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Ansammlung von Aberglauben oder bewundernswerte Askese? Der Blick auf den Hinduismus
ОглавлениеBis zur Öffnung des Seewegs nach Indien am Ende des 15. Jahrhunderts haben Indien und der Hinduismus in der europäischen Vorstellung nur schattenhafte Züge. Die christliche Antike übernimmt das Indienbild der griechisch-römischen Bildungstradition, das bestimmt ist von fünf Motiven: den indischen Yogis und Brahmanen, der Witwenverbrennung, der sozialen Schichtung (später als „Kastensystem“ verstanden), den Schätzen Indiens sowie Wunder- und Fabelwesen wie die hundeköpfigen Menschen und Kopflose oder merkwürdige Tiere wie die goldproduzierenden Ameisen. Yogis und Brahmanen werden von den griechisch-antiken Autoren vor allem im Rahmen der Diskussion über die Ursprünge der Philosophie angeführt.
Im Mittelalter ist Europa von Indien durch die islamische Welt abgeschnitten, ein direkter Kontakt ist über Jahrhunderte fast vollständig unterbunden. Die Stereotype von Indien und seinen Religionen verfestigen sich, vor allem die Legenden von indischen Fabelvölkern. Die europäischen Reiseberichte des Mittelalters unterstreichen den Reichtum Indiens; gleichzeitig wird seine religiöse Unterlegenheit betont. Typisch für die Sichtweise des Spätmittelalters ist der Bericht des franziskanischen Missionars Odorico de Pordenone (gest. 1331),12 der zwischen 1318 und 1330 nach Asien reiste. Er berichtet von der Witwenverbrennung, ebenso von den hundeköpfigen Bewohnern der Nikobaren, von Kannibalen auf den Andamanen, sowie von der Verehrung eines Götzen, der halb Mensch, halb Ochse ist und das Blut von vierzig Jungfrauen verlangt. Es sind jene sensationellen (Medien-)Bilder von Indien, die das europäische Publikum dieser Zeit erwartet.
Ab der Wiedereröffnung des Seewegs nach Indien durch Vasco da Gama 1497/98 vermehren sich zwar die Kontakte mit der Region, aber nicht zugleich die Kenntnisse über die hinduistischen Religionen. Nachdem Vasco da Gama 1498 in Calicut (Südindien) gelandet ist, kann er die Hindus nicht wahrnehmen: Erglaubt, dass die Bewohner Christen seien. „Wir suchen Christen und Gewürze“13 – dieses Ziel der Expedition bestimmt die Wahrnehmung. Die Haarzipfel der Brahmanen werden als Erkennungszeichen der Christen interpretiert, hinduistische Tempel als christliche Kirchen, die dämonentötende Göttin Durga als Jungfrau Maria. Die Europäer des 16. Jahrhunderts glauben, dass die Hindus zu einer frühen Form des Christentums gehören, das sie unter dem Druck des Islams entweder verändern oder aufgeben mussten. Erst im Lauf der Jesuitenmission ab Mitte des 16. Jahrhunderts wird langsam versucht, die einheimischen Sprachen zu lernen und die Hindu-Religionen zu verstehen – um besser missionieren zu können.
Zu dieser Zeit dominiert die traditionelle christliche Sicht der „Heiden“ und ihrer Rituale: Sie sind nichts als Götzen- und „Teufelsdienst“ – so der heilige Francisco de Xavier (1506–1552), der apostolische Nuntius in Indien, über die religiöse Praxis der Hindus (vgl. S. 121f.). Über die Brahmanen sagt er:
Diese Heidenpriester betreuen die Götzentempel. Sie sind die abgefeimtesten Schurken der Welt. […] Diese Brahmanen haben nur eine Scheinbildung, aber was ihnen an Bildung mangelt, das ersetzen sie durch Schlauheit und Tücke.14
Bei der Verfolgung der hinduistischen Traditionen arbeiten die Missionare Hand in Hand mit der portugiesischen Administration in Südindien. Ab 1541, dem Jahr der Ankunft portugiesischer Jesuiten in Indien, kommt es zur Zerstörung von Tempeln in Goa. Eine andere Form des Kampfes gegen den Hinduismus bildet das königliche Gesetz ab 1559 für das portugiesische Gebiet, dass Waisenkinder dem Kolleg S. Paulo in Goa zur Taufe und christlichen Erziehung zu übergeben seien.
Aus den Briefen der Jesuitenmissionare im 16. Jahrhundert zeigt sich, dass sie keinen Zugang zu hinduistischen Lehren bekommen – einerseits wegen der Sprachprobleme, andererseits wegen der unzuverlässigen Informationen, die sie von den Konvertiten, den zum Christentum übergetretenen Hindus, erhalten.
Aus den Jesuitenbriefen ist die Spannung ersichtlich, die sich zwischen der Erfahrung der Religiosität der Hindus, der Großartigkeit ihrer Tempel und der Überzeugung der Missionare, es handle sich um nichts als Aberglauben und Teufelswerk, bildet. Der Missionar Luis Fróis schreibt 1558 aus Goa:
Manchmal verbringen wir unsere Zeit, indem wir Späße machen über ihre Götter, ihre Essens- und Trinkgewohnheiten, und über die Irrtümer in ihrer Religion, so dass wir weniger angezogen werden von ihnen.15
Der jesuitische Humanist Giovanni Maffei bewundert die Hindutempel, „die sich an Prächtigkeit mit den feinsten [Bauten] des alten Rom messen können“, zugleich verurteilt er die hinduistischen Lehren als Ansammlung von Aberglauben und Fabeln. Die architektonische Kunstfertigkeit der Hindutempel wird so erklärt, dass sie von Alexander dem Großen oder von den Römern geschaffen worden seien.16 Bei einigen Jesuiten geht die Verachtung für die Brahmanen einher mit Bewunderung für die Askese und Spiritualität der Yogis; der flämische Priester Barzaeus schlägt vor, dass sich die Missionare wie sie kleiden und mit ihnen leben sollen.17
Von Beginn an sind die Christen von der Dreiheit der hinduistischen Hauptgötter Brahma, Vishnu, Shiva fasziniert und provoziert. Dieses Phänomen wird verschieden interpretiert: Der portugiesische Gouverneur Alfonso de Albuquerque, der 1510 Goa erobert, stellt fest, dass die Brahmanen „ein Wissen von der Trinität besitzen, wodurch erscheint, dass sie ursprünglich Christen waren“18. Fróis zieht den Schluss, „dass sie nur deshalb von drei Personen sprechen, weil sie es von den Christen gelernt haben“.19 Der Missionar Diego Gonçales nennt die drei Götter eine „monströse Dreiheit“; sie weisen nur einen „Schein oder Schatten der heiligsten Dreifaltigkeit auf, nicht einen wirklichen, sondern nachgemachten und nachgeäfften“20.
Durch die Entwicklung einer wissenschaftlichen Indienforschung ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, verbesserte Sprachkenntnisse, durch die Sammlung von Manuskripten und die Übersetzung hinduistischer Schriften in europäische Sprachen – die Bhagavadgita in der Übersetzung von Charles Wilkins erscheint 1785 – kommt es ab dem 18. Jahrhundert zu einer stärkeren Differenzierung des Hinduismus-Bildes. Dazu treten die hinduistischen Reformbewegungen ab den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, u. a. gegen soziale Phänomene wie die Witwenverbrennung, das Kastenwesen und die Kinderehe. Es wird nun schwieriger, den Hinduismus im Ganzen als „Teufelsverehrung“ und als amoralische Verirrung zu verdammen.
Eine vorsichtige Öffnung der katholischen Theologie zeigt sich exemplarisch in einem Werk wie Im Kampfe mit der Zauberwelt des Hinduismus (1928) des Jesuiten Alfons Väth (1874–1937). Nach der Darstellung der Volksreligion und der philosophischen Systeme des Hinduismus zieht Väth das Fazit:
Es gibt wohl keine andere so entartete, verwilderte, lüsterne Religion wie den Hinduismus, die Religion eines der begabtesten Völker der Erde. Und doch! Durch all den Wirrwarr, auch durch die abscheulichsten Verirrungen zieht sich wie ein goldener Faden der Glaube an eine geistige Macht, die alles durchdringt und belebt […]. So ist der Hinduismus auch die geistigste aller Heidenreligionen.21
Die aus europäischer Sicht hochstehenden Elemente in der „Heidenreligion“ zu erklären, bildete schon immer ein Problem für die Christen. Väth interpretiert sie so: Was im Christentum als Wahrheit voll erschlossen sei, habe „der Hindugeist dunkel geahnt“ und entsprechende religiöse Formen entwickelt. Tatsächlich enthielten aber die christlichen Begriffe von Gott, Seele, Sünde die volle Wahrheit, während die hinduistischen „mit Irrtum gemischt“ seien.
Auch die Schriften des Benediktiners und Missionswissenschaftlers Thomas Ohm (1892–1962) schwanken zwischen Bewunderung und Ablehnung. Er plädiert in Indien und Gott (1932) zwar für eine gerechte Beurteilung des Hinduismus, sagt aber im gleichen Atemzug, dass der Hinduismus Indien nicht zu Gott führen konnte:
Und ich glaube, man kann alles Wahre und Schöne am Hinduismus ruhig anerkennen. Denn es ist und bleibt auch dann noch möglich, die Einzigartigkeit des Christentums und die Unzulänglichkeit des Hinduismus überzeugend nachzuweisen. […] Wir meinen wohl, die tiefen Schattenseiten des Hinduismus müssten seine Anhänger überzeugen, dass er nicht von Gott ist.22
Einen gewissen Schritt hin zu einer neuen Haltung des Christentums zu den Hindu-Traditionen bedeuten die Ansätze einer „Erfüllungstheologie“, ursprünglich auf der Seite des liberalen Protestantismus von dem schottischen Missionar John Nicol Farquhar (The Crown of Hinduism, 1913) entwickelt, zwanzig Jahre später auf katholischer Seite aufgenommen von dem belgischen Missionar Pierre Johanns (Vers le Christ par le Vedanta, 1932/33). Hier werden die verschiedenen Religionen als eine Abfolge zum Höherstehenden betrachtet; danach gilt der Hinduismus als Vorstufe zum Christentum – nur in Christus könnten die tiefsten Sehnsüchte, die sich in der hinduistischen Geschichte gezeigt haben, erfüllt werden.
Gleichzeitig mit der Erfüllungstheologie wird ein anderer, offenerer religionstheologischer Zugang entwickelt, der von der lebendigen Präsenz Christi in den anderen Religionen ausgeht (Karl Rahner: „Anonymes Christentum“). Raimon Panikkar wendet diesen Zugang auf die Hindu-Religionen an (The Unknown Christ of Hinduism, 1964): Im Hinduismus sei das Geheimnis Christi auf verborgene Weise präsent; Christentum und Hinduismus seien Fragmente der „einen, einzigen Religion“.
Der Hinduismus ist Ausgangspunkt einer Religion, die im Christentum ihren Höhepunkt erreicht. […] Der Hinduismus ist eine Art Christentum in Potenz, denn er trägt schon den christlichen Samen in sich, das Verlangen nach der Fülle nämlich, und diese Fülle ist Christus.23
Fünfzehn Jahre später wird Panikkar eine Neufassung des Buches vorlegen, in der er sich vom christlichen Überlegenheitsanspruch gegenüber dem Hinduismus ausdrücklich löst. „Christus“ ist für ihn nicht beschränkt auf den historischen Jesus, sondern ein Symbol der Welt, Gott und Mensch umgreifenden Wirklichkeit, des einen, unteilbaren Geheimnisses, das auch andere Namen wie Rama, Krishna etc. haben könne.24
Mit dem Ende des Kolonialismus bricht im kirchlichen Lehramt ein Bewusstseinswandel im Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen durch. So sagt Papst Paul VI. vor Repräsentanten der Religionen in Bombay am 3. Dezember 1964:
Ihr seid ein Land alter Kultur, die Wiege großer Religionen, die Heimat einer Nation, die Gott mit schonungsloser Sehnsucht gesucht hat, in tiefer Meditation und Stille, und in Hymnen inbrünstigen Gebets. […] Wir müssen deshalb enger zusammen kommen, nicht nur durch die Mittel der modernen Kommunikation, durch Presse und Radio, durch Dampfschiffe und Flugzeuge – wir müssen zusammenkommen mit unseren Herzen, in gegenseitigem Verständnis, Achtung und Liebe.25
Die Konzilserklärung Nostra aetate (1965) sagt zum Hinduismus:
So erforschen im Hinduismus die Menschen das göttliche Geheimnis und bringen es in einem unerschöpflichen Reichtum von Mythen und in tiefdringenden philosophischen Versuchen zum Ausdruck und suchen durch aszetische Lebensformen oder tiefe Meditation oder liebend-vertrauende Zuflucht zu Gott Befreiung von der Enge und Beschränktheit unserer Lage. (Artikel 2)
Das Zweite Vatikanische Konzil drückt hier zwar den Respekt vor den hinduistischen Traditionen aus, gelangt aber nicht zu einer theologischen Qualifizierung des Hinduismus, den es in der Konstitution Lumen Gentium Nr. 16 nur unter jene Religionen subsumiert, die „in Schatten und Bildern den verborgenen Gott suchen“. Damit bleibt das Konzil hinter den Ergebnissen des tatsächlichen religiösen Dialogs zurück, der zur gleichen Zeit in Indien von den Benediktinern Henri Le Saux, Dominique van Rollenghem, Bede Griffiths und anderen gelebt wird. Sie kommen als Missionare nach Indien, aber je länger sie unter den Hindus leben, desto mehr wächst die Überzeugung, dass sie es sind, die von der hinduistischen Spiritualität und Theologie lernen können. Bereits 1954 schreibt Le Saux in sein Tagebuch:
Hindu advaita [Nichtdualität] muss das Christentum integrieren, und das Christentum muss advaita integrieren. Beide verneinen den anderen, und dennoch wartet jede von ihnen auf den anderen, ist jede schwanger mit der anderen. […] Christentum, Hinduismus, Buddhismus etc. sind weder parallele Wege noch sind sie länger eine Reihe von Stufen zur Wahrheit, mit dem Christentum als endgültiger Stufe. Jede von ihnen ist darśana [Schau] des Jenseitigen. Jede ‚wahr‘ auf ihre eigene Weise, nicht überlappend, dennoch einander rufend in geheimnisvollen ‚Korrespondenzen‘. 26
Auf der Ebene des theologischen Dialogs repräsentiert die „Komparative Theologie“ ein Ernstnehmen der hinduistischen Theologien auf gleicher Augenhöhe; einer der führenden Vertreter dieses Ansatzes ist Francis X. Clooney (Hindu God, Christian God, 2001).
Parallel mit diesen Aufbrüchen zu einer Anerkennung der theologischen und spirituellen Richtungen der Hindu-Religionen finden sich nach wie vor die alten Muster: mangelnde Kenntnis wird in Abwertung übersetzt. Die Denkmuster der Erfüllungstheologie leben weiter, wenn z. B. die christliche Mystik als höhere Form schroff von hinduistischer Mystik abgegrenzt wird. Stereotype, die sozialkulturelle Phänomene wie Witwenverbrennung und Kaste als essenziellen Bestandteil der Hindu-Religionen auffassen, erweisen sich als langlebig, wie sich am Artikel „Hinduism“ in der New Catholic Encyclopedia (2003) zeigt:
Die Verwurzelung des Hinduismus in Mythologie kann leicht zu einem unwürdigen Konzept der göttlichen Natur und zu praktischem Polytheismus führen. Auch das Kastensystem mit seinem Konzept der Unberührbarkeit, Kinderehe und Polygamie, der Bilderkult, der leicht zu Idolatrie führt, und solche Bräuche wie die rituelle Prostitution und die Witwenverbrennung (satī) haben in der Praxis oft zu einem Niedergang geführt.27
Es scheint, dass es sich bei den Bildern des Hinduismus innerhalb des katholischen Christentums um ein hartnäckiges mentalitätsgeschichtliches Phänomen handelt, das sich nur langsam ändert. Stereotype des religiös anderen befriedigen nach wie vor wichtige Bedürfnisse: nach kognitiver Entlastung durch Vereinfachung, nach Aufwertung der eigenen personalen und kollektiven Identität durch ein negativ konturiertes Gegenüber und im Fall der Religionen als Legitimierung des jeweiligen Anspruchs, die „einzig wahre Religion“ zu sein.