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Hermann Lübbe – Pragmatische Vernunft nach der Aufklärung Zur Einleitung

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Hermann Lübbe gehört zu jenen Denkern, die mit ihren Beiträgen und Schriften nicht nur die akademische Philosophie, sondern auch das politische und gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich geprägt haben. Als einen der „besten und einflussreichsten Köpfe der Gegenwartsphilosophie“ und als „Aufklärer mit Wirklichkeitssinn“ hat sein Freund Odo Marquard ihn bezeichnet.1

Lübbe selbst hat für sein Denken die Standortbestimmung „nach der Aufklärung“ gewählt. Sie ist zu einer Art Markenzeichen seiner Überlegungen geworden und begegnet mehrfach in den Titeln seiner Bücher und Aufsätze sowie ihm gewidmeter Schriften.2 In nüchtern-optimistischer Weise will sie den historischen Grund benennen, auf dem sich sein Denken bewegt: „Die erfolgreiche Aufklärung ist gemeint und nicht eine Aufklärung, die erledigt und in ihren Wirkungen überwunden wäre.“3 Dies besagt keineswegs ein mangelndes Bewusstsein für die negativen Folgen, die mit den historischen Prozessen von Aufklärung und Modernisierung verbunden waren: Deren befreiende und belastende Wirkungen gehen gleichermaßen ein in die Lübbesche Positionsbestimmung. Im Ganzen soll sie nicht mehr und nicht weniger zum Ausdruck bringen als die grundsätzliche Zustimmung zur Aufklärung als geschehener, Wirklichkeit gewordener. Lübbes Standpunkt nach der Aufklärung unterscheidet sich damit einerseits von einer „gegenaufklärerischen“ Haltung, die eine Rückkehr zu vormodernen Positionen anstrebt.4 Sie steht andererseits aber auch in deutlicher Distanz zum Ansinnen, die Aufklärung als ein „unvollendetes Projekt“ zu begreifen, dessen Intentionen es – auf dem Weg zur „vernünftigen Identität moderner Gesellschaften“ 5 – in normativer Weise weiterzuentwickeln gilt.

Pragmatische Vernunft“ kennzeichnet auf dieser Grundlage den Stil oder die Form des Denkens Hermann Lübbes, seinen spezifischen „Wirklichkeitssinn“. Lübbe selbst hat auf den Vorbehalt hingewiesen, mit dem pragmatisches Denken in Deutschland traditionell verbunden ist: „Ein Blick in ein Konversationslexikon belehrt uns, wieso. Der Pragmatiker, heißt es, gehe ‚nicht von Prinzipien und Normen aus‘, sondern von simpler ‚Lebenserfahrung‘“.6 Schon bei Kant, der für die spätere Verwendung des Begriffs prägend war, ist „pragmatisch“ in der Bedeutung des „Klugen“ und „Zweckorientierten“ der Gegenbegriff zu „spekulativ“ und „moralisch“.7 Von hier aus hat er den Verdacht des Unmoralischen begünstigt, scheint er doch statt durch „leidenschaftliche Unbedingtheit“ durch einen kühl-distanzierten, berechnend-strategischen Zug gekennzeichnet zu sein, dem das Pathos großer Ziele fehlt. Der Pragmatiker betrachtet die Wirklichkeit ja stets unter dem Gesichtspunkt des praktischen Umgangs mit dem Bestehenden und einer realistischen Verwirklichung vorhandener Möglichkeiten. Es sind, wie Lübbe anmerkt, nicht nur die Ziele, die gut sein müssen, auch ihre Mittel und Nebenfolgen müssen kontrollierbar und nach denselben Maßstäben akzeptabel sein. Sokratisch gesprochen: „Zu wissen, was geht und was nicht, gilt seit jeher als Kompetenz dessen, der sein Handwerk versteht.“8

Skeptisch gegenüber jeder Form von Ideologie und Moralismus will Lübbes Pragmatismus vor allem „problemlösungsfördernde Philosophie sein, die von der Praxis aus über Praxis nachdenkt“9. Sein Denken versteht sich – in einer typisch Lübbeschen Wortprägung – als „Orientierungskrisenmanagement“10, insofern sich unsere gegenwärtige Zivilisation, die Zivilisation „nach der Aufklärung“, in besonderer Weise als „orientierungskrisenträchtig“11 zeigt. Zumal im Kontext der intellektuellen Debatten der vergangenen Jahrzehnte hat Hermann Lübbe dem pragmatischen Denken in der Philosophie der Gegenwart neu Geltung zu verschaffen gewusst. Praktische Urteilskraft, Augenmaß, Sachverstand und common sense sind Grundmotive dieses Pragmatismus, der sich der Effektivität verpflichtet weiß – dabei vor allem aber die „Freiheit von Subjekten in ihrer historisch kontingenten Identität“ im Blick hat.12

