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Philosophie im 20. Jahrhundert – wie ich sie kennen lernte

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Je älter wir werden, umso mehr hat man zu berichten. In veränderungsträchtigen Zeiten, die die Gegenwart, das heißt die Menge der Jahre einigermaßen konstanter Lebensverhältnisse, schrumpfen lassen, gilt das erst recht. Entsprechend häufiger findet man sich als Senior biographisch befragt, und so hatte ich in den jüngstvergangenen zwei Jahren viermal in Interviews zu erklären, wieso ich denn Philosoph geworden sei.

Mehr noch als bei anderen Berufen liegt die Frage nach dem Lebensweg, der in den Beruf eines Philosophen führte, der besonderen Voraussetzungen des Philosophenberufs wegen tatsächlich nahe. Unbeschadet der Zahl der Philosophieprofessoren, die heute ungleich größer ist als kultur- und wissenschaftsgeschichtlich jemals zuvor, ist selbst die anspruchsvollere akademische Berufsberatung mit dem Wunsch, man möchte „Philosoph“ werden, so gut wie nie konfrontiert. Und auch im familiären Milieu würde die Bekundung eines im Übrigen als gescheit geltenden Jugendlichen nach seinem Schulabschluss, er möchte Philosoph werden, je nach Gesprächskontext entweder Belustigung oder Besorgnis auslösen. Das ist die eine Seite der Sache. Ihr entspricht auf der anderen Seite eine Präsenz der Philosophie in unserer kulturellen Öffentlichkeit, die sie herausgehoben und unübersehbar sein lässt. Diese kulturelle Präsenz der Philosophie hat sogar einen Charakter von gemeiner Selbstverständlichkeit, der uns überrascht sein lässt, wenn wir auf sie einmal ausdrücklich aufmerksam werden, und gerade auch für den philosophisch Desinteressierten gilt das.

Ich schildere das exemplarisch mit Rekurs auf einige Elemente meines Schüleralltags im ostfriesischen Aurich. Sie sind repräsentativ, weil ja, was sich allein schon im Landstädtchen Aurich an Philosophie öffentlich unübersehbar machte, an den großen Plätzen der europäischen Philosophie von Athen bis Cambridge oder von Jena bis Heidelberg erst recht seine Gegenwart hat.

Also: Der schönste Teil meines alltäglichen Schulwegs führte am Rand der Altstadt zwischen einem parkähnlichen großen Garten und dem Schloss durch eine exklusiv Fußgängern vorbehaltene Passage von betriebsamkeitsfreier Ungestörtheit. Man darf es konventionell nennen, dass diese Passage „Philosophenweg“ genannt wurde. Die nahegelegene Schule befand sich in einem 1908 errichteten Neubau. Gemäß der Mitteilungsfreudigkeit des architektonischen Historismus präsentierte er sich im Stil der Neo-Renaissance und repräsentierte damit einen bildungspolitischen Anspruch, dessen Philosophie uns die Neuhumanisten unter unseren Lehrern gelegentlich zu erläutern wussten. Das Tonnengewölbe der Aula war von einem Gerüst von Balken gestützt, die sinnreich mit kanonischen Worten der religiösen, philosophischen und literarischen Überlieferung Europas beschriftet waren. So oft man den Blick nach oben lenkte, fand man sich mit dem Eingangssatz des vierten Evangeliums konfrontiert, oder auch mit Hamlets philosophieskeptischem Wort zu Horatio. Der unüberbietbare Auftakt der aristotelischen Metaphysik, wonach alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, war zu lesen, und der große Eingangssatz der Nikomachischen Ethik auch noch, wenn anders ich mich korrekt erinnere. In modernistischer Verbeugung vor der damals ganz neuen Philosophie wurde sogar Nietzsche zitiert. Darauf ist noch zurückzukommen. Unter den Portraits an der Wand der Aula zeigte das größte den Alt-Schüler Rudolf Eucken, der, immerhin, als bislang einziger unter den deutschsprachigen Philosophen 1908 den Nobelpreis erhalten hatte.

Noch einmal also: Schon in kleinstädtischer Gymnasiastenperspektive erschien die Philosophie als ein Element unserer öffentlichen Kultur von herausgehobenem Rang, und auch in privaten Lebensverhältnissen brachte sich das zur Geltung. In der Handbibliothek meiner Klavierlehrerin fand ich das Buch des Physikers und Philosophen Hermann von Helmholtz zur Phänomenologie und Physik der Tonempfindungen. Ein Studienrat, den man seiner speziellen philosophischen Interessen wegen gelegentlich einen „Positivisten“ nennen hörte, lieh mir bei gegebenem Anlass Wilhelm Wundts Essays mit besonderem Hinweis auf das Kapitel „Gehirn und Seele“. Aus der Bibliothek meines Großvaters, eines Dorfschullehrers, übernahm ich Die Welträtsel Ernst Haeckels. Haeckel, gewiss, war als Zoologe berühmt. Aber die Vorstellung, die sich für den Schüler mit dem Wort „Philosophie“ verband, schloss deren Mitzuständigkeit für die Lösung von „Welträtseln“ ein, und somit musste auch sogar Haeckel, als prominentester Kollege Rudolf Euckens in Jena, als Philosoph gelten. In der kleinen häuslichen Bibliothek meines Vaters, der ein kommunales Bauamt leitete, fand sich neben meliorationstechnischer, wasserbaurechtlicher und sonstiger Fachliteratur sowie neben den üblichen Hausbüchern von der Bibel über Gesangsbücher bis zum Gesundheitsratgeber allerlei Klassik ohnehin, in Reclam-Ausgaben selbstverständlich auch Philosophie, von etlichen Dialogen Platons über den wichtigsten Essay John Lockes bis hin zu den großen Kritiken Kants. In Gesamtausgaben waren Schopenhauer und Nietzsche vorhanden. In der Hausbibliothek einer katholischen Schulfreundin, deren Vater politisch der Zentrums-Tradition entstammte, stand auch eine weitverbreitete deutschsprachige Übersetzung der Theologischen Summe Thomas von Aquins, was einen Vorbegriff von „weltanschaulich“, wie man damals sagte, und politisch bedingten philosophischen Präferenzen vermittelte.

Es erübrigt sich, mit weiteren exemplarischen Erinnerungen die Zugehörigkeit der Philosophie zur gemeinen Lebenskultur zu belegen – mit Straßennamen, Denkmälern sogar, bis hin zu den so genannten Philosophischen Fakultäten, an denen unsere Lehrer – einschließlich der Mathematiker und Naturwissenschaftler unter ihnen – ausnahmslos studiert hatten.

Die Meinung, bei dieser massiven Präsenz der Philosophie bereits in der Alltagswelt eines Gymnasiasten habe sich ja dann auch in plausibler Weise der Wunsch ergeben müssen, später selber einmal Philosophie zu studieren, verbindet sich aber mit dem skizzierten Bild kultureller Gemeinverbreitung der Philosophie gerade nicht. Mit der Philosophie verhält es sich insoweit vergleichsweise wie mit anderen Lebensmächten auch, die von der schönen Literatur bis zum Sport bis in den Alltag hinein Teil unserer Lebenskultur sind und die nichtsdestoweniger einen nur selten bewegen, Dichter oder Berufsgolfer zu werden. Entsprechend kann ich mich auch nicht erinnern, dass bei Gesprächen über Berufswünsche, wie sie im Abiturentenalter üblich sind, jemals das Wort „Philosoph“ gefallen wäre. Elterliche Ratgeber hätten darüber ohnehin den Kopf geschüttelt. Romantische Requisiten zur Verklärung der Freiheiten des Studentenlebens, die einen hätten verleiten können, liebhaberschaftlich viel Philosophie, in berufsvorbereitender Absicht aber gar nichts zu studieren, spielten in den frühen Nachkriegsjahren ohnehin keine Rolle. Es dominierten die disziplinierenden Traditionen der Universitätsreform Wilhelm von Humboldts, der das Studium in allen Fakultäten einschließlich der Philosophischen Fakultät eben als eine berufsvorbereitende Ausbildung verstanden und eingerichtet hatte. Im Kommilitonenmilieu meines Altersjahrgangs entschied man sich, gleichfalls traditionsbestimmt, mehrheitlich für ein Studium in den so genannten Oberen Fakultäten von der Theologie über die Jurisprudenz bis zur Medizin, wo die berufspraktische Nutzbarkeit der Studien keinerlei Zweifel aufwarf. Ich selber schrieb mich bei den Theologen ein und später überdies auch noch bei den Juristen.

Wie gelangt man darüber zur Philosophie? Eher zufällig, womit ich sagen will: Nicht über die motivierende Macht von Zweifeln, über die man sich selbst zum Problem geworden und zu der falschen Hoffnung bewegt worden wäre, Philosophie sei ein geeignetes Medium zur Lösung dieses Problems. Der Besuch philosophischer Lehrveranstaltungen war stattdessen vom Interesse an jenen gemeinhin für erkenntnispraktisch, auch moralisch und politisch für bedeutsam gehaltenen Einsichten und Lehren bestimmt, die doch, wie geschildert, öffentlich sogar als inschriftentauglich galten, deren Autoren zum Klassikerkanon zählten, mit den ihnen gewidmeten Portraits öffentliche Festräume schmückten und mit ihren Namen Plätze und Alleen auszeichneten.

Ins Studientechnische übersetzt heißt das: Der Weg in die Philosophie führte über das Nebenfach „Philosophie“. Der Terminus „Nebenfach“ will sagen: berufsvorbereitungspraktisch weniger wichtig. Aber im Falle der Philosophie besagt er zugleich auch: In sie sollte man einmal über das hinaus, wofür man fachlich speziell sich zuständig zu machen hat, Einblick genommen haben. In der Geschichte der Studienordnungen schlägt sich das nieder: Die Stärke der Nebenfachrolle der Philosophie ist hier unübersehbar und ihre Sonderrolle in obligaten propädeutischen Studien gleichfalls.

