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Technisch durchdachte Handprothesen, die verlorene Gliedmaßen ersetzen sollten. Holzschnitt aus: „Zehn Bücher der Chirurgie“ von Ambroise Pare, 1564.

Kokosauge und Wollperücke

Krieg, Krankheit, Unfall: Der Körper kann allerhand Verluste erleiden Was Menschen alles versuchten, um diese Mängel zu beheben

Von Bernd Müller

Der menschliche Körper ist eine permanente Baustelle: Kunstzähne, Perücken und Prothesen sollen helfen, Funktion und Ästhetik bei Beschädigungen zu bewahren. Seit Jahrtausenden stemmen sich die Menschen so gegen ihren Verfall.

„Vor Ihro Kayserlichen Majestät, hab ich, wie immer schuldigen Respect. Er aber, sags ihm, er kann mich im Arsche lecken.“ Götz von Berlichingens allseits bekanntes Zitat aus Goethes Bühnenstück hat den fränkischen Reichsritter berühmt gemacht. Und noch etwas wissen historisch Bewanderte: dass der kriegslustige Götz 1504 bei einem Kanonenschuss seine rechte Hand verlor und diese durch eine Prothese ersetzte, die ihm später den Spitznamen „Eiserne Hand“ eintrug. Mit einem innenliegenden Sperrklinken-Mechanismus konnte er die Finger zum Greifen arretieren, auf Knopfdruck sprangen sie unter Federdruck wieder in die offene Ausgangslage zurück. Handprothesen nach diesem Konstruktionsprinzip waren im 16. Jahrhundert weit verbreitet. Eine spätere Variante der „Götzhand“ ist für die damalige Zeit sehr komplex. Bei ihr lassen sich die Finger in drei und der Daumen in zwei Gelenken bewegen, außerdem kann das Handgelenk abgewinkelt und gegenüber dem Armstulp gedreht werden.

Der rasante Fortschritt bei der Herstellung von künstlichen Armen und Beinen war eine Folge der Fortschritte im Kriegshandwerk. Die Schlachtfelder wurden größer, die Waffen tödlicher, die Zahl der Versehrten stieg. Und so hatten Prothesenmacher Hochkonjunktur. Französische Soldaten bestanden sogar darauf, dass Ambroise Paré mit ihnen in die Schlacht zog. Der Arzt gilt als Begründer der modernen Chirurgie und Gesichtsprothetik, er hatte Mitte des 16. Jahrhunderts eine Beinprothese entwickelt, die sich mit dem Beinstumpf verbinden ließ.

Die mechanischen Gliedmaßen der Renaissance sind aber keineswegs die ältesten Prothesen. Die ersten können Archäologen schon aus der Zeit um 500 vor Christus nachweisen. Die erste Prothese eines Zehs ist circa 2500 Jahre alt und wurde in Ägypten gefunden, 2300 Jahre alt ist ein Holzbein aus China. Und der römische Offizier und Politiker Marcus Serius Silus soll im dritten Jahrhundert vor Christus eine Handprothese getragen haben.

Prothesen wie die eiserne Hand des Götz von Berlichingen oder Beinprothesen für verwundete Soldaten hatten eine klare Funktion: Sie sollten dem Träger helfen, Gegenstände zu greifen oder sich fortzubewegen, kurzum: den Alltag besser zu bewältigen. Darüber hinaus waren sie auch ein Statussymbol. Ein Adliger, der sich eine metallene Handprothese mit einem raffinierten Federmechanismus leisten konnte, genoss mehr Ansehen als der einfache Soldat, der sich eine geschnitzte Holzhand mit Lederriemen an den Arm binden oder gar ganz ohne Prothese auskommen musste.

Doch technische Hilfsmittel für den versehrten Körper hatten noch eine andere, eine ästhetische Funktion. Gesundheit und Schönheit waren schon in der Antike wichtige Eigenschaften, über die Menschen ihre Stellung in der Gesellschaft definierten. In ihrem Buch „Korrigierte Körper“ schreibt die Historikern Annelie Ramsbrock vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam über die Geschichte künstlicher Schönheit in der Moderne. Darin kommt sie zu dem Schluss, dass Schönheitsvorstellungen ästhetischen Standards folgten, die sich allerdings je nach Kultur und Epoche unterscheiden. Wie eng Funktion und Ästhetik zusammenhängen, zeigt der Erste Weltkrieg, den Schönheitschirurgen als ihren großen Lehrmeister bezeichnen. Die Abteilung für Gesichtsplastik, die von der Heeresleitung in der Kriegs- und Nachkriegszeit an der Berliner Charité unterhalten wurde, belegt, dass Gesichtsverletzte ein bis dahin nicht dagewesenes Experimentierfeld boten.


Eine historische Holzprothese, Alter unbekannt, die den großen Zeh seines Trägers ersetzt hat – ein Stück aus dem sogenannten „Hidden Treasure Museum“ des Ägyptischen Museums in Kairo.


Folgen des Ersten Weltkrieges: Versehrte üben das Laufen mit Beinprothesen, um 1920.