Unter dem Titel „Pragmatische Vernunft nach der Aufklärung“ ist der vorliegende Band Hermann Lübbe und seinem philosophischen Werk gewidmet. Er will das Denken Lübbes vorstellen und in seiner geschichtlichen Rolle wie in seiner Bedeutung für die Philosophie der Gegenwart würdigen. Er versteht sich dabei zugleich als Beitrag zur Aufarbeitung der jüngsten philosophischen Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, die soeben begonnen hat und vom Interesse gerade einer jüngeren Generation von Wissenschaftlern getragen ist.13 In seiner interdisziplinären Anlage mit Beiträgen aus den Bereichen der Philosophie, der Geschichts- und der Politikwissenschaften vermag er überdies die Vielseitigkeit des Denkens Lübbes und dessen Auswirkungen auf die unterschiedlichen Bereiche des Geisteslebens widerzuspiegeln.

Die Beiträge des vorliegenden Bandes

I. Grundlegungen

Aristoteles zufolge lässt sich alles am besten aus seinen Ursprüngen heraus verstehen. Zugleich vollzieht sich philosophisches Denken stets in Anknüpfung an Traditionen. Am Anfang des vorliegenden Bandes steht daher ein Bericht, in dem Hermann Lübbe selbst Auskunft gibt über die „Philosophie im 20. Jahrhundert – wie ich sie kennen lernte“14, „wieso ich Philosoph geworden bin“, und wie die zeitgenössische Philosophie „in ihren Ansprüchen und Einsichten, politisch-öffentlichen und akademisch-wissenschaftlichen Wirkungen […] für meine eigene Arbeit prägend geblieben“ ist.15

Als bedeutsam hebt er (1) die Erfahrungen der ideologiepolitischen Inanspruchnahme der Philosophie als weltpolitischer Faktor im Totalitarismus hervor, (2) die dagegen gerichtete antitotalitäre Option der Wissenschaftstheorie Karl Poppers, ergänzt um (3) die Einsichten der logischen Propädeutik von Heinrich Scholz (und von hier aus der sprachanalytischen Tradition Wittgensteins und des Wiener Kreises), (4) das Lebensweltwissen der Phänomenologie, vermittelt nicht zuletzt durch seinen ostfriesischen Lehrer Wilhelm Schapp, und schließlich (5) das durch Joachim Ritter geweckte Bewusstsein für die spezifische Modernität der historischen Kultur. Sie bildeten die wesentlichen Grundlagen für Lübbes „Teilnahme an den fälligen Fortschreibungen der Gegenwartsphilosophie“, die sich ihrerseits insbesondere auf die Bereiche (1) der Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaften, (2) der politischen Philosophie, (3) der Kulturphilosophie und (4) der Religionsphilosophie erstreckte.16

II. Entfaltungen

An der genannten disziplinären Unterscheidung orientieren sich dementsprechend die „Entfaltungen“ zur Philosophie Lübbes, die sich an dessen „Grundlegungen“ anschließen.

1. Geschichtsphilosophie

Am Ausgangspunkt des philosophischen Schaffens Hermann Lübbes stehen seine Analysen zu geschichtlichen Prozessen und deren wissenschaftstheoretische Reflexion, durch die er zum „Wissenschaftstheoretiker der historischen Wissenschaften“ wurde.17 Lübbe selbst hat sie als „den wichtigsten Teil meiner Arbeit“18 gekennzeichnet. Unter dem Titel „Geschichtspragmatik. Eine Rekonstruktion der Geschichtsphilosophie Hermann Lübbes“19 skizziert Reinhard Mehring das Erbe und die wissenschaftliche Situation der Geschichtsphilosophie, vor die sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die sog. „skeptische Generation“ (H. Schelsky) gestellt sah, sowie die sich ihr bietenden Optionen, und markiert von hier aus die Anknüpfungspunkte und Entwicklungslinien der geschichtsphilosophischen Überlegungen Lübbes. Er unterscheidet dabei drei Phasen, die im Anschluss an (a) eine Kritik der totalitären Großideologien, (b) eine analytische Wendung der Geschichtsphilosophie und schließlich (c) eine geschichtspolitische Pragmatik umfassen. – In diesem Rahmen finden – unter dem Einfluss von Phänomenologie, Wissenschaftstheorie und analytischer Philosophie – die zentralen Motive der Philosophie Lübbes ihre Grundlegung:

(1) Identität. – An die Stelle eines universalen Erklärungsanspruchs geschichtsphilosophischer Großentwürfe tritt die anthropologische Aufmerksamkeit für den Einzelnen und seine Identität: Geschichte gibt es nur in der existenziellen Brechung individueller Geschichten, und es sind diese Geschichten, durch die „Individuen unter ihresgleichen unverwechselbar“20 werden. Die „große“ Weltgeschichte wird an das menschliche Individuum als ihr ursprüngliches Subjekt zurückgebunden21, und dieses individuelle Subjekt, die einzelne menschliche Person, gilt Lübbe als primärer Bezugspunkt für sein Verständnis von Geschichte: „Unser Name […] läßt sich als Überschrift zu der Geschichte auffassen, über die wir und andere diese unsere geschichtliche Individualität identifizieren.“ Mit Wilhelm Schapp bringt Lübbe seine These vom Ursprung der Identität aus Geschichten auf die Formel: „Die Geschichte steht für den Mann“.22 Nur „[ü]ber ihre Geschichten werden Individuen in dieser ihrer Einzigartigkeit identifizierbar, und im Erzählen dieser Geschichten erklären wir diese Einzigartigkeit.“23 So sind Geschichten „Prozesse der Systemindividualisierung“24. Zugleich wird damit die ursprünglich narrative Dimension von Geschichtsschreibung sichtbar. – Pragmatisch dienen Geschichten der Präsentation, Stiftung und Vergewisserung von Identität – zunächst von Individuen, sodann von Gruppen, Gesellschaften und Institutionen.

(2) Kontingenz. – An die Stelle der Auffassung, Geschichte werde „gemacht“, tritt das Bewusstsein für die Unverfügbarkeit der Vorgaben und Folgen des eigenen Handelns wie des Weltlaufs insgesamt – kurz: für Kontingenz. „[D]as, was einer ist, verdankt sich nicht der Persistenz seines Willens, es zu sein. Identität ist kein Handlungsresultat. Sie ist das Resultat einer Geschichte, das heißt der Selbsterhaltung und Entwicklung eines Subjekts unter Bedingungen, die sich zur Raison seines jeweiligen Willens zufällig verhalten“25. Handeln heißt ja stets Absichten verfolgen, die jeweilige Lage einschätzen und die entsprechenden Mittel kalkulieren.26 Im Gegensatz dazu will Geschichte als „Medium der Kontingenzerfahrung“27 den Sinn für Zufall, Schicksal und Endlichkeit der conditio humana schärfen, für die prinzipielle Unverfügbarkeit eines umfassenden Sinnes von Welt und Dasein: „Niemand hatte doch Gelegenheit, sich seine Eltern auszusuchen, seine genetisch bedingten Eigenschaften, seine Ethnie, seine Muttersprache und sein Vaterland, die Geschichtsepoche, in der er, statt in einer anderen, lebt, die Religion und die Konfession, deren Folgelasten er selbst noch als Konvertit hinter sich herschleppt. Kurz: Wer wir sind, unsere Identität, basiert auf lauter Unverfügbarkeiten, ohne freilich darin aufzugehen.“28 – Pragmatisch geht es für den Einzelnen um die Anerkennung und Bewältigung seiner kontingenten Daseinsbedingungen.

(3) Kompensation. – An die Stelle finalistischer Geschichtskonzeptionen (seien sie optimistisch oder pessimistisch akzentuiert) tritt der bilanzierende (Rück-)Blick für Verlust und Gewinn im Ertrag historischer Prozesse und die Frage nach der Kompensation darin verloren gegangener Gleichgewichte.29 Ja, das Entstehen historischen Bewusstseins als solches gilt Lübbe – in Weiterführung von Gedanken Joachim Ritters30 – als Ausgleich für jenes Auseinandertreten von Herkunft und Zukunft, das für die Moderne, die Zeit „nach der Aufklärung“, kennzeichnend ist: Es „bezieht sich auf unsere zivilisatorische Situation, in der Erfahrungsraum und Zukunftshorizont rascher auseinandertreten, als wir durch kompensatorische Leistungen des historischen Bewußtseins imstand sind, beide miteinander verknüpft zu halten.“31 Je schneller sich unsere Wirklichkeit wandelt, je schneller das Neue alt wird, desto mehr sind wir angewiesen auf die Identität stiftenden Leistungen der historischen Kultur. – Angesichts eines beschleunigten Fortschritts, in dem sich die Zeiträume verkürzen, über die hinweg uns unsere eigene Vergangenheit fremd wird, soll Geschichte pragmatisch Herkunft gegen Zukunft aufbieten und der Bewältigung von Gegenwart durch Rückgriff auf die Vergangenheit dienen: Wir erzählen Geschichten, um uns unserer Herkunft und Zukunft zu vergewissern.32

Von hier aus gewinnt Lübbes geschichtsphilosophische Konzeption ihr Profil, die er als „Historismus“ bezeichnet und definiert als „Kultur des Nutzens, den in unserer Zivilisation historische Wissenschaften und historische Bildung haben.“33 Von hier aus wird zugleich die spezifische Gestalt seines „Konservativismus“ zugänglich: als „Praxis der Bewahrung des Unverzichtbaren gegen seine gegenwärtigen oder vorhersehbar zukünftigen Gefährdungen“34. Von diesen Motiven aus ergeben sich schließlich die unmittelbaren Verbindungen zu den weiteren Themenfeldern der Lübbeschen Philosophie.

2. Politische Philosophie

Die ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Geschichtsphilosophie und politischer Philosophie im Werk Hermann Lübbes zeigt sich bereits in seinen frühen Arbeiten35 in der Betrachtung der Geschichte unter der leitenden Frage nach den Wirkungen politischer Ideen und Ideologien. Sie bildet zugleich die Grundlage für einen pragmatischen Umgang mit Geschichte in der Form von „Geschichtspolitik“, die diese nie bloß deuten, sondern auch bestimmen will. Darüber hinaus geht das Bewusstsein für die historische Bedingtheit und Formbarkeit des Individuums wie für seine Handlungsfähigkeit als Grunddatum in das politische Denken Lübbes ein. In seinem Beitrag „Institution, Dezision und moralische Orientierung. Zu Hermann Lübbes politischer Philosophie“36 erörtert Jens Hacke die Grundmotive der politischen Philosophie Hermann Lübbes, die – im Rahmen der liberalen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland und mit Bezug auf deren Bedingungen entwickelt – Lübbe als herausragenden Repräsentanten einer „Philosophie politischer Bürgerlichkeit“ zeigen, wie sie durch die sog. Münsteraner „Ritter-Schule“ entwickelt wurde, zu der neben Lübbe u.a. auch Robert Spaemann, Odo Marquard und Ernst-Wolfgang Böckenförde gehörten.

(1) Institutionen. – Für den Bürger als Subjekt politischer Praxis haben die Institutionen eine doppelte Bedeutung: (a) Einerseits stabilisieren sie sein Handeln, insofern sie eine ‚Objektivierung‘ gelebter ethischer und politischer Praxis darstellen und die habituelle Verwirklichung rechten und sittlichen Handelns gewährleisten. Mit Ritter verbindet Lübbe aristotelische Politik und hegelianische Staatslehre. Historisch bestimmend ist für ihn überdies die Einsicht in die Notwendigkeit, nach der Befreiung vom Nationalsozialismus in der jungen Bundesrepublik demokratische Praxis einüben zu müssen und ihre Subjekte in einem kollektiven Lernprozess in den neuen Staat zu integrieren. Institutionen dienen als Ordnungsrahmen, um dem jungen Staat die Zustimmung seiner Bürger zu sichern und ihm sukzessive staatliche Identität zu erarbeiten. Lübbes Sinn für Kontinuitäten und seine Hochschätzung von Traditionen37 finden hier ihren Niederschlag. – (b) Andererseits haben Institutionen aber auch entlastende Funktionen, insofern sie dem Bürger den Schutz seiner individuellen Freiheit gewähren: „Institutionen sind es, von deren Festigkeit und Zweckmäßigkeit im Normalzustand abhängt, ob wir in unseren Freiheitsansprüchen gesichert sind.“38 Der Vorzug von Subjektivität und bürgerlicher Privatsphäre und das Bewusstsein einer Nicht-Identität von individuellen und kollektiven Interessen bedingen Lübbes grundsätzliche Optionen für Pluralismus und Gewaltenteilung, Toleranz und Minderheitenschutz, Regionalisierung und Föderalismus. Institutionen dienen der Bewahrung und Verwirklichung von individueller und bürgerlicher Freiheit, sie eröffnen dem Einzelnen Handlungsräume mit definierten Verantwortlichkeiten und stellen so das verantwortliche Handeln des Einzelnen als Kernelement des Politischen in den Mittelpunkt.

(2) Dezision. – Das Charakteristikum dieses Handelns kennzeichnet Lübbe mit dem Begriff der Dezision, seine Theorie politischer Entscheidung dementsprechend als „pragmatischen Dezisionismus“. Dieser gründet sich auf den Sinn für Kontingenzen und Rechtfertigungslücken, für die mangelnde theoretische Gewissheit und den Voluntarismus politischer Entscheidung. Lübbes Adaption des „kompromittierten Begriffs“39 der Dezision geschieht dabei in zwei unterschiedlichen Richtungen: (a) Gegenüber dem technokratischen Sachzwangdenken der 1950er Jahre, seiner Planungseuphorie und Expertokratie, die eine Eliminierung von Entscheidung aus der „wissenschaftlichen Zivilisation“ (H. Schelsky, A. Gehlen) inaugurierte, dient der Dezisionsbegriff dazu, das Element des Meinungsstreits und politischer Konfliktaustragung in Erinnerung zu rufen; (b) gegenüber dem Ideal des herrschaftsfreien Diskurses der 1960er und 1970er Jahre (J. Habermas) dagegen fungiert der Dezisionismus als Instrument pragmatischer Diskursbegrenzung: statt auf Konsens beharrt Lübbe auf dem Kompromisscharakter politischer Entscheidung, statt auf Wahrheit auf Mehrheit, statt auf moralischer Legitimität auf der Legalität der Verfahren, statt auf Letztbegründung auf der Vorläufigkeit politischer Orientierung: Der pragmatische Dezisionismus intendiert eine „Dominanz der Verfahrenslegitimität vor der Legitimität durch Rekurs auf Wahrheitsansprüche“40, die diskursiv einzulösen wären. Als dezisionistisches Standardbeispiel gilt die Abstimmung in der parlamentarischen Demokratie.41

(3) Common sense. – Der Ablehnung eines universalistischen Moralismus, wie er ihn durch die Frankfurter Schule repräsentiert sieht, und dem Sinn für das anthropologisch fassbare Individuelle entspricht schließlich Lübbes Rekurs auf das ethisch „Selbstverständliche“: Traditionen und Konventionen, Urteilskraft und praktische Vernunft sind für ihn die entscheidenden Quellen gelebter Sittlichkeit. Eine herausragende Bedeutung kommt dem common sense zu. Als „Instanz lebenspraktischer Handlungsregeln in Kombination mit der Fähigkeit [...], die Situation in ihrer Anwendbarkeit zu identifizieren (Urteilskraft)“42 gilt er Lübbe als ein Kennzeichen für die Demokratiefähigkeit moderner Gesellschaften. Seine Prägung verdankt er nicht zuletzt der Religion. Unter dem Vorzeichen einer Trennung von Politik und lebensorientierender Wahrheit ist es das grundlegende Vertrauen auf die Urteilsfähigkeit der Individuen, das dem Lübbeschen „Liberalismus“ sein eigentümliches Profil verleiht.43

3. Kulturphilosophie

In unmittelbarer Kontinuität zu Lübbes geschichtsphilosophischen Überlegungen steht auch sein kulturphilosophisches Schrifttum, das seit Mitte der 1970er Jahre einen besonderen Schwerpunkt seines Schaffens bildet. In der öffentlichkeitswirksamen Gestalt von Essays, Glossen, Leitartikeln und Stellungnahmen in Tageszeitungen tritt es verstärkt neben die im engeren Sinne fachwissenschaftliche Beiträge.44 Angelpunkt der Kulturphilosophie Lübbes ist dabei ein bestimmter Begriff von Fortschritt. Auf ihn und seine Ausformung im Kontext der gesellschaftlichen Diskussionen der damaligen Zeit – namentlich in der Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas und der Frankfurter Schule – konzentrieren sich die Ausführungen von Georg Kohler „Aktualität und Orientierung oder: Wie man ein vernünftiger Zeitgenosse bleibt. Zu Hermann Lübbes Theorie der Fortschrittsmoderne“45. Lübbes Fortschrittsbegriff schließt unmittelbar an die im geschichtsphilosophischen Kontext erhobenen Motive von Kontingenz und Kompensation an.

(1) Fortschritt als Orientierungsproblem. – Gemäß dem Verhältnis von Kontingenz und Handeln bestimmt er Fortschritte als „Prozesse, die sich nach Analogien von Handlungsvorgängen verstehen lassen; Fortschritte sind nicht Planrealisationen; Fortschritte sind […] Prozesse ohne Handlungssubjekt. Fortschritt ist eine selbststeuernde, gerichtete Entwicklung sozialer Systeme.“46 Von hier aus umfasst der Begriff des Fortschritts neben dem Bewusstsein (a) für ein messbares Wachsen der Menge des Neuen pro Zeiteinheit und (b) für dessen Ordnung in einer gerichteten Reihe (c) die Annahme einer

Ziellosigkeit und Nichtprognostizierbarkeit dieses Ablaufs. – Unter dem Vorzeichen seiner grundsätzlichen Bejahung47 stellt sich der Fortschritt für Lübbe von hier aus vor allem als „Orientierungsproblem“ dar – wobei es weniger die „Folgen aufgehaltenen Fortschritts“ als die „Nebenfolgen längst stattfindender Evolutionen und Revolutionen“ sind, die „uns zu schaffen machen“48. Im Unterschied zu Jürgen Habermas geht es Lübbe nicht um die noch uneingelösten Versprechen von Solidarität, individueller und kollektiver Autonomie und die Vision eines diskursethischen Entwicklungsprojekts, die sich mit dem Gedanken des Fortschritts verbinden lassen, sondern um die lebensdienlichen Errungenschaften der Moderne und den pragmatischen Umgang des Menschen mit den nicht beabsichtigten „Nebenwirkungen ihres Erfolges“. In Absetzung vom „heißen“ Fortschrittsbegriff der Frankfurter Schule lässt sich der Lübbesche Fortschrittsbegriff daher als ein „kühler“ charakterisieren: Statt mit ideologischem Interesse den Fortschritt voranzutreiben gilt es, auf seine Folgelasten mit praktischem Sachverstand und pragmatischer Vernunft zu reagieren.

(2) Fortschrittsreaktionen. – In den verschiedenen Diskussionskontexten jener Jahre finden die Lübbesche Theorie der Fortschrittsmoderne und sein Konzept von „Aufklärung in der Gegenwart“49 die entsprechende Profilierung. Es ist gekennzeichnet von einem grundsätzlichen Vertrauen in die wissenschaftlich-technische Zivilisation, dem Sinn für die „Vernünftigkeit des Bestehenden“ und einem Zutrauen in die moralische Kompetenz des Einzelnen, in seine Urteilsfähigkeit und Eigeninitiative: Gegen Max Horkheimers Verdächtigung der „instrumentellen Vernunft“ hebt Lübbe das unterscheidend nicht-instrumentelle, menschliche Handlungsbewusstsein der Angehörigen technischer Berufe hervor, gegen das Anliegen kritischer Neuerung verteidigt er die Begründungsbedürftigkeit des Fortschritts mit Hilfe der sog. „Beweislastverteilungsregel“, und gegenüber umfassenden Vorschlägen zur Verbesserung komplexer Sozialsysteme beharrt er auf einer Orientierung am Einzelfall und verweist auf die Bedeutung des common sense, dem angesichts einer immer differenzierteren Zivilisation eine kompensatorische Funktion zukommt. Lübbes kulturphilosophische Stellungnahmen stehen hier in unmittelbarer Kontinuität zu seinen politischen Überlegungen.

(3) Fortschrittsdynamik. – Die grundlegende Problematik des Fortschritts besteht neben seiner wachsenden Komplexität vor allem in seiner zunehmenden Geschwindigkeit: Je schneller sich unsere Gesellschaft verändert, desto größer werden die Probleme und Orientierungskrisen. Das Thema Zeit gewinnt von hier aus eine eigene Bedeutung. Ihre gegenwärtige Wahrnehmung ist geprägt von einer zunehmenden Dynamik gesellschaftlicher Änderungsprozesse. „Mit der Steigerung der Geschwindigkeit zivilisatorischer Evolution unterliegt die Gegenwart, also derjenige Zeitraum, über den wir mit einer gewissen Konstanz unserer Arbeitsbedingungen rechnen können, einer Schrumpfung.“50 Eltern und Kinder teilen nicht mehr dieselben Lebensverhältnisse. Aus der Einsicht in die „Gegenwartsschrumpfung“ ergibt sich ein besonderes Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft und damit die Verbindung zu den o.g. Überlegungen zur Kompensationsfunktion der historischen Kultur: Je rascher sich die Lebensverhältnisse ändern und die vergangenen Zeiten zu fremden werden, desto mehr brauchen wir die Geschichte, um aussagbar zu behalten, wer wir sind.51

(4) Fortschrittskompensationen. – Insbesondere im Rahmen von Lübbes Gegenwartsanalysen und Zeitdiagnosen zu den Prozessen der modernen Zivilisation findet das Motiv der Kompensation seine Entfaltung: „Der Zivilisationsprozeß belastet das Dasein in der gegenwärtigen Welt mit Erfahrungsverlusten.“52 Entsprechend bedarf es kompensierender Maßnahmen, diese Erfahrungsmängel auszugleichen. Unter dem Vorzeichen des steigenden Tempos moderner Zivilisationsprozesse werden verschiedene kompensierende Faktoren für den Menschen in der modernen Welt von immer größerer Wichtigkeit. Je moderner wir leben, umso größere Bedeutung erlangen neben der bereits genannten historischen Kultur (a) Moral, (b) Demokratie und (c) Religion. Z. T. wider Erwarten erscheinen sie als „Modernisierungsgewinner“53: Denn (a) je größer unsere Freiheit und unsere individuelle Wahlmöglichkeiten in der gegenwärtigen Welt werden, desto notwendiger werden die Grundsätze der Moral und des Gewissens, (b) je unauflöslicher wir politisch in suprastaatlichen Gebilden in der zusammenwachsenden Welt miteinander verbunden sind, desto mehr sind wir angewiesen auf Selbstbestimmung in Form direkter Demokratie, und (c) je mehr wir aufgrund von Technik und Fortschritt vermögen, desto aufdringlicher werden die Erfahrung von Kontingenz und die Notwendigkeit von Religion.

4. Religionsphilosophie

In verschiedenen Linien laufen die Teile der Lübbeschen Philosophie auf seine Religionsphilosophie zu, die Holger Zaborowski in seinem Beitrag „Kontingenzbewältigung in der Moderne. Zu Hermann Lübbes Verständnis von Religion und Aufklärung“54 darstellt.

(1) Religion als Kontingenzbewältigungspraxis. – Bereits die wesentliche Beschreibung religiöser Praxis als „Kontingenzbewältigungspraxis“55 korrespondiert einem der Grundmotive der Philosophie Lübbes, das bereits im geschichtsphilosophischen Kontext sichtbar geworden war: „Moderne Geschichtserfahrung ist Kontingenzerfahrung, und Religion ist Antwort auf Kontingenzerfahrung und hält damit zugleich für sie offen.“56 Im Zentrum von Lübbes Religionstheorie stehen somit jene Bestände menschlichen Daseins, die wir als für uns unverfügbar erfahren und die wir weder denkend noch handelnd einholen können. Als Beispiele nennt er die Erfahrungen von Geburt oder Tod.57 Der Sinn der Religion besteht darin, uns in „ein vernünftiges Verhältnis zum Unverfügbaren“58 zu setzen, d.h. die mit den genannten Daseinswirklichkeiten gegebene Kontingenz nicht zu vermeiden, sondern sie anzuerkennen und zu bewältigen. – In ihrer Unverfügbarkeit besitzen diese kontingenten Wirklichkeiten zugleich eine Indifferenz und Resistenz gegenüber jenen kulturellen Prozessen, die mit Aufklärung und Moderne verbunden sind: Letztere können nie zu einer Beseitigung oder Aufhebung derjenigen Bedingungen führen, die Religion notwendig machen und auf die der Mensch in der Religion antwortet. Dies ist für Lübbe auch der Grund dafür, die Religionskritik des 19. Jahrhunderts und deren theoretische Voraussetzungen in einer Metakritik als realitätsfernen Illusionismus zu kennzeichnen und im Gegensatz zu deren Annahmen nicht das Verschwinden der Religion, sondern ein verstärktes Interesse an ihr plausibel machen zu können.

(2) Funktion der Religion. – Lübbes pragmatische Bestimmung der Religion mit Blick auf ihre Funktion besitzt ihren entscheidenden Bezugspunkt im lebenspraktisch orientierten Menschen und seinen religiösen Vollzügen. Dies bedingt ihre individualistische Tendenz. Es bedingt zugleich ihren theoretischen Status, für den die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenperspektive, zwischen religiöser Praxis und Religionstheorie von entscheidender Bedeutung ist: „Die Charakteristik der Religion durch die Funktion der ‚Kontingenzbewältigung‘ hat nicht den Zweck zu sagen, was die Religion, im Unterschied zum Selbstverständnis dieser bestimmten Religion, statt dessen sei. Ihr einziger Zweck ist, die Religion von anderen Medien des Lebensvollzugs in einer Weise zu unterscheiden, die sichtbar macht, wieso es unsinnig wäre zu erwarten, daß die Funktion der Religion fortschrittsabhängig eines Tages entfallen könnte. […] Die Charakteristik der Religion durch die Funktion der Kontingenzbewältigung bezieht die Religion auf diejenige Funktion, in der sie nicht durch irgend etwas anderes substituierbar ist.“59 – In dieser singulären Funktion profiliert Lübbe die Religion insbesondere gegenüber der Wissenschaft und der Politik: Insofern die Aussagen der neuzeitlichen Wissenschaft sukzessive ihre lebensweltliche Relevanz verloren haben, besitzen sie keinen quasi-religiösen Charakter mehr, der in einem Konflikt zur Religion stünde.60 Auch Religion und Politik sind im Verlauf erfolgreicher Säkularisierung durch die politische Neutralisierung der religiösen Wahrheitsfrage gegeneinander frei geworden und können sich auf ihre eigenen Aufgaben beschränken. Religiöses und aufgeklärtes Verhalten sind keine Gegensätze mehr, sondern ergänzen einander wechselseitig.

(3) Zivilreligion. – Unter die Funktionen, die Religion unter den Bedingungen der Moderne erfüllt, zählt Lübbe auch die Zivilreligion. Er bestimmt sie als das „Ensemble derjenigen Bestände religiöser Kultur, [a] die in das politische System integriert sind, [b] die somit auch den Religionsgemeinschaften nicht als ihre eigene interne Angelegenheit überlassen bleiben, [c] die in dieser Charakteristik Bürger auch in ihrer religiösen Existenz an das politische Gemeinwesen binden und [d] dieses Gemeinwesen selbst in seinen Institutionen und Repräsentanten als in letzter Instanz religiös legitimiert sichtbar machen.“61 Als „Religion des Bürgers“ dient Zivilreligion dem Staat gleichermaßen als Stabilisierung wie als Entlastung: Im Vollzug zivilreligiöser Formen und Riten, die als Medien der Zustimmung fungieren, erfährt der Staat einerseits seine Legitimation, andererseits wird er durch sie zugleich auf die eigene Unverfügbarkeit verwiesen, sich selbst letzte Ziele vorzugeben, er wird m.a. W. zur Anerkennung und Bewältigung der eigenen Kontingenz veranlasst. Insofern kommt der Zivilreligion sowohl gegenüber politischen Ideologien mit einem quasi-religiösen Anspruch wie gegenüber politisierten Theologien, die Politik und Religion mit ihren je eigenen Absolutsetzungen belasten, Bedeutung zu. Als Instrument einer Pragmatisierung der Politik vermag Lübbes Konzept von Zivilreligion sich daher nicht zuletzt angesichts aktueller Herausforderungen durch religiösen Fundamentalismus und (neuen) Atheismus zu bewähren.

Im Sinne der Zugänglichkeit – und insofern ebenfalls in einem pragmatischen Sinne – berücksichtigen die verschiedenen Entfaltungen zur Philosophie Hermann Lübbes in ihrer Darstellung jeweils einen vierfachen Gesichtspunkt:

(1) Sie orientieren sich an den zentralen Begrifflichkeiten der Lübbeschen Philosophie und machen so deren Kerngedanken und wichtigsten Argumentationsfiguren sichtbar.

(2) Sie benennen und erläutern überdies die bedeutendsten Schriften Lübbes zum jeweiligen Themenbereich und geben dadurch Anhaltspunkte für einen Überblick über sein weites Schrifttum.

(3) Sie weisen hin auf die größeren philosophischen und geistesgeschichtlichen Traditionen, in denen er steht, und ordnen seine Positionen ein in den Kontext philosophiehistorischer Entwicklungen.

(4) In der Formulierung von Anfragen und Diskussionsbeiträgen treten sie schließlich ein in das philosophische Gespräch mit Hermann Lübbe und über sein Denken. Aus der Perspektive verschiedener Generationen von Wissenschaftlern formuliert, lassen sie die Philosophie Lübbes dabei in einer besonders vielseitigen Brechung erscheinen.

III. Rückblick

Unter der Überschrift „Rückblick“ ist es schließlich das Anliegen eines ausführlichen Interviews („Lebenserfahrung und pragmatische Vernunft. Ein Gespräch zu Leben und Werk“)62, Hermann Lübbe die Möglichkeit zu geben, auf diese Gesprächsbeiträge zu antworten. Dies geschieht unter der leitenden Frage nach den Voraussetzungen und Gründen seines pragmatischen Stils. Sind diese – wie gesagt – weniger in Prinzipien oder Normen als in Lebenserfahrung zu suchen, so kann – in Ergänzung zu den punktuellen Bemerkungen in seinem eigenen Beitrag – mit der Rückbindung seiner Positionen an verschiedene zeitgeschichtliche und biographische Stationen der Denker in seiner Zeit und hinter der Philosophie der Philosoph und Mensch Hermann Lübbe sichtbar werden.63

Eine „Pragmatische Bibliographie“64 will schließlich zur Weiterbeschäftigung mit dem Denken und den Schriften Lübbes einladen. Sie heißt „pragmatisch“, insofern sie unter der Vorgabe beschränkten Raumes in der Weise einer repräsentativen und geordneten Auswahl einen Überblick über das philosophische Schaffen Lübbes geben möchte.

Für die Hilfe bei der bibliographischen und redaktionellen Arbeit gilt mein besonderer Dank Frau Victoria Laszlo vom Philosophischen Seminar der Universität Zürich.

Die Beiträge dieses Bandes gehen zurück auf eine Offene Akademietagung der Thomas-Morus-Akademie Bensberg am 21./22. Juni 2008, die der Philosophie Hermann Lübbes gewidmet war. Ihre Publikation möchte den Dank ihrer Autoren gegenüber Hermann Lübbe zum Ausdruck bringen.

Hermann Lübbe

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