Die Frage, wieso man denn zum Philosophen geworden sei, ist in meinem Falle also studienpraktisch die Frage nach den Anlässen und Gründen, die man hatte, aus einem gemeingeschätzten Nebenfach schließlich ein Hauptfach zu machen. Ich sagte schon: Das war in meinem Falle zufallsbedingt, also keine Planrealisation, auch nicht die Wirkung einer Erleuchtung und keine irresistible Attraktion höherer Zwecke. Auf den Hauptweg der Philosophie geriet ich kraft der ermunternden Wirkung von mannigfacher Zustimmung meiner akademischen und sonstigen Lehrer zu Fragen, die ich gelegentlich stellte – Fragen, die im Seminarbetrieb eher quer zum Unterrichtsprogramm standen, nichtsdestoweniger aber in einem weiterführenden Sinne zur Sache zu gehören schienen und deswegen dann und wann mit der Auskunft beschieden wurden, darüber müsse man einmal extra reden, das führe in die „Philosophie“.

Das möchte ich exemplarisch anschaulich machen und damit zugleich den wichtigen Gemeingebrauch des Wortes „Philosophie“ explizieren, den ich soeben zitiert habe. Es handelt sich also um das Beispiel einer philosophischen Frage. Beispiele haben in der Geschichte der Begriffs- und Theoriebildung immer wieder einmal eine erwiesenermaßen prekäre Rolle gespielt, und zumal für die Geschichte der Philosophie gilt das. Entsprechend erinnere ich mich auch hier gern an eine von Heinrich Scholz, dessen dreisemestrige Einführung in die mathematische Logik ich besuchte, sogar mehrfach erwähnte Fälligkeit, dass endlich einmal eine kritische Geschichte des Beispielgebrauchs in der Philosophie erarbeitet und vorgelegt werde. Seinerseits formulierte Scholz drei Anforderungen, die ein gutes Exempel zu erfüllen habe – erstens müsse es „echt“ sein, das heißt nicht fingiert, vielmehr praktisch vorkommend und für die Teilnehmer an dieser Praxis als relevant erkennbar. – Zweitens müsse das Exempel für seinen Begriff oder auch für das Theorem, das man mit ihm veranschaulichen möchte, repräsentativ sein, so dass es für die Fülle analoger Fälle durchsichtig wird und damit zugleich die Signifikanz von Gegenbeispielen abschätzbar macht. – Drittens müsse das Beispiel, das ja seinen primären Ort in Vorlesungs- und Vortragszusammenhängen habe, einfach sein, nämlich aus didaktisch-rhetorischen Gründen. – Ich hoffe, dass ich mit meinem nun folgenden Beispiel für eine seminaristische Quer-Frage, die vom Professor als „philosophisch“ qualifiziert wurde, die Scholzschen Kriterien für ein gutes Exempel einigermaßen erfülle.

Also: In einer Lehrveranstaltung des Faches „Praktische Theologie“ erwähnte der Professor das über Jahrzehnte hin meisterverbreitete Kinderfamilienspiel „Mensch, ärgere Dich nicht!“. Sein Dauererfolg erkläre sich aus der Evidenz des Lebensgewinns, der sich aus der großen Lebenskunst ziehen lasse, sich zur unvermeidlichen Kontingenz unserer Lebensabläufe in geeignete, nämlich hinnahmebereite Beziehung zu setzen. Meine Quer-Frage lautete: Da uns doch die Würfellose, statistisch gesehen, nach Nutzen und Nachteil auf lange Sicht hälftig zufallen, da überdies der Anteil der Geschicklichkeit an den sonstigen Faktoren des jeweiligen Spielausgangs sehr gering sei, dürfe insoweit das Spiel doch auch „Mensch, freue Dich!“ heißen. Den Jubel der Kinder, die gegen ihre Eltern gewonnen haben, hätten wir doch noch alle im Ohr. Wieso also stelle der Name des Spiels, statt auf die Ermunterung zur Freude, auf den Umgang mit dem Ärger ab? Der Professor lobte die Frage als „wichtig“, ließ sie aber dahingestellt sein – wohl wegen der Fülle der teils widersprüchlichen, teils sich ergänzenden Antworten, die spontan jedermann einfallen wollen, und die, explizit gemacht, die Seminarveranstaltung, die doch lediglich auf die lebenspraktische Bedeutung indisponibler und daher auch nach Kriterien der Gerechtigkeit schlechterdings nicht zurechenbarer Kontingenzen aufmerksam machen wollte, in ein philosophisches Kolloquium verwandelt hätten.

Die Eigenschaften meiner Frage, die sie als respektable, aber momentan störende Philosophie zurückgestellt bleiben ließen, sind rasch aufgezählt: Erstens bezieht sie sich auf ein wichtiges Thema – im fraglichen Fall sogar statt auf ein logisches oder methodologisches Thema auf ein gemeines Lebensthema. – Zweitens bezieht sie sich damit auf ein Problem, das der Unentbehrlichkeit seiner Lösung wegen tatsächlich auch längst gelöst ist, ja: in der kulturellen Wohlvertrautheit dieser Lösung sogar Präsenz in einem Kinderspiel hat. – Drittens festigt die explizite, eben philosophische Vergegenwärtigung des Lebenssinns eines Spiels eben diesen Spielsinn. – Viertens wird mit der Vergegenwärtigung denkbarer Alternativen zur sogar spielerisch dominant gewordenen Lösung eines Lebensproblems die Triftigkeit dieser Lösung bekräftigt. – Fünftens wird damit die fragliche Alternative zu dieser Lösung – im exemplarischen Fall also die Kunst, sich des Glücks im Leben zu erfreuen – sogar als ein Medium der ungleich schwierigeren Kunst sichtbar, mit dem Unglück zu leben. – Sechstens ermuntert diese Philosophie auch noch zum Respekt vor der praktischen Bedeutung der kognitiven Gehalte unserer Lebensorientierung – im exemplarischen Fall der statistischen Trivialitäten des Würfelspiels, was uns dann auch für weniger triviale Fälle lehrt, was es heißt, mit Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten zu leben.

Diese den anderen Personen, den eigenen Lehrern zumal, wie schließlich auch einem selbst auffällig gewordene Neigung, in Sach- und Fachzusammenhängen Quer-Fragen des exemplarisch skizzierten Typus zu stellen, versetzte einen allmählich in die Philosophie, die ja, wenn nicht als bürgerlicher Beruf, so doch als traditionsreiches akademisches Fach im Wesentlichen unangefochten existent war und allerlei Fachleute beschäftigte. Alles Übrige war dann, wie überall im Studium, Interesse, das mit seiner produktiven Betätigung fortschreitend an Intensität gewinnt und auch die Erfüllung curricular wohl geregelter Anforderungen leicht macht – vom schon erwähnten logischen Propädeutikum bis zur Lektüre der Klassiker und von den Forschungsbeiträgen zur Erweiterung und Emendation ihrer Kenntnis bis zur Teilnahme an fälligen Fortschreibungen der Gegenwartsphilosophie, bei der in meinem eigenen Fall die Analytik historischer Prozesse in ihrer Indifferenz gegenüber dem Unterschied von Natur und Kultur besonders wichtig war, überdies die Einsicht in die Unvermeidlichkeit und damit Hegungsbedürftigkeit des politischen Streits um Worte, was dann auch für Theorie und Praxis der Begriffshistoriographie von fundamentaler Bedeutung werden sollte, bis hin zu einem Verständnis zivilisatorischer Modernisierung, das plausibel macht, wieso in eins mit der Verwissenschaftlichung und Technisierung unserer Lebensvoraussetzungen die Ansprüche des so genannten common sense, politisch-institutionell Demokratisierung erzwingend, unabweisbarer werden, wieso überdies komplementär zur Dynamisierung der zivilisatorischen Evolution deren Selbsthistorisierung kulturell expandiert und wieso schließlich auch noch, komplementär zur technischen und organisatorischen Expansion unserer zivilisatorischen Könnerschaften, Kontingenzerfahrungen aufdringlicher werden, auf die sich rational einzig religiös antworten lässt. – So also gelangte ich in die Philosophie und zur eigenen Philosophie, und dass sich dann daraus auch ohne jede Sonderbegünstigung rasch ein Beruf machen ließ, ist mit dem Hinweis auf die historisch singuläre Expansion des Universitätssystems in dem Vierteljahrhundert nach 1960 erklärt, über die sich auch die Zahl der philosophischen Assistenturen, Dozenturen und Professuren vervielfachte.

Es versteht sich von selbst, dass eine Philosophie, die Aufmerksamkeit verdient und schließlich auch findet, aus der Philosophie ihrer Zeit erwachsen, sich an ihr messen und abarbeiten und in Verhältnissen der Übereinstimmungen oder auch des Widerspruchs eigenen Stand gewinnen muss. Mein Interesse für das, was andere Leute im Fache machen, war dabei eher überdurchschnittlich weitgespannt. Heidegger oder auch Jaspers verachteten bekanntlich den „Betrieb“ und bekundeten das, durchaus betriebsam, in Vorträgen und auf Kongressen. Meinerseits habe ich Philosophiekongresse, national und international, gern besucht, weil es keine kompakteren Möglichkeiten der Kenntnisnahme dessen gibt, was es alles jenseits des engen Kreises eigener Bemühungen auch noch gibt. Was dazu in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gehörte – das lässt sich hier enzyklopädisch nicht mitteilen. Wen es interessiert, möge Kongressdokumentationen lesen. Hier möchte ich stattdessen ankündigungsgemäß über Philosophie im 20. Jahrhundert sprechen, „wie ich sie kennen lernte“, nämlich in ihren Ansprüchen und Einsichten, politisch-öffentlichen und akademisch-wissenschaftlichen Wirkungen, die für meine eigene Arbeit prägend geblieben sind.

1. Philosophie als politische Ideologie

Akademische Esoteriker unter den Philosophen neigen dazu, Ideologien, näherhin die Hochideologien, in ihrer Rolle als Legitimationsinstanzen der modernen totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts aus dem Begriff der Philosophie überhaupt auszuscheiden. Das ist ebenso unzweckmäßig, wie es wäre, unter den Begriff der Religion exklusiv „nette Religionen“, wie Robert Spaemann sagte, zu subsumieren. Jeder gibt doch zu, dass es absurd wäre, Karl Marx den Prädikator eines Philosophen zu verweigern, und der deutsche Philosoph Karl Marx war nun einmal die mit Abstand wichtigste ideologische Autorität in den totalitären Systemen internationalsozialistischer Prägung. So muss man sagen: Nie war die öffentliche politische Geltung der Philosophie stärker als in den ideologisch integrierten und legitimierten Herrschaftssystemen des jüngstvergangenen Jahrhunderts. Sie hatte als Ideologie den Status einer festgeschriebenen Orthodoxie – institutionell kontrolliert und sanktioniert, katechismusförmig aufbereitet, obligater Lehrstoff mit dem Inhalt der wichtigsten Werte und Wahrheiten unseres individuellen und kollektiven Lebens in allen seinen Aspekten, durch Ketzergerichte geschützt und die politische Fundamentalunterscheidung von Freund und Feind sichernd. Es war nicht möglich, während des Kalten Krieges in der Rolle eines Philosophen nicht beeindruckt zu sein, wenn man bei den internationalen Kongressen von Prag über Ost-Berlin bis nach Moskau an den Stirnwänden der Säle die Transparente mit den gestaffelten Relief-Köpfen der vier wichtigsten Menschheitsführer ausgespannt sah – darunter zwei bärtige Deutsche, nämlich Engels und Marx vor Lenin und Stalin oder auch für den zuletzt Genannten ersatzweise in Peking Mao.

Dass uns das auch außerhalb des damals sich einrichtenden Weltfriedenslagers zu beschäftigen haben werde, ging mir zum ersten Mal am Ende des Jahres 1945 in sowjetischer Gefangenschaft auf. Korrekt gemäß den Regeln der Haager Landkriegsordnung sollten die Kranken nach Hause entlassen werden, und zuvor belehrte uns in Begleitung eines Offiziers der Roten Armee noch ein Deutscher über die Weltlage: Der Faschismus sei besiegt, die Zukunft werde jenen fortschrittlichen Kräften gehören, über deren historische Rolle wir doch nicht zuletzt durch die deutschen philosophischen Klassiker von Kant bis Marx hätten aufgeklärt sein können. Uns erwarte harte Arbeit, das aber endlich in einem neuen Deutschland. Als Anlass zur Aufnahme eines Philosophiestudiums wirkte die zitierte Erklärung natürlich nicht. Aber nachdem man nun einmal, aus ganz anderen Gründen, zum Philosophen geworden war, musste selbstverständlich auch die ideologiepolitische Inanspruchnahme der Philosophie, über die sie im Marxismus-Leninismus zu einem weltpolitischen Faktor geworden war, zu einem philosophischen Thema ersten Ranges werden.

Auch in den Fraktionen, zu denen in den Jahrzehnten des real existierenden Sozialismus die aktiven Teilnehmer der großen Weltkongresse der Philosophie sich formierten, spiegelt sich das: Stets hatte die marxistisch-leninistische Fraktion das schärfste Profil. Die westliche neo-marxistische Intelligenz zeigte sich vom Dogmatismus der philosophischen Partei-Orthodoxie zumeist peinlich berührt, verhielt sich aber ideologiepolitisch nichtsdestoweniger strikt anti-antikommunistisch.– Die zweite Fraktion, in der sich, lockerer, auf ihren Weltkongressen die Philosophen versammelten, war die der so genannten Hermeneuten, das heißt die Repräsentanten der sich selbst historisierenden philosophischen Tradition mit Einschluss derjenigen unter ihnen, die als Phänomenologen oder als Neuscholastiker, als Anthropologen oder Ästhetiker in Fortbildung hermeneutisch präsenter Philosophien nicht nur historiographisch, sondern auch theoretisch arbeiteten. Hier dominierten die Philosophen des kontinentaleuropäischen Westens.– Drittens trat die Fraktion der Analytiker hervor – der Logiker und der Wissenschaftstheoretiker, der linguistisch kompetenten Sprachphilosophen, der Evolutionstheoretiker und der Kybernetiker.

Wenigstens ein Drittel der so manifesten Weltphilosophie wusste sich also ideologiepolitisch verpflichtet, und die Auseinandersetzung mit diesem Faktum hat mich immer wieder beschäftigt – von den späten fünfziger Jahren, als die sozialdemokratischen Parteien im europäischen Westen sich von den Schlacken des Dialektischen und Historischen Materialismus zu befreien hatten, über die mich verblüffenden Versuche einer Rekonstruktion des Historischen Materialismus im Kontext der sozialromantischen Bewegtheiten Ende der sechziger Jahre bis hin zu den nachfolgenden Bemühungen, die Totalitarismusaffinität der Philosophie zu verstehen, bei der mir vor allem Raymond Aron hilfreich wurde sowie dann auch mit seiner Historizismus-Kritik Karl Popper. Am Beispiel Poppers lässt sich zeigen, dass der philosophische Kern der Totalitarismuskritik disziplinär der Geschichtswissenschaftstheorie zugehört. Das soll in der Schilderung meiner zweiten Begegnung mit der Philosophie des 20. Jahrhunderts skizziert sein, über die mir die Wissenschaftstheorie wichtig geworden ist.

Zuvor sei aber noch die häufig gestellte Frage beantwortet, ob die im marxistischleninistischen Falle evidente Zugehörigkeit der Philosophie zum System des Totalitarismus denn auch für den Nationalsozialismus gelte. Die Quintessenz der Ideologie des Nationalsozialismus ist schließlich die Rassentheorie, und bei dieser Theorie, so hörte ich gelegentlich, handele es sich doch nicht um Philosophie, vielmehr um Stuss. Wissenschaftshistorisch ist das korrekt, und ich belege das mit einer einschlägigen Absurdität aus meinem zweiten Gymnasialschuljahr. Im Biologieunterricht hatte 1938 weisungsgemäß eine Schädelvermessung stattzufinden. Der Rasseadel hieß „nordisch“, und man kam dem Ideal dieser Rassenklasse umso näher, je kleiner der Quotient aus Schädelbreite und Schädellänge war. Im eigenen Fall erwies er sich als reichlich groß. Der Lehrer sah meine Miene und tröstete mich, das sei tatsächlich nicht „nordisch“, vielmehr im zweiten Rang „fälisch“ – wie auch schon im Falle unseres verstorbenen, aber doch allseits zu Recht verehrten früheren Reichspräsidenten und Feldmarschalls Hindenburg.

Stuss, aber doch nicht Philosophie! – das scheint evident zu sein, und nichtsdestoweniger handelt es sich bei dieser Evidenz historisch leider um eine falsche Alternative. Das ging mir später auf, als ich als junger Philosophiedozent bei der Suche nach Schlüsseldokumenten nationalsozialistischer Ideologie zur Vorbereitung einer einschlägigen Lehrveranstaltung auf einen 1933 erschienenen Titel Rasse und Staat stieß – verfasst von einem gewissen Wiener Privatdozenten Dr. Erich Voegelin. „Aha“, sagte ich mir, „da hast du noch etwas, was du für deine Seminarvorbereitung brauchen kannst.“ Günthers Rassenkunde des deutschen Volkes und Theodor Fritschs Handbuch der Judenfrage standen auch schon in meiner Handbibliothek. Die Lektüre belehrte mich dann eines Besseren: Es handelte sich keineswegs um das Werk eines nationalsozialistischen Rasse-Ideologen, vielmehr um das Werk eines Berichterstatters über die weltweite Verbreitung der Rassen-Idee im 19. und 20. Jahrhundert vom Franzosen Gobineau bis zum Amerikaner Madison Grant, der bereits den Ersten Weltkrieg als einen Rassenkrieg gedeutet habe, den der rassereinere nordische Teil der Menschheit gegen die rassisch vermischten Völkerschaften der Deutschen und Österreicher geführt habe. – Es gibt leider eine breit gelagerte Rassenphilosophie mit politisch inspirierender Wirkung, und Voegelin hat sich frühe Verdienste als Historiograph dieses Vorgangs erworben.

2. Wissenschaftsphilosophie

Banalerweise ist man für die antitotalitäre politische Option nicht auf Wissenschaftsphilosophie angewiesen. Die Massenverbrechen der totalitären Systeme von links und rechts, denen nach den Aufsummierungen des französischen Historikers Courtois und seiner Kollegen zu Menschheitsreinigungszwecken weit über einhundert Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, genügt insoweit normalerweise für die angemessene Urteilsbildung. Aber um im Kontext unserer Bemühungen zu verstehen, wie das möglich war, ist auch die Wissenschaftsphilosophie nützlich, ja: in genau bestimmbarer Hinsicht unentbehrlich.

Karl Popper hat seinem zuerst in englischer Sprache erschienen Historizismus-Buch eine Widmung zur Erinnerung an die politischen Opfer des Irrglaubens an die Existenz von Geschichtsgesetzen vorangestellt. Das berührt uns, klingt aber auch naiv: Wäre denn nicht der „Irrglaube an die Existenz von Geschichtsgesetzen“ ein Thema, das im Philosophischen Seminar zu erörtern bliebe? Was hätte das mit den Schrecken totalitärer Herrschaft zu tun?

Die Rassentheorie zeigt es in unüberbietbarer Krassheit. Man muss nämlich, um der Einsicht in die Wahrheit der Rassenlehre einschließlich der Einsicht in den Rassenkriegscharakter der Menschheitsgeschichte uneingeschränkt fähig zu sein, gemäß dieser Lehre der Vorzugsrasse, der schließlich im Kampf ums Dasein die Vorherrschaft zufallen wird, selber angehören. Im selbstlegitimatorischen Prinzip dieser Philosophie gilt für die Klassentheorie und damit für die Einsicht in den Klassenkampfcharakter der Weltgeschichte dasselbe: Erst den Angehörigen der Endklasse in der gesetzmäßigen Abfolge der jeweils für ihre Klasseninteressen kämpfenden sozialen Formationen wird die Einsicht möglich, dass die Interessen des Proletariats identisch sind mit den universalen Interessen der Zukunftsmenschheit. Damit wird der Klassenfeind allein schon über seine pure Nichtakzeptanz der Klassentheorie identifizierbar. Man hat es mit einer Konstellation zu tun, in der Widerspruch nicht einen widerlegungsbedürftigen Irrtum repräsentiert, vielmehr die Ideologie des Feindes, den es zu bekämpfen gilt. So hatte es ja auch schon, nahezu wortgleich, Karl Marx gelehrt, und auch das große Wort, welches Lenin schreiben ließ, wird jetzt verständlich: „Uns ist alles erlaubt.“ Wer darf das für sich sagen? Die Antwort lautet: Wer kraft seiner Einsicht in die gesetzmäßige Abfolge der Klassen und ihrer Kämpfe weiß, wieso er kraft seiner Endklassenposition der Erste ist, der das Schwert nicht mehr zu den Zwecken der Unterdrückung, vielmehr einzig zum Zweck endgültiger Befreiung zieht. Jetzt versteht man die historisch-politischen Zusammenhänge: Der zitierte leninistische Satz findet sich in der Zeitschrift der Organisation zur Zerschmetterung der Konterrevolution, und die Tätigkeit dieser Organisation hat eben nicht trotz der hohen Wertevorgaben marxistischer Philosophie stattgefunden, vielmehr im Interesse der politischen Exekution dieser Philosophie.

Jetzt klingt das Poppersche Gedenken an die Opfer totalitärer Herrschaft im Vorspann zu einer analytischen Theorie möglichen Geschichtswissens schon weniger naiv, und es sei rasch noch gesagt, wieso denn gemäß Popper Geschichtswissen prinzipiell kein Wissen von Gesetzmäßigkeiten sein kann, wie wir sie in einigermaßen geschlossenen Handlungssystemen von der Technik über die Medizin und mit Einschränkungen bis zur Ökonomie und zur Sozialpolitik unseren Entscheidungen zugrunde legen. Historische Prozesse sind eben, kulturell wie natural, Verläufe in offenen Systemen, die von kontingenten, nicht prognostizierbaren Ereignisinterventionen mitbestimmt sind, und im Kontext der wissenschaftlichen Zivilisation ist es nicht zuletzt das prinzipiell nicht vorhersehbare zukünftige Wissen, das über seine technische und organisatorische Umsetzung sowie kraft seiner wirtschaftlichen und sonstigen Nutzung den faktischen Ablauf der Dinge gesamthaft unplanbar prägt. Kurz: Die Philosophie wird hier zur sokratischen Erinnerung an prinzipielle Grenzen des Wissbaren – unterstützt durch die Vergegenwärtigung jüngst erfahrener Folgen der Missachtung der Philosophie unseres Nicht-Wissens.

Die philosophische Basis der Popperschen Kritik des Totalitarismus, dessen Ideologie er „Historizismus“ nannte, war also eine generalisierte analytische Theorie historischer Prozesse. Das ließ sich später detaillierter und genauer bei kulturhistorisch zugleich kompetenteren Analytikern studieren, bei Danto zum Beispiel, und in meinen eigenen Bemühungen ist daraus das Buch Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse hervorgegangen, das als Analytik und Pragmatik der Historie den Hauptzweck hatte, die traditionsreiche deutsche Geisteswissenschaftstheorie von Droysen über Dilthey bis zu Gadamer oder Ritter fortzuführen, und das zugleich in der Absicht, zur Evidenz zu bringen, wieso kulturell in eins mit den Leistungen der theoretischen Natur- und Sozialwissenschaften sowie ihrer zivilisationsdynamisierenden Nutzung das Interesse für die Leistungen der historischen Wissenschaften anwachsen muss. Ein kleiner Aufsatz mit dem Titel „Was heißt ‚Das lässt sich nur historisch erklären‘?“, der des öfteren nachgedruckt worden ist, fasst das zusammen. Darauf ist später noch bei der Beschäftigung mit den auffälligen Selbsthistorisierungstendenzen der modernen Kultur zurückzukommen.

Zunächst bleibt noch unter dem Stichwort „Wissenschaftsphilosophie“ der philosophische Gewinn zu erläutern, der für mich mit der dominanten Bindung der Wissenschaftstheorie an die Naturwissenschaften verbunden war. Ich erwähnte bereits Heinrich Scholz als meinen Lehrer in der Logischen Propädeutik, und Scholz war es auch, der die Aufmerksamkeit alsbald auf die Traditionen des Wiener Kreises einschließlich ihrer post-positivistischen Fortbildungen zumal in der Emigration lenkte. Scholz lenkte überdies auch die Aufmerksamkeit auf diejenigen Wissenschaften, die als Naturwissenschaften zugleich historische Wissenschaften sind. Kosmologen, Geologen und Paläontologen waren zu Gast. Allmählich ging einem der semantische Missbrauch der Wörter „erklären“ einerseits und „verstehen“ andererseits in der geisteswissenschaftsphilosophisch leider kanonisch gewordenen Formulierung auf, dass die Natur zu erklären, die Kultur aber zu verstehen sei. Unbeschadet der Trivialität, dass Natur und Kultur in ihrer Untrennbarkeit zugleich unterschieden sein wollen, sind wir in beide über Geschichten verstrickt, die uns mit Beständen konfrontieren, die sich einzig historisch erklären und so verstehen lassen. In letzter Instanz erscheint dann sogar das Dasein der Welt als ein historisches Datum, und Heinrich Scholz, der vor der Übernahme seiner Mathematik-Professur Professor der Philosophie und auch noch Professor der Systematischen Theologie gewesen war, hatte für die schöpfungstheologischen Aspekte dieser Betrachtung einen wachen Sinn, wie er denn auch die universelle Geltung der Sprache der Logik wie eine partielle, sozusagen vorpfingstliche Rücknahme der Folgen des Turmbaus zu Babel feierte.

Scholz war es übrigens auch, der uns als junge Studenten bereits 1948 auf den frühen Wittgenstein aufmerksam machte. Entsprechend leicht fand ich später den Zugang zum späten Wittgenstein und damit zur sprachanalytischen Philosophie. Das sollte für die methodische Disziplinierung der begriffshistorischen Arbeit wichtig werden, die im Umkreis des von Joachim Ritter inaugurierten Historischen Wörterbuchs der Philosophie, des Lexikon der Geschichtlichen Grundbegriffe und der langjährig tätigen Arbeitsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ stattfand. Die methodisch gehärtete Begriffshistoriographie verschaffte nicht nur der Philosophie- und der Wissenschaftsgeschichte neue Durchsichtigkeit. Sie öffnete zugleich den Blick für den politischen Streit um Begriffe, ja: um die Benennung dieser Begriffe, dem sich durch orthosprachliche Bemühungen prinzipiell nicht beikommen lässt, der vielmehr seinerseits exklusiv politischer Pragmatik gehorcht. Der Begriff der „Ideenpolitik“ hat sich für die Beschreibung dieser Zusammenhänge als nützlich erwiesen.

3. Philosophie der Lebenswelt

Unter diesem Titel möchte ich einige Orientierungsgewinne beschreiben, die für mich aus der Zuwendung zur Phänomenologie resultierten. Autobiographisch einigermaßen vollständig beschrieben, wäre jetzt vom Studium bei den Husserl-Schülern Heidegger und Szilasi zu reden, von der langen Reihe der Gespräche mit dem um fast zwei Generationen älteren Wilhelm Schapp, vom Besuch der Phänomenologenkongresse in Belgien, in Frankreich und in Amerika.

Ich wähle einen anderen, abkürzenden Weg und stelle eine beim ersten Hören befremdliche These voran. Sie lautet: Die kulturelle, nämlich orientierungspraktische Bedeutung der früher so genannten „wissenschaftlichen Weltbilder“ nimmt ständig ab. Das soll heißen: Je tiefer sich die Wissenschaften in die Dimensionen des sehr Großen, des sehr Kleinen und des sehr Komplizierten hineinarbeiten, umso weniger sind sie noch in derjenigen Welt wieder zu finden, die wir lebenserfahrungspraktisch einschließlich der Inanspruchnahme der Leistungen aus wissenschaftlich bedingten Könnerschaften kognitiv und emotional, leiblich und sozial einigermaßen verstehen und beherrschen. Noch in den Kulturkämpfen des späten 19. Jahrhunderts empfahlen sich wissenschaftliche Weltbilder als künftig maßgebende „Weltanschauungen“ gegen biblische Schöpfungsberichte und sonstige weltanschauliche Vormodernität. Inzwischen sieht man: Allein schon die Dynamik im Wandel des wissenschaftlichen Wissens macht dieses Wissen als maßgebliches Bild der Welt lebensführungspraktisch immer weniger wichtig.

Also: Die Lebenswelt – das ist die Welt, zu der die Wissenschaften, anstatt uns über sie endlich in Kenntnis zu setzen, ihrerseits gehören, so dass uns aus der Perspektive dieser Lebenswelt zu sagen bleibt, was es denn heißt, in ihr zu leben – seit eh und je und neuerdings überdies in lebensweltverändernder Nutzung des wissenschaftlichen Wissens, zu dem dann, ganz modern, das phänomenologisch explizit beschriebene Lebensweltwissen selber gehört. Das klingt kompliziert und nichtsdestoweniger lässt es sich exemplarisch anschaulich machen.

Zur Frühgeschichte oder besser noch: zur Vorgeschichte der Phänomenologie gehört einer der wenigen Fälle evidenzverschaffender Illustration einer philosophischen Einsicht. Ernst Mach ist ihr Autor, und der eingangs erwähnte, gern als „Positivist“ charakterisierte Philosoph unter meinen Gymnasiallehrern hatte mich schon im Schüleralter auf sie aufmerksam gemacht. Die Illustration blieb unbeschadet damals fehlender Einsicht in ihre philosophische Quintessenz unvergessen. Diese Quintessenz gewinnt an Deutlichkeit vor dem Hintergrund der Erinnerung, dass in der Gesamtgeschichte der europäischen Ikonographie derjenige, der sieht, was uns ein Bild zeigt, stets selbst sich außerhalb des Bildraums befindet. Vom Subjekt des geschaffenen oder gesehenen Bildes wird im Bild selber abgesehen, und das ist auch dann der Fall, wenn nach traditionsreicher Üblichkeit der Maler in dazu geeigneten Szenerien in diese marginal ein Portrait seiner selbst eingebracht hat. Denn dieses Selbstportrait zeigt ja nicht, was man als Betrachter eines Bildes in seiner Vergegenwärtigung zugleich von sich selber sieht. Es zeigt vielmehr, wie man imaginiert, sich zu sehen, wenn man sich in fingierter dritter Person von außen als ein anderer sähe. – Und jetzt wird die Machsche Philosophie-Illustration sprechend: Die Abbildung dessen, was man als Philosoph auf einer Chaiselongue liegend in einer Pause des Nachdenkens beim Blick in das Arbeitszimmer und durch sein Fenster hinaus sieht und überdies auch noch von sich selber sieht, indem man sieht – die eigene Nasenspitze nämlich und die Schnurrbartspitze auch noch, die Vorderseite des eigenen Leibes vom Brustkorb an abwärts, ganz sicher aber den eigenen Rücken nie und auch vom eigenen Kopf bis auf die genannten Partien fast gar nichts.

Was soll das und wie lautet das damit illustrierte philosophische Theorem? Zunächst erkennt man spontan, welchen Teil der Welt, in der wir leben, uns die phänomenologische Philosophie vor Augen rücken möchte – denjenigen nämlich, der in unserer Zuwendung zur Welt bei normaler Einstellung in den Unaufmerksamkeitsschatten längst selbstverständlich gewordener Orientierungsleistungen und Verhaltenskönnerschaften absinkt. Eben über solche Leistungen konstituieren sich unsere Lebenswelten, ohne deren wahrnehmungsstabilisierte Orientierungsgewissheiten und leibgebundene Selbsterhaltungskönnerschaften es auch für jene kognitiven Leistungen, deren Erbringung einen dafür eigens frei geräumten Lebenszeitanteil philosophischer und sonstiger wissenschaftlicher Praxis verlangt, gar keine lebensweltliche Basis gäbe.

Wahrnehmungsphänomenologie, auch die Daseinsanalyse mit ihren existenzphilosophischen Antworten auf die Frage, was es heißt zu sein, die mehr als jeder andere Martin Heidegger wirkungsreich machen sollte, Ludwig Wittgensteins Beschreibung der Sprachlebenswelten, dann die vielen Beiträge zur Beantwortung der schönen Frage How to do things with words?, auch die Herleitung logischer und linguistischer Fundamentalbegriffe aus den Verständigungsleistungen, die uns der Alltag abverlangt, – das alles sind wissenschaftshistorisch gerade nicht Beiträge zu jenen so genannten wissenschaftlichen Weltbildern, die sich in der Wissenschaftskulturgeschichte zumal des späten 19. Jahrhunderts als Medien fälliger kognitiver Emanzipation aus voraufgeklärter Weltkenntnis empfahlen. Um Bemühungen von wissenschaftskulturkritischer Wiedergewinnung eines vermeintlich heilen Welturwissens handelt es sich aber auch nicht. Es handelt sich vielmehr um explizite Vergegenwärtigungen der unsere Lebenswelten prägenden Selbstverständlichkeiten, für die das wissenschaftliche Interesse in demselben Maße an Intensität gewinnen musste, wie die Lebensweltferne des modernen Forschungswissens zugleich mit seiner anwachsenden lebensweltverändernden Nutzbarkeit zunahm. Genau das war mit der im Eingang dieses Kapitels genannten These von der abnehmenden kulturellen Bedeutung wissenschaftlicher Weltbilder gemeint. Sie sei noch in einem wissenschaftspublizistischen Vorgang von großer kultureller Relevanz gespiegelt.

Der große deutsche Darwinist und Weltbildpropagandist Ernst Haeckel erreichte mit seinem berühmten Titel Die Welträtsel einen Absatz nahe der Millionengrenze. Demgegenüber begegnet uns die populärwissenschaftliche Literatur von heute als Weltanschauungskampfmedium nicht mehr. Das hat auch wichtige religionsphilosophische Konsequenzen, auf die noch zu sprechen zu kommen sein wird. Bis in die Magazinliteratur hinein, die, mit eindrucksvollen Coverbildern geschmückt, die Regale der Bahnhofskioske füllt, ist populärwissenschaftliches Wissen heute in exzellenten Darstellungen omnipräsent – ungleich differenzierter, aber zugleich auch zumeist auflagenschwächer als Haeckels Titel. Das bedeutet wissenschaftskulturell: In Bezug auf Forschungsstände up to date zu sein, ist zu einem Publikumsinteresse von Hobbycharakter geworden. Exemplarisch heißt das: Man erwartet, dass wir lebensführungspraktisch wissen, was sich heute medizinisch präventiv oder therapeutisch für die Erhaltung oder Wiederherstellung unserer mannigfach bedrohten Gesundheit tun lässt. Dass wir uns auch ein Laienwissen jener physiologischen Prozesse verschaffen, die heute bereits Schulkinder „alterszuckerkrank“ sein lässt, wird hingegen nicht erwartet.

Entsprechend möchte ich, dieses Kapitel abschließend, mit ein paar Strichen zu skizzieren versuchen, wie die phänomenologische Aufmerksamkeit auf die lebensweltlichten Voraussetzungen unseres modernen Lebens ihrerseits dieses Leben modernisierend verändert. Mein wichtigster phänomenologischer Lehrer Wilhelm Schapp – als bedeutender und zumal in Frankreich geschätzter Philosoph kein Professor, vielmehr ein Privatmann – Schapp also pflegte das elementare phänomenologische Faktum, dass die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, also die für unsere eigene Subjektivität konstitutive Sicherheit in der Unterscheidung ihrer selbst von derjenigen Realität, die sie nicht selbst ist, wahrnehmungsanalytisch am Beispiel derjenigen Sinneserfahrungen deutlich zu machen, die uns unsicher sein lassen, ob sie objektiv oder subjektiv bedingt sind. Man stutzt für einen Moment über eine irritierende Helligkeit im Bild an der Wand, und über einen Schritt zur Seite wird die Irritation durch die Gewissheit behoben, es handle sich um einen vom eigenen Standort abhängigen Reflex des Lichteinfalls aus naher Lichtquelle. Experten für eine sinneserfahrungsoptimierte Hängung von Bildern wissen entsprechend, dass der ästhetische Effekt eines zum Bildinhalt selbst gehörenden Lichtscheins, dessen Quelle als außerhalb des Bildes gelegen fingiert wird, nicht durch eine reale Lichtquelle in der Umgebung des Bildes gestört werden darf. Das reale Licht, in welchem das Bild als solches erscheint, muss daher maximal diffus bleiben, und eben dafür ist in einem modernen Museum gesorgt.

Schon diese Beschreibung genügt, um zu erkennen, dass die stets innersubjektive Unterscheidung von Subjekt und Objekt in ihren sinnlichen Aspekten zum eigenständigen Objekt ästhetischer Experimente und Spiele werden kann. Aus der Geschichte des Impressionismus, des Pointillismus, auch des Kubismus kennt diese Experimente und Spiele jeder. Sie sind dauerhaft ein Interesse ungegenständlich bildender Kunst geblieben, und man erkennt die Borniertheit jener Kunsttheorie, die von Lenin bis Herbert Marcuse die spezielle Gegenständlichkeit der wahrnehmungsästhetisch an sonstigen Gegenständen nicht interessierten Kunst verkannte und sie als „unrealistisch“ verwarf – so noch der zitierte Marcuse, der immerhin Warhol unbeschadet seiner Siebdruckreihenspiele dann doch seiner Suppendosen wegen als Realisten lobte und zugleich tadelte, dass das Elend der Arbeiter in der Suppendosenproduktion nicht mitthematisiert sei.

4. Politische Common sense-Philosophie

Allein schon mit der bereits geschilderten Zuwendung zum Thema der Rolle der Philosophie in den totalitären Groß-Ideologien des 20. Jahrhunderts war ein auch philosophisch unabweisbares Interesse für die Politik verbunden, und das auch praktisch. Die Erfahrungen, die sich dabei machen ließen, sind mir dann auch für die politikphilosophischen Arbeiten wichtig geworden – von den Studien zur Geschichte der politischen Philosophie speziell in Deutschland über die Auseinandersetzung mit den technokratischen Traditionen bis hin zu der Beschäftigung mit den politischen Aspekten der zivilisatorischen Evolution in ihren globalen Dimensionen einerseits und ihrer Begünstigung direktdemokratischer Politisierung kleinräumiger Lebensverhältnisse andererseits. Unbeschadet des Umfangs einschlägiger Schriften und des Lebenszeitanteils, über den hin sie sich erstrecken, lässt sich im Anschluss an die Erörterung zum Thema der Lebenswelt ein mir besonders wichtig gewordenes Thema politischer Philosophie rasch skizzieren.

Es liegt ja nahe, die Frage zu stellen, woran sich denn das politische Handeln, wenn eben nicht an katastrophenträchtigen Philosophien des großideologisch-totalitären Typus, stattdessen zu orientieren habe. Es sind abermals platonische Traditionen, die uns finden lassen mögen, an die Stelle der geschichtsphilosophischen Sinnvergewisserung, die in Missachtung prinzipieller Grenzen des Wissbaren Vernunftansprüche hypertrophieren ließ und eben deswegen zugleich mit politischen Konsequenzen dogmatisierte, habe eben auch für die Politik die Orientierung am methodisch disziplinierten und damit zugleich prinzipiell selbstwiderlegungsbereiten Forschungswissen zu treten. Der wirkliche, nämlich methodisch restringierte und erfahrungskontrollierte Sachverstand habe in letzter Instanz das politische Handeln anzuleiten, und eine in ihrer Anschaulichkeit unüberbotene Symbolisierung dieser „technokratischen“ Idee, wie sie später genannt werden sollte, ist bekanntlich bereits im 17. Jahrhundert Francis Bacon gelungen. In seiner Utopie Nova Atlantis ließ er nämlich die übliche Denkmalsszenerie europäischer politischer Tradition durch lauter Wissenschaftler-, Erfinder- und Techniker-Standbilder ersetzt sein. Eindrücklicher kann man es schwerlich sagen, und eine gewisse personale Autorität hatte das so Gesagte auch noch, weil ja Bacon über seine Rolle als Philosoph hinaus überdies auch als Politiker eine vorübergehend sogar herausragende Stellung in der Geschichte Englands hatte. Der platonisierende Gehalt dieser Idee, die elaborierten Wissenschaften und Könnerschaften zum zentralen Leitmedium politischer Welterhaltung und Weltverbesserung zu machen, blieb bis zu den Vorstellungen der amerikanischen Technokraten, die um den Ersten Weltkrieg herum sich als erste auch selbst technocrats nannten, wirksam und in bescheidenerem, aber dafür einflussreicheren Maße in den obrigkeitsstaatlich geprägten Traditionen juridisch kompetenter deutscher Staatsdenker auch noch, die stets die vermeintlich rationale staatliche Öffentliche Verwaltung vor der vermeintlichen Irrationalität der Volksentscheide schützen zu sollen vermeinten und damit die Demokratie stets als rein repräsentative Demokratie favorisierten.

Indessen: Auch unsere politische Lebenswelt ist nicht eine Welt, die im Wissen und Können der Fach- und Sachverständigen ihre letztinstanzliche kognitive Repräsentanz finden könnte. Die einschlägige Stelle ist mit einer ganz anderen Kompetenz zu besetzten, und zwar umso unabweisbarer, je höher der Grad der Verwissenschaftlichung und Technisierung unserer zivilisatorischen Lebensvoraussetzungen ansteigt. Der philosophische Name dieser Kompetenz lautet common sense, und nicht zufällig erfolgt die politische Transformation des Begriffs des common sense, der doch früher in seiner bis in die Antike zurückreichenden Tradition exklusiv ein Begriff in der Theorie der niederen Erkenntnisvermögen war, just in demselben Jahrhundert, in welchem auch die frühtechnokratischen Philosophien ihren Auftritt hatten.

Common sense – das wird jetzt, zuerst in Schottland und England und dann auch, als sens commun, in Frankreich, zum Namen der Kompetenz, auf die wir uns gerade in verwissenschaftlichten und technisierten modernen politischen Lebenswelten angewiesen wissen. Mir ist dieser Zusammenhang nicht zuletzt in Zusammenarbeit mit den sozialwissenschaftlichen Theoretikern und Exekutoren der Universitäts- und Forschungspolitik der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts aufgegangen sowie in etlichen Zusammenstößen mit den an französischen Planifications-Ideen orientierten Enthusiasten futurologisch rationalisierter und planungsgelenkter Administration. Was wird dabei, unbeschadet des guten Rechts, das diese Ideen partiell auch hatten, übersehen? Die Antwort lautet: Die Betroffenheiten des Bürgers vom Nutzen und Nachteil des sich beschleunigenden Wandels unserer Lebenswelten mittels wissenschaftlich und technisch wohlberatenen Projekten zur Bedienung unseres eigenen Wunsches nach einem guten, ja: besseren Leben.

Jeder Arztbesuch heute bringt zur Evidenz, wieso just die wie nie zuvor leistungsfähig gewordene Medizin kraft der Eingriffstiefe dieser Leistungen die Zustimmung der Laien, der Patienten also, zu diesen Eingriffen verlangt – von der Akzeptanz der Nebenfolgen eines Medikamentengebrauchs, auf die uns heute, sogar gemäß gesetzlicher Vorschrift, die Werbung aufmerksam macht, bis zu vorsorglicher Verfügung über Akzeptanz oder Nicht-Akzeptanz ärztlicher Notfallhilfen in Fällen, in denen das vorerst gesicherte Überleben mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Leben wäre, das man in vormodernen Zeiten lediglich deswegen kaum jemals sich nicht zu wünschen gehabt hätte, weil die Möglichkeit eines solchen unguten Lebens ohnehin so gut wie gar nicht bestand.

Das lässt sich verallgemeinern. Von der Medizin bis zum Straßenbau, vom Entsorgungssystem bis zur Organisation unserer Alterversorgung und von der rechtlichen, technischen und organisatorischen Gewährleitung unserer Sicherheit bis zur gesetzgeberischen Findung der Grenzen zwischen freien und inakzeptabel schadensträchtigen Selbstverwirklichungsambitionen, vom Suchtmittelgebrauch bis zu religiösen Sonderriten reicht heute die Fälligkeit von Regelungen, für die ein Expertenkonsens entweder gar nicht beschaffbar oder politisch nicht tragfähig wäre und somit einzig die Mehrheitsmeinung der Betroffenen erkennbar hält, womit sich trotz verbleibender Meinungsgegensätze leben ließe. Eben deswegen nimmt gerade in sehr komplex gewordenen Lebenswelten die Zahl der Fälle zu, wo das politisch-lebensweltlich erreichbare Optimum eine Entscheidung kraft Abstimmungsmehrheit verlangt. Modernisierung löst Demokratisierungszwänge aus – nicht wegen der unwiderstehlichen Attraktion von Idealen, zu denen man philosophische Prinzipien erhoben hätte, vielmehr wegen des sozialen Sachzwangs zur Findung dessen, was politisch gelten soll, in Lagen unaufhebbar heterogener Betroffenheiten vom Nutzen und Nachteil modernen Lebens. Es hat seine guten Gründe, dass auch verfassungsrechtspolitisch die direktdemokratischen Institutionen expandieren.

Der insoweit erläuterte Vorrang des common sense vor dem Expertenurteil beruht somit in letzter philosophischer Instanz auf dem lebensweltlichen Vorrang der Betroffenheit der Subjekte vor der guten Expertenmeinung. Dem Schuhmacher kann in der Kunst des Schuhemachens kein Laie etwas vormachen. Ob aber die Schuhe uns passen, muss dem Urteil ihres Nutzers vorbehalten bleiben – so lautet diese Philosophie in antiplatonischer Gemeinverständlichkeit aristotelischer Herkunft.

5. Philosophie der Vergangenheitsvergegenwärtigung

In allen modernen Gesellschaften nimmt die Intensität des öffentlichen und privaten Interesses an der Vergegenwärtigung von Vergangenheiten zu, und es bedarf einer Philosophie der Vergangenheitsvergegenwärtigungspraxis, um sie in ihrer Nötigkeit zu erkennen und sie damit zugleich gegen eine inzwischen traditionsreiche, dann und wann sich erneuernde Kritik unserer Vergangenheitszugewandtheit zu verteidigen. Wie kein anderer hat mich zuerst Joachim Ritter die spezifische Modernität der historischen Kultur sehen lassen und in eins damit die Zugehörigkeit der deutschkulturell so genannten Geisteswissenschaften, das heißt näherhin der historischen Kulturwissenschaften, zur modernen öffentlichen Kultur. Gegenwärtig, das heißt im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist wieder einmal die Diagnose aktuell, die Geisteswissenschaften befänden sich in einem Zustand der Krise und gerieten überdies in den Aufmerksamkeitsschatten der Naturwissenschaften, der Medizin und der Technikwissenschaften und ihrer Leistungen, die mit ihrem Nutzen und mit etlichen prekären Nebenfolgen auch noch zum Ensemble unserer zivilisatorischen Lebensvoraussetzungen gehören. Solche Diagnosen haben ihre Gründe – im deutschen Fall vor allem einen im internationalen Vergleich auffälligen förderungspolitischen Nachholbedarf zugunsten etlicher kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Nichtsdestoweniger bleibt davon das zu den Leistungen der Naturwissenschaften komplementäre Interesse am Vergangenheitswissen unberührt, ja: es bringt sich heute wie nie zuvor kulturell zur Geltung. „Wie nie zuvor“ – das ist hier keine rhetorische Hyperbel, vielmehr ein hartes, kultursoziologisch wohlvermessenes Faktum.

Exemplarisch heißt das: Der Grad der Musealisierung, der wir unsere Lebenswelt unterwerfen, steigt unverändert an. Die Menge der Besucher, die sich in den Museen alljährlich einfinden, erreicht in hochentwickelten Ländern ungefähr die Zahl der Einwohner dieser Länder. Nie zuvor haben die Leistungen des Denkmal- und Ensembleschutzes den Anblick unserer Altstädte stärker geprägt als heute, und für die Anmutungsqualität, die über die Industriearchäologie unsere Alt-Industriereviere gewinnen, gilt Analoges. Die Neuerrichtung von Bibliotheks- und Archivbauten wird, wie in Frankreich, zur Gelegenheit eines präsidialen Staatsakts bei der Einweihungsfeier. Universitäten, die im 19. Jahrhundert ihrer Gründung nach einhundert Jahren gedachten, machen inzwischen aus der Zehnjahresfeier ein Event.

Mit exemplarischen Schilderungen dieser modernen Selbsthistorisierungskultur ließe sich lang fortfahren – vom blühenden Antiquitätenhandel bis zu den Oldtimertreffen rezenter Autofans. Selbst auf bescheidenem Anspruchsniveau hat man es hier mit Aktivitäten und Hervorbringungen zu tun, zu deren kognitiver Disziplinierung regelmäßig die historischen Kulturwissenschaften ihren Beitrag leisten. Für die Einrichtungen der anspruchsvollen Vergangenheitsvergegenwärtigung gilt das von der modernen Provinzarchäologie bis zu unseren nationalen Literaturarchiven sowieso. Der naturwissenschaftliche Unterricht an unseren Gymnasien hat ein beispiellos hohes Niveau erreicht – aber für die komplementären kulturwissenschaftlichen Schulfächer gilt das gleichfalls. Wer schulkulturelle Verfallserscheinungen dagegen hielte, hätte damit die These von den heute erreichbar gewordenen hohen Niveaus nicht widerlegt, vielmehr lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass in modernen Gesellschaften mit egalitär gleich verteilten Chancen des Zugangs zu anspruchsvollen Lern- und Bildungsmöglichkeiten die jeweils tatsächlich erreichten Kompetenzniveaus nach oben wie nach unten auseinanderdriften. So oder so ist der Anteil der Bürger, der heute Kulturgüter in Anspruch nimmt, die ohne die Leistungen der historischen Kulturwissenschaften gar nicht zugänglich wären, größer als je zuvor, und es steht nicht im Widerspruch zu den Ausbildungserfordernissen, die in modernen Gesellschaften insgesamt erbracht werden müssen, dass an unseren Universitäten der Anteil der Studenten aller kulturhistorischen Disziplinen zusammengenommen den der Naturwissenschaften weit überbietet, obwohl gleichzeitig noch der Anteil der Lehramtskandidaten unter den Kulturwissenschaftsstudenten zurückgeht.

Die Frage drängt sich auf: Wieso wird just modernisierungsabhängig die Vergangenheit interessanter? Nietzsches unvergessene kulturkritische Diagnose, es handele sich dabei und in Deutschland zumal um Zukunftsverweigerung, ist ihrerseits, gerade weil sie falsch ist, einer historischen Erklärung bedürftig. Diese Erklärung braucht uns aber hier nicht zu beschäftigen. Nicht Zukunftsscheu, vielmehr das objektive Faktum, dass in eins mit der zivilisationsevolutionären Innovationsrate in den Wissenschaften wie in der Technik, in unseren Lebensgewohnheiten wie in Organisation und Gesetzgebung auch die Alterungsrate wächst, macht uns Vergangenes interessanter. Nie war eine zivilisatorische Gegenwart stärker als unsere eigene von Produkten, Normen, dominanten Meinungen und Einstellungen erfüllt, über denen bereits, indem wir noch auf sie angewiesen sind, der Anhauch der Gestrigkeit liegt. Zeittheoretisch beschrieben heißt das: Die Gegenwart, das heißt die Extension desjenigen Zeitraums, für den wir mit einigermaßen konstanten Lebensumständen rechnen können, schrumpft. Das bedeutet: Diejenige Zukunft, für die wir in wichtigen Hinsichten mit anderen, veränderten Lebensverhältnissen rechnen müssen, rückt der Gegenwart näher, und genau komplementär dazu nimmt die Zahl der Jahre ab, über die zurückzublicken bedeutet, in eine Welt zu blicken, in der wir unsere Gegenwart nur noch in einigen Hinsichten wiedererkennen können.

Es ist hier nicht der Ort, die so ultrakurz strukturell gekennzeichnete Gegenwartsschrumpfung anschaulich zu machen. Das füllte Bücher, und in meinen Zeit-Büchern wäre das nachzulesen. Es muss aber noch gesagt sein, wieso wir denn die Menge des Vergangenen, die zugleich mit der Menge des Neuen anwächst, nicht einfach auf sich beruhen und schließlich definitiv vergessen sein lassen, vielmehr mit einem materiellen und personellen Aufwand wie nie zuvor gegenwärtig halten, nämlich, wie geschildert, museal und archäologisch – historisierend also und überwiegend gerade nicht in der Absicht, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen und sie ihrer wissenschaftlichen, technischen, medizinischen oder auch organisatorischen und politischen Nützlichkeit wegen ihrem sonst drohenden Vergessenwerden zu entreißen.

Der Grund ist ein gänzlich anderer. Wer wir sind – das sagt uns unsere Geschichte. Eben deswegen stellen wir uns ja in Bewerbungsschreiben mit einem curriculum vitae vor, und Analoges tut heute jede Institution, jede politische Gemeinde und jede Kirchengemeinde auch noch, die zur Gelegenheit ihres Jubiläums eine Festschrift mit dem Zentralgehalt einer Darstellung ihrer Geschichte veröffentlicht. In Zeiten mächtiger, von Geltungskonstanzen tatsächlich oder auch nur vermeintlich geprägter Traditionen verbleibt der Selbsthistorisierungsbedarf gering. Er ist gering, wenn in den allerwichtigsten Lebenshinsichten die Gegenwart der Vergangenheit ohnehin gleicht. Vergangenheitsvergegenwärtigung wird somit nötig, wenn unsere Herkunftswelten uns wandlungstempobedingt partiell zu fremden Vergangenheiten werden. Alsdann bedarf es ihrer Historisierung, um sie in ihrer Fremdheit verständlich und damit unserer Gegenwart und somit uns selbst zuschreibungsfähig zu halten.

So geschieht es also in der modernen Zivilisation, die sich deswegen als Zivilisation progressiver Selbsthistorisierung darstellt. Wichtig bleibt freilich, dass, anders als beispielsweise Karl Marx annahm, keineswegs der Gesamtbestand unserer zivilisatorischen Lebensverhältnisse sich mit gleicher Geschwindigkeit ändert und fortwälzt. In eins mit der Menge dessen, was sich rasch ändert, wächst auch die Auffälligkeit dessen, was uns durch die Konstanz seiner Geltung vom Zwang, uns up to date machen zu sollen, entlastet. Es gibt das Klassische, und zum modernen Begriff der Klassizität gehört nicht zuletzt die temporale Eigenschaft der Alterungsresistenz. Entsprechend wachsen die Ansprüche an unsere Urteilskraft, kulturell, moralisch und politisch zu unterscheiden, was der Änderung und was der Konservierung bedarf und überdies auch der Erhaltung durch Veränderung. Man riskiert nicht zuviel, wenn man sagt, dass das heute mehr als in jedem anderen Lebensbereich in der Religion erfahren wird.

6. Religionsphilosophie nach der Aufklärung

Im ersten Abschnitt war von dem dauerhaft wirksamen Eindruck die Rede, den die Philosophie in ihrer Rolle als Ideologie, näherhin als Legitimationsbasis der großen totalitären Systeme auf mich hinterlassen hat – vom marxistisch-leninistischen inspirierten Vortrag zur Gelegenheit der Entlassung aus sowjetischer Gefangenschaft bis zur Aneignung der weit in die Geschichte der Philosophie zurückreichenden Rassenphilosophie, auf die ich als junger Dozent in Vorbereitung auf Lehrveranstaltungen zur Ideologie des Nationalsozialismus zu rekurrieren hatte. Im Gegensatz zu den im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wichtigen so genannten „Politischen Theologien“, die insbesondere in den revolutionären Bewegungen der Entwicklungsländer irdische Realisationen von Verheißungen des christlichen Glaubens zu erkennen glaubten, die die Kirche ins Jenseits verlegt habe, sind mir früh schon die explizit religionskritischen und näherhin christentumskritischen Gehalte der modernen politischen Ideologien philosophisch wichtiger gewesen und damit der Status der totalitären Systeme als „Anti-Religionen“. Entsprechend musste sich religionsphilosophisch auch der Irrtum der radikalen Religions- und Christentumskritik identifizieren lassen, der sie annehmen ließ, unser religiöses Selbst- und Weltverhältnis werde sich volläquivalent und definitiv durch ein Weltbild ablösen lassen, das sich wissenschaftsgeschichtlich auf der Höhe der Zeit befinde. Diese Volläquivalenz ist es ja, die, zum Beispiel, die Einheitsparteiführung in der DDR annehmen ließ, das von den Genossen Ulbricht und später Honecker bevorwortete Handbuch Weltall, Erde, Mensch, beim Initiationsritus der Jugendweihe überreicht, löse Bibel und Glaubensbekenntnis ab. Das war nun eine Vorstellung, die bekanntlich auch im „bürgerlichen“ Weltanschauungsmilieu eine wichtige Rolle gespielt hatte – die Fälligkeit nämlich der Ersetzung des biblischen „Weltbildes“ durch ein christliches.

Die natürliche Schöpfungsgeschichte – so lautete bekanntlich ein berühmter Titel des schon erwähnten Jenenser Zoologen Ernst Haeckel mit seinem Weltbeststeller Die Welträtsel, den ich, wie schon berichtet, in der kleinen Bibliothek meines Großvaters fand. Wäre dieser Dorfschullehrer zugleich Mitglied des Monisten-Bundes gewesen, so hätten die Haeckelschen Welträtsel, die endlich gelösten nämlich, nach weltanschauungsgeschichtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich den Status einer Anti-Bibel gehabt. Aber jener Lehrer war ein frommer Mann, amtierte als Kantor, schrieb niederdeutsche Choräle und vertonte sie auch. Wozu diente da Haeckel? Wurde er als Prophet des Atheismus in Anspruch genommen? Die historisch korrekte Antwort lautet: Kampfschriftcharakter hatten die zitierten Werke populärer naturwissenschaftlicher Aufklärung tatsächlich. Aber der Gegner war gerade nicht der biblische Schöpfungsglaube, vielmehr die geistliche Schulaufsicht, die es ja noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Preußen gab und die gelegentlich vermeinte, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube seien kognitiv inkompatibel. Im amerikanischen so genannten Kreationismus ist diese Meinung bekanntlich mit nicht unerheblichen kulturpolitischen Folgen auch heute noch verbreitet, desgleichen überall bei den Zeugen Jehovas und bei einigen Altgläubigen unter den weltanschaulichen Parteigängern des real existent gewesen Sozialismus auch noch.

Bereits um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts wusste der zitierte Volksschullehrer es besser: Die Wissenschaften sagen uns in bewährten oder auch zweifelhaften Hypothesen, was der Fall ist, und für die uns mit dem Schöpfungsglauben angesonnene Zustimmung zum unvordenklichen Faktum, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, macht es keinen lebenspraktischen Unterschied, ob nun unsere Erde ihre guten biblischen fünftausend Jahre alt ist oder doch eher, wie wir heute annehmen, um das Millionenfache älter. Eben das heißt: Unser erfahrungspraktisch gewonnenes, wissenschaftlich emendiertes und forschungspraktisch überdies permanent fortgebildetes Weltwissen, das überdies auch in unserer wissenschaftlichen Zivilisation kraft seiner technischen und organisatorischen Nutzung längst zum Ensemble unserer realen Lebensvoraussetzungen gehört, ändert doch an den Gewissheiten und Ungewissheiten der uns verfügbaren Antworten auf die Frage, was es denn heißt zu sein statt nicht zu sein, gar nichts und damit auch nichts an der Integrität der Religion, durch die wir lebenspraktisch auf diese Gewissheiten und Ungewissheiten eingestellt sind. Das verknüpfe man nun mit dem bereits skizzierten wissenschaftskulturgeschichtlichen Faktum, dass die Lebensweltferne des wissenschaftlichen Wissens zunimmt und sich zugleich rascher noch als in früheren Epochen der Wissenschaftsgeschichte verändert. Alsdann sieht man, dass die Bedingungen der Zustimmung zum Sein einschließlich unseres eigenen Daseins eben nicht von jeweiligen Forschungsständen abhängig sein können. Das ist es, was Johannes Paul II. in seiner berühmten 1980er Rede an die Adresse der im Kölner Dom versammelten Wissenschafter und Intellektuellen feststellen ließ, kognitive Dissonanzen zwischen Glauben und Wissenschaft bestünden nicht.

Dass Wissenschaft einerseits und Religion andererseits nichts miteinander zu tun hätten, sollte damit allerdings auch nicht gesagt sein. Man muss die Religion von den anderen großen Mächten menschlicher Lebenskultur unterscheiden – von der Wissenschaft wie von der Politik und vom Recht wie von der Kunst. Aber das, was man so unterscheiden muss, lässt sich doch zugleich nicht trennen, und jede Feststellung und Neufeststellung dessen, was nun einmal ist oder gewesen ist, statt anders zu sein oder gewesen zu sein, bekräftigt mit der Kontingenz dieses So- und nicht Andersseins zugleich die Kontingenz des unhintergehbaren Faktums, dass einschließlich unserer selbst überhaupt etwas ist, statt nicht zu sein und in seinen jeweils bereits indisponibel gewordenen Vergangenheiten so und nicht anders zu sein. Das wiederholt nur, was ich schon oben so ausdrückte: Die Welt ist ein kontingentes Datum, und die Wissenschaften sind, als historische Wissenschaften zumal, um die es sich ja bei ihnen bis hin zur Kosmologie in letzter Instanz handelt, kulturelle Medien der Erfahrung jener Daseinskontingenz, mit der uns die Religion leben lässt.

Ich weiß: So von der Religion zu reden – das nennt man heute in kritischer Absicht „Funktionalismus“, und Robert Spaemann hat diesen Funktionalismus beharrlich durch die Absicht charakterisiert, die Religion durch etwas anderes von vermeintlich analoger Wirkung zu ersetzen. In der Tat: Die Tendenz der Ersetzung der Religion durch ein besseres Medium der Erfüllung ihrer tatsächlich unaufgebbaren Zwecke ist ein fortdauernder Teil der Religionsgeschichte. Den prominentesten Fall der Ersetzung der Religion durch etwas vermeintlich funktionsanalog Besseres haben wir ja erwähnt, die Politischen Religionen nämlich, deren radikale Religionskritik bis hin zur Religionsverfolgung eine Konsequenz der Absicht war, die religiöse Pseudoerfüllung unauslöschbaren menschlichen Heilsverlangens durch etwas leistungsfähigeres Besseres zu ersetzen. Indessen: In der Kennzeichnung der Religion durch die Funktion, uns in eine lebensangemessene, nämlich realistische Beziehung zum Unverfügbaren zu bringen, wird aber doch gerade nicht Religion durch etwas anderes ersetzt – nicht durch eine Psychologie, nicht durch eine politische Ideologie, nicht durch eine heilsame Ernährungsalternative und durch Musik oder durch eine andere Kunst auch nicht. Es wird vielmehr der Versuch gemacht zu sagen, wofür denn die Religion – die Religion generell freilich und nicht nur die christliche – in unseren Kulturen da ist, und das im Unterschied zu den Leistungen der Wissenschaft oder der Technik, des Rechts und der Politik und der Kunst. Es bleibe hier dahingestellt, seit wann und wie diese Lebensmächte in der Geschichte unserer Kultur voneinander und partiell auch gegeneinander bis hin zur Herausbildung eigenständiger Institutionen sich getrennt und verselbstständigt haben. So oder so sind es tatsächlich funktionale Differenzen, die sich in solchen Prozessen der Ausdifferenzierung und Verselbstständigung zur Geltung bringen. Eben in dieser funktionalen Verselbständigung werden sie dann doch auch gegeneinander unaustauschbar, und die Katastrophe des Totalitarismus ließe sich insoweit aus den Folgen des Versuchs erklären, die funktionalen Differenzierungen zurückzunehmen und in vermeintlich realistischer Erfüllung ihrer ideologischen Verheißungen sogar besser als die Religion zu sein. Kurz: Die funktionale Theorie der Religion macht diese gerade nicht gegen anderes austauschbar, sondern sagt, in welcher Funktion sie unersetzlich bleibt.

Wahr ist lediglich, dass man, wenn man von der Funktion der Religion generalisierend spricht, nicht vom Vorzug der einen Religion gegen eine andere spricht und von der Differenz der Konfessionen auch nicht. Aber so verfahren doch die Religionswissenschaften seit langem, und es wäre religionswissenschaftshistorischer Unfug zu sagen, dass das Interesse für die Religion überhaupt statt exklusiv für die eigene eo ipso eine relativierende Bedeutung haben müsste. Religionsvergleiche verbleiben ja unbenommen, und die aktuellen Bemühungen um die weltgeschichtlich höchst folgenreichen Unterschiede in den Interaktionen zwischen den religiösen und politischen Kulturen einschließlich ihrer Institutionen sind ein Thema solcher Vergleiche.

Zusammenfassend gesagt: Warum soll denn von der Funktion der Religion nicht die Rede sein dürfen? „Funktion“ – das ist doch lediglich ein verbales theoriesprachliches Äquivalent für den Nutzen der Religion, und wer auch den Gebrauch des Wortes „Nutzen“ verschmähte, wird doch zu sagen wissen, wofür Menschen Religion brauchen, wofür sie ihnen gut ist, und nicht einmal die Treffen der Weltreligionsführer in Assisi wären denkbar gewesen, wenn sich nicht sagen ließe, was denn das sei, wofür diese Führer stehen. Aber selbst der Name Gottes reicht ersichtlich nicht aus, um das zu benennen. Buddhisten, die unzweifelhaft religiös, aber doch keine Theisten sind, waren ja in Assisi auch präsent.

Damit erledigt sich auch die populäre intellektuelle Kritik am Reden über die Religion aus der so genannten Außenperspektive. Die Verständigung über die Religion aus der Außenperspektive für defizient zu halten, gliche der Meinung, das Verhältnis des Arztes zum Kranken verharre in einer Beziehung der Uneigentlichkeit der Krankheit gegenüber. Wahr ist lediglich, dass der akademische Internist, der Krankheiten beschreibt, akut zumeist nicht selber an eben diesen Krankheiten darniederliegt, aber doch nicht ohne zu wissen, was es heißt, krank zu sein. Genau analog dazu redet denn auch die Religionsphilosophie über die Religion nicht von außen. Sie redet über die Religion, wie wir sie als einen universell präsenten Teil humaner Kultur auch aus unserer eigenen Lebenswelt kennen. Bei der vermeintlich wahrnehmungsbeschränkenden Außenperspektive handelt es sich in Wahrheit darum, dass man religionsphilosophisch eben über die Religion hoffentlich Zutreffendes mitteilt, aber doch damit nicht eine religiöse Sprachhandlung eben derjenigen Religion vollzieht, über die man gerade redet. Dabei ist es nicht irrelevant, ob wir uns in Bezug auf die Religion in der Absicht einer Verständigung über sie und im Respekt für das, was sie uns in der „Binnenperspektive“ ist, auch in der „Außenperspektive“ zu äußern vermögen. Die Sicherheit, in der wir hier zu einer Unterscheidung dessen fähig sind, was sich in der Tat nicht voneinander trennen lässt, gehört zu den Bedingungen