Die Morgentoilette des vornehmen Herrn: Nach der Rasur erfolgt das Anpassen der Perücke. Gemälde von 1861.

Ein wichtiger Aspekt laut Ramsbrock ist der Begriff der „Normalität“. Im 19. Jahrhundert, so die Wissenschaftlerin, habe sich Normalität als Leitidee gegenüber älteren Vorstellungen von Gesundheit durchgesetzt. Die modernen Naturwissenschaften versuchen seither, mit Messinstrumenten wie Uhren, Waagen, Thermometern oder Pulsmessgeräten die Natur des Körpers objektiv, rational und wissenschaftlich zu beschreiben. Die Kenntnis des Normalzustands soll helfen, pathologische oder abnorme Zustände festzustellen. Doch was ist normal, was ist schön? Schönheitsideale wandeln sich, heute noch viel schneller als in früheren Jahrhunderten.

Beispiel Perücke: Kunstvoll geringelte und mit Reismehl gepuderte Allongeperücken, teilweise mit Drahtgestellen zum Turm versteift, waren am französischen Hof der Dernier Cri. Als Ludwig XIV., der unter seinem schütteren Haar litt, die Allongeperücke zur Staatsperücke erklärte, gab es einen wahren Run auf diesen Haarschmuck. Doch das schmeckte den Oberen in Deutschland nicht. Sie führten eine Perückensteuer ein, das spülte Geld in die klammen Staatskassen und stellte sicher, dass Perücken weiter nur der Oberschicht zugutekamen. Noch heute tragen Juristen in britischen Gerichtssälen solche Haartrachten – die Perücke als Macht- und Statussymbol.

Die Perücken der 1960er-Jahren sollten eher erotische Signale aussenden – wie schon vor 5000 Jahren. Zur Zeit der Pharaonen trugen wohlhabende Ägypter Haartrachten aus Wolle, Palmenfasern und Menschenhaar, vorwiegend als Schmuck und Statussymbol sowie zwecks Hygiene. In kurz geschorenem Haar nistete nicht so viel Ungeziefer; wollte man sich in der Öffentlichkeit zeigen, zog man einfach die Perücke über. Wer dagegen heute eine Perücke trägt, trägt sie vermutlich nicht freiwillig, sondern hat eine Chemotherapie hinter sich.

Auch ein Glasauge trägt nur, wer sein natürliches Auge verloren hat, dann allerdings allein aus ästhetischen Gründen, denn sehen kann man damit nicht. Die ersten Versuche müssen uns heute skurril bis gruselig erscheinen. Die ersten Kunstaugen waren lediglich auf hautfarbene Bandagen aufgemalt, um das Gegenüber zu täuschen. Auch Einlegeaugen aus Elfenbein oder Kokosnussschalen dürften wenig überzeugt haben. Auch hier war es Ambroise Paré, der den großen Fortschritt brachte. Er war der erste, der täuschend echte Einlegeaugen herstellte, kleine Halbschalen aus Silber oder Kupfer, auf die Iris und Pupille mit Emailfarben gemalt wurden. Später kamen Glasaugen hinzu, heute gibt es auch Augen aus Kunststoff.

Und die vermutlich ältesten Helfer für kaputte Körper? Das sind ziemlich sicher Zahnimplantate. Schon die Ägypter, Etrusker und Kelten fertigten Zahnersatz. Südlich von Paris fanden Archäologen in einem 2300 Jahre alten keltischen Grab ein Skelett, bei dem ein Schneidezahn durch einen Eisenstift ersetzt worden war. Ob darauf ein Kunstzahn aus Holz, Elfenbein oder Knochen befestigt war, konnten die Archäologen nicht feststellen. Wahre Meister der Zahntechnik waren die Etrusker, die bereits im Altertum Brücken mit Draht und Bändern aus Gold herstellten, die mehrere Zähne festhielten.

Zum Glück hatten die Menschen damals weniger mit Krankheiten ihrer Zähne zu kämpfen. Zwar kennt man Zucker schon seit 8000 Jahren, doch den süßen Stoff konnte sich kaum jemand leisten, nach Europa kam er gegen 1100 nach Christus und erst im 16. Jahrhundert begann der großangelegte Zuckeranbau. Doch noch immer war das weiße Gold für viele unerschwinglich. Zucker zeigt, wie sich Schönheitsideale im Lauf der Epochen verändert haben. Können heute Zähne kaum weiß genug sein, galten damals verfaulte, schwarze Zähne als Statussymbol. Verarmte Adlige färbten sich sogar die Zähne schwarz, um zu verbergen, dass sie sich keinen Zucker mehr leisten konnten.


Ein Ersatzauge aus bemaltem Glas.


Ein etruskischer Zahnersatz mit einem Goldband und eingenieteten Zähnen aus der Zeit um 500 v. Chr. Ausgestellt im Dentalmuseum in Zschadraß bei Colditz (Sachsen).


In einem Setzkasten liegt ein Teil des historischen Glasaugenarchivs der Augenklinik des Rostocker Universitätsklinikums. Die Glasaugen wurden vor 150 Jahren zur Veranschaulichung von Augenerkrankungen durch Glasbläser gefertigt.

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