suggestives Mittel für den Ausdruck der Poesie erkennt schließlich Rückert die Wortbildung des Sanskrits.

Bausteine der Universalsprache der Poesie: Wortbildung des Sanskrits

Obwohl Rückert keine theoretischen Studien publiziert hat, zeigen seine formalen Übertragungen altindischer Texte, dass er die Wortbildung des Sanskrits gut kannte. Wortbildung als autonome Disziplin entwickelt sich in Deutschland genau in der Zeit, als Rückert sein Studium des Sanskrits beginnt.35 Im zweiten Band der Deutschen Grammatik (1826) von Jacob Grimm wird sie in Abgrenzung zur Flexion bestimmt. Obwohl schon Adelung (Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart 1774–1786) die Wichtigkeit der Komposita für die deutsche Wortbildung – sowie ihre binäre Struktur – erkannt hatte,36 wird die Beschreibung und Klassifizierung von deutschen Komposita nach syntaktisch-semantischen Kriterien erst im 19. Jahrhundert durch das Studium der Altgrammatik des Sanskrits maßgeblich beeinflusst. In Franz Bopps Werk Ausführliches Lehrgebäude der Sanskritsprache (1827) werden altindische Komposita in sechs Klassen unterteilt:37

Copulative Composita, genannt dvandva („die Zweiheit“). Die Klasse besteht nach Bopp aus der Zusammenstellung von zwei oder mehr Substantiven, die einander koordiniert sind, im gleichem Kasusverhältnis stehen und dem Sinne nach durch und verbunden sind. Beispiele: candrādityau38 (aus candra „Mond“ + āditya „Sonne“; „Mond und Sonne“); agnivāyuravibhyas (aus agni „Feuer“ + vāyu „Luft“ + ravi „Sonne“; „aus Feuer, Luft und Sonne“)39;

Possessiva Adjektive, genannt bahuvrīhī („viel Reis besitzend“). Das letzte Element ist ein Substantiv oder ein substantivisch gefasstes Adjektiv; das erste kann jeder anderen Wortart als Verb, Konjunktion oder Interjektion angehören. Die Bildung bezeichnet ein Merkmal, das der Referent trägt. Sie kann mit einer haben-Konstruktion paraphrasiert werden. Beispiele: kāmopahatacittāṅga (komplexe Bildung aus dem Determinativkompositum40 kāma „Liebe“ + upahata „geschlagen“ und Kopulativkompositum cittā „Geist“ + aṅga „Körper“) („liebegeschlagenen Geist und Körper habend“); pīnaśroṇīpayodhara (aus pīna „stark, dick“ + śroṇī „Hüfte“ + payodhara „Brüste“) („starke Hüften und Brüste habend“);41

Determinativa, genannt karmadhāraya („der Förderer/Unterstützer der Handlung“)42. Das zweite Wort dieser Komposita ist ein Substantiv oder Adjektiv, das durch das erste näher bestimmt wird. Beispiele: priyabhāryā (aus priya „lieb“ + bhāryā „Gattin“) („liebe Gattin“); nīlāmbudaśyāma (aus nīlā „blau“ + ambuda „Wolke“ + śyāma „dunkel“) („wie eine blaue Wolke blau“);43

Abhängigkeits-Composita, genannt tatpuruṣha („dessen Knecht“). Das erste Glied des Kompositums dieser Art ist vom zweiten abhängig oder wird von diesem regiert, daher kann dieses irgendein Kasusverhältnis ausdrücken. Beispiele: mahīpati (aus mahī „Erde“ + pati „Herr“) („Herr der Erde; Erde-Herr“); hastyaśvarathaghoṣa (aus hasti „Elephant“ + aśva „Pferd“ + ratha „Wagen“ + ghoṣa „Lärm“) („Lärm eines von Elephanten und Pferden gezogenen Wagens“);44

Collective Composita, genannt dvigu („zwei Kühe“): Es handelt sich um Kollektiva, die durch ein vorgesetztes Zahlwort näher bestimmt sind. Beispiele: triguna (aus tri „drei“ + guna „Eigenschaft“) („die drei Eigenschaften“); pañcendriya (aus pañca „fünf“ + indriya „Sinn“) „die fünf Sinne“;45

Adverbiale Composita (avyayíbhȃva) („unflektierbar“)46: zusammengesetzte Adverbien, wovon das erste Element ein Indeklinabile ist, und das zweite ein Substantiv im Akkusativ als Adverbialkasus. Beispiele: asaṃśayam (aus a als Negationgspräfix + saṃśaya „Zweifel“ + Akkusativaffix -m) („ohne Zweifel“); pratyakṣam (aus prati „vor“ + akṣa „occhio“ + Akkusativaffix -m) „Angesichts, vor Augen“.47

Die vergleichende Forschung des 19. Jahrhunderts erkennt die mannigfaltige Typologie der indoeuropäischen Wortformen,48 wobei im Allgemeinen gilt, dass die Gesamtbedeutung zusammengesetzter Wörter anders ist als die Bedeutung der jeweils entsprechenden syntaktischen Verbindungen. In Brugmann49 werden sieben Klassen indoeuropäischer Komposita unterschieden:50 1. Iterativkomposita oder Wortwiederholungen. Beispiel: lat. quis-quis; ai. píba-piba „trinkt immer wieder“51 [Ø]; 2. Kopulativkomposita (dvandva)52 [1]; 3. verbale Reaktionskomposita: ein Nomen ist regiert von einem Verbum oder einer Satzaussage. Beispiel: ahd. wār-queto „veridicus“53 [Ø]; 4. Komposita mit präverbialer Präposition oder Partikel. Beispiel got. af-standen54 [Ø]; 5. Präpositionale Rektionskomposita: ein Kasus oder ein Adverb ist von einer Präposition regiert. Beispiel mhd. āne koufes „umsonst“55 [6]; 6. Determinative Nominalkomposita: das eine Wortglied wird durch das andre (im Allgemeinen das zweite durch das erste) näher bestimmt. Beispiel: ai. brahma-putrá-s „Priesterssohn“56 [3]; 7. Mutierte Komposita (bahuvrȋhȋ): ein Substantiv wird in ein Adjektiv verwandelt. Beispiel: ai. kul-kula-s „von Haus zu Haus gehend“57 [2]. Zwei dieser Wortbildungsklassen (Nr. 2. und 7.) werden mit den altindischen Benennungen dvandva und bahuvrìhì bezeichnet.

Der explizite Verweis auf die altgrammatische Terminologie des Sanskrits durch die dvandva- und bahuvrìhì-Komposita wird dank Hermann Paul58 in der Wortbildungslehre des Deutschen eingebürgert.59 Der selektive Gebrauch von nur diesen bestimmten Bezeichnungen kann dadurch erklärt werden, dass die indoeuropäischen Kompositionsverfahren dvandva und bahuvrìhì ein für die deutsche Sprache seltenes Phänomen darstellen. Das am häufigsten vorkommende, produktivste Wortbildungsverfahren des Deutschen ist auch heute die klassische Zusammensetzung zur Bildung von Determinativkomposita aus zwei Wortelementen, in den meisten Fällen Substantiven.60

Wortbildung aus dem Orient: dvandva, bahuvrīhī, karmadhāraya in Ral und Damajanti

Rückerts erste Übersetzung aus dem Sanskrit betrifft die altindische Geschichte Ral und Damajanti (1838), Teil des altindischen Nationalepos Mahābhārata.61 Die Geschichte ist in fünf Gesänge aufgeteilt. Hier eine kurze Zusammenfassung der Handlung:

1. Gesang. Fürst Ral im Nischada-Land besitzt alle Eigenschaften, die man sich wünschen kann: Er ist stark, tapfer, schön, weise, fromm und mächtig. Auch der Fürst Bima in der Widarba-Region ist tugendhaft und mächtig. Er sehnt sich aber nach Nachkommenschaft und bindet sich demnach den Göttern durch ein kräftiges Gelübde. So kommen Damas, Dantas und Damana zur Welt sowie ihre Schwester Damajarti. Das Mädchen ist so schön, dass ihre Augen die Götter vom Himmel herabziehen können (vgl. I, v. 59). In Damajartis Gegenwart wird der tugendreiche Fürst Ral oft und hoch gepriesen, so dass sie sich in ihn verliebt. Auch Ral hört oft vom „Frauenstern“ Damajarti (I, 67) Lob sagen. Von Sehnsucht nach dem unerreichbaren Mädchen erfasst, geht er eines Tages jagen und trifft eine goldene Gans. Diese fordert ihn auf, ihr das Leben zu ersparen, damit sie nach Widarba fliegen und dafür sorgen kann, dass Damajanti seine Liebe erwidere. Ral tut es und die Gans hält ihr Versprechen.

2. Gesang. Die Liebe für Ral, die ihr die goldene Gans zugeflüstert hat, gibt Damajanti keine Ruhe. Als ihr Vater merkt, dass sie heiratsreif ist, veranstaltet er eine Gattenwahl. Alle reichen und mächtigen Könige aus allen indischen Ländern kommen zur Gattenwahl Damajantis, alle fahren mit großen Gefolgen. Nur Ral reist allein und hat als einzige Weggefährtin seine Liebe. Unterwegs trifft er die Herren der vier Elemente: Indra, der die Luft verwaltet, Agni, der das Feuer gestaltet, Waruna, Herr des Gewässers, und Iaura, König des Erdengrunds, die bei Ankündigung der Gattenwahl jeden Kampf und Streit vergessen haben. Sie fordern Ral auf, ihnen als Bote zu dienen.

3. Gesang. Ral sagt zu und erfährt erst danach, dass er für sie als Brautbote bei Damajanti dienen und das Mädchen fragen soll, wer für sie werben darf. Ral erschrickt, kann sich aber nicht zurückziehen, weil er es versprochen hat. Er bringt Damajanti die Botschaft von Seiten der vier Elemente und sagt nichts vom eigenen Wunsch, für sie zu werben.

4. Gesang. Damajanti gesteht Ral, dass sie der Gans versprochen hat, ihn zu lieben und dass die Gattenwahl nur für ihn veranstaltet wurde. Ral versucht, sie zu überreden: Wie kann sie einen Sterblichen wählen, wenn sie einen Unsterblichen haben kann? Damajanti lässt sich aber nicht umstimmen: Die Götter betet sie an, als Gatten hat sie ihn gewählt. Aber Ral, der als Bote kam, kann nicht für sich selbst werben. Damajanti übergibt ihm die Botschaft: Alle vier Götter sollen in seiner Begleitung zur Gattenwahl kommen. Ral richtet die Botschaft aus und lässt sich von seiner Botenpflicht entledigen.

5. Gesang. Der Tag der Gattenwahl ist gekommen. Die vier Götter treten auf, Ral in ihrer Mitte. Mit andächtigem Respekt nähert sich Damajanti den Göttern. Sie bittet sie, ihr den Gatten zu zeigen, mit dem sie die Goldgans liiert hat: Es mögen die Götter ihr den Weg zeigen, damit sie ihrem Versprechen treu bleiben kann! Die Götter erkennen ihre Treue und beschenken das Brautpaar mit ihren Gaben: Ral erhält vom Luftherr Durchsichtigkeit und leichtes Gemüt, vom Feuergott Mut und Optimismus, vom Erdherr Festigkeit und Mäßigkeit, vom Wassergott Geschicklichkeit und Toleranz; Damajanti soll ihrem Mann Kinder schenken: ein Mädchen und ein Knabe.

Mit Bezug auf seine Übersetzung der Geschichte Ral und Damajanti schrieb Rückert einmal:

Was ich hier gebe, ist keine Übersetzung, die sehr überflüssig wäre, sondern ein Versuch, die schöne fremde Geschichte durch Umbildung der deutschen Sprache selbst anzueignen […]. Diesen Zweck der Nationalisierung nun habe ich zu erreichen gesucht zuerst durch Selbständigmachung der Episode, sodann durch Einkleidung in ein volksmäßig deutsches Gewand, mit Ausschaltung alles desjenigen Fremdartigen, was für uns nur auf gelehrtem Wege und nicht unmittelbar durch das Gefühl, verständlich ist, doch mit Beibehaltung der örtlichen Farben, insoweit dadurch der poetische Eindruck nicht gestört, sondern verstärkt zu werden schien.62

Zum Zweck der – wie im obigen Zitat vermerkt – „Einkleidung in ein volksmäßig deutsches Gewand“ ersetzte Rückert den Shloka, die wichtigste Strophenform der altindischen Epik, durch den Knittelvers. Zur „Beibehaltung der örtlichen Farben“ dienen u.a. indische Orts- und Personennamen. Das Programm der „Umbildung“ der deutschen Sprache – so lautet die These, die im Folgenden überprüft werden soll – wird durch einen ungewöhnlichen Gebrauch der Wortbildung realisiert. Die Frage ist also, wie in Rückerts Werk das Verhältnis von „fremden“ dvandva- und bahuvrìhì-Bildungen und „typisch deutschen“ karmadhāraya-Determinativkomposita beschaffen ist. Aus der Analyse der komplexen Wörter, die in Ral und Damajanti (im Folgenden: RuD) vorkommen, resultiert das folgende Verhältnis:


Wie die Tabelle zeigt, gehört die Mehrheit der Vorkommen (68 %) zur Klasse der Determinativa, die hier als karmadharaya angerechnet und nicht weiter differenziert wurden. Die Anzahl der dvandva-Komposita ist gering (insgesamt drei Vorkommen):

 „Mit Elefanten-Roß-Wagentos die Welt erfüllend“ (RuD II, 47)

 „die schweigend-herzbefehdende“ (RuD III, 83)

 „mit steif-unwelkenden Kränzen“ (RuD V, 98).

Der dvandva-Klasse habe ich auch die zahlreichen (25) Ausdrücke zugeschrieben, die durch und verbunden sind und für einen einzigen Referenten stehen. Beispiele:

 „der Feinde Schrecken und Grauen“ (RuD I, 19)

 „wankend und schwankend wie trunken“ (RuD II, 6)

 „Siech und krank“ (RuD II, 17)

 „auf Sitz und Lager“ (RuD III, 57)

 „in Lust und Freuden“ (RuD V, 201).

Ein Teil der koordinierten Ausdrücke kommt als Hendiadyoin vor. Beispiele:

 „In Sinnen und Staunen versunken“ (RuD II, 5)

 „Die Wangen wechselnd roth und blaß“ (RuD II, 11)

 „wir haben nirgends gesehn / Einen wie Rala stehn und gehen“ (RuD I, 128. s.)

 „Doch vor dem klaren Angesicht / Schämte sich Sonn- und Mondenlicht“ (RuD III, 56f.)

 „Von Fürsten und Fürstensöhnen“ (RuD V, 119).

Auch zu den als bahuvrȋhȋ bewerteten Ausdrücken gehören wenige Komposita im engen Sinn. Beispiele:

 „höre du anmuthsittige“ (RuD I, 122)

 „Von uns, o schwebetrittige“ (RuD I, 123)

 „Rette mich, o schöngliedrige“ (RuD IV, 35).

Bei den insgesamt zahlreichen (58) Vorkommnissen handelt es sich vielmehr um Partizipialformen, welche die semantische Funktion der altindischen bahuvrȋhȋ-Adjektive nach dem Modell kul-kula-s („von Haus zu Haus gehend“) übernehmen. Beispiele:

 Der da, Nachkommenschaft begehrend“ (RuD I, 33)

 „Lebte Nachkommenschaft entbehrend“ (RuD I, 34)

 „Ruh nicht findend auf Sitz und Lager“ (RuD II, 16)

 „Lust nicht habend, an Speis’ und Trank“ (RuD II, 18)

 „Ihre Wagen in der Luft anhaltend“ (RuD II, 79).

Mehrgliedrige Zusammensetzungen stellen mit 12 Vorkommen nur 6,6% der Gesamtzahl (181) der Determinativkomposita dar. Die meisten davon sind dreigliedrige Komposita, die letzten zwei davon bestehen aus jeweils vier und fünf Elementen:

 „Der ragt’ in der Menschenfürsten Mitte“ (RuD I, 5)

 „Wer bist du, allwohlgethaner“ (RuD III, 87)

 „Allreizumfangner, lustumfahner“ (RuD III, 88)

 „In Herzen Verlangenswegebahner!“ (RuD III, 89)

 „Erdstaubfreie Gewänder“ (RuD IV, 37)

 „In eine Goldsäulenhalle“ (RuD V, 8)

 „Geschmückt mit Düstekranzgepränge“ (RuD V, 13)

 „Der Nischadafürstensproß“ (RuD V, 124)

 „Mit Dustfarbengemische“ (RuD V, 172)

 „Weihdustopferverbrenner“ (RuD I, 15)

 „Und Glanzedelstein-Ohrgehänge“ (RuD V, 14).

Die größte Anzahl der Zusammensetzungen stellen nicht lexikalisierte ,ad-hoc-Bildungen dar. Beispiele:

 „Einsiedlerschaar“ (RuD II, 55)

 „Wonnehain“ (RuD II, 64)

 „Firmament-Herr“ (RuD II, 67)

 „Rittergeschlechter“ (RuD II, 86)

 „Heldenfechter“ (RuD II, 87).

Sporadisch treten Komposita der dvigu-Art auf:

 „der zweigeborne“ (RuD I, 138)

 „Die Vierfürsten des Vierelements“ (RuD III, 21).


Zusammenfassend: Hinsichtlich der Wortbildung sind im Text der indischen Geschichte Ral und Damajanti die folgenden Besonderheiten beobachtet worden: 1. relativ geringe Frequenz von dvandva-Komposita (einschließlich Hendiadyoin); 2. relativ hohe Frequenz von partizipialen bahuvrȋhȋ-Bildungen; 3. hohe Frequenz von nicht lexikalisierten Determinativkomposita (karmadharaya). Es zeigt sich dabei ein Verhältnis von Wortbildungsformen, das für das deutsche System ungewöhnlich ist. Rückerts Meinung nach soll es dazu dienen, das Arsenal der poetischen Ausdrucksmittel, über die die deutsche Sprache verfügt, durch fremde Mittel zu bereichern. Seine verdeutschten „Wörter aus dem Orient“ haben keinen allgemeinen Konsens erzielt. Die seltsam wirkenden Zusammensetzungen und Partizipialformen wurden in seiner Zeit als „undeutsch“ kritisiert.63 Die formale Wiedergabe der mehrgliedrigen Zusammensetzungen des Altindischen wurde u.a. im parodistischen Gedicht Des vers un peu plus longs que les Alexandrins von A.W. Schlegel verspottet64 – wobei Komposita dieser Art, wie die Analyse zeigte, in Rückerts Text nicht wirklich häufig und vor allem nicht in solch ausschweifenden Strukturen vorkommen:

Deine Sanskritpoesiemetriknachahmungen

Sind voll von goldfunkelnagelneublanken

Benamungen.

Du überflügelst in wortschwallphrasendurch-

schlängeltmonostrophischen Oden

Die Weilandheiligenrömischenreichsdeutscher-

nationsperioden.

Deine mit Dank erkanntwerdenwollenden

Bemühungen sind höchlich zu rühmen:

So muß man die Himavatgangesvindhyaphilologie-

dornpfade beblümen.65

Rückerts Verdeutschungen mögen für moderne Ästhetik als ungenießbar gelten. Sein aufgeklärter Sprachorientalismus kann jedoch im Zug der neuen sozialen Anforderungen nach der großen Migrationswelle neu bewertet werden. Auf die Frage danach, wie Rückert auf das gegenwärtige Problem der Integration der Flüchtlinge reagieren würde, hat Rudolf Kreutner, der Kustos des Rückert-Archivs in Schweinfurt, geantwortet: „Er würde fordern, dass sich beide Seiten intensiv mit der Lyrik der anderen beschäftigen.“66

Zwischen Orient und Europa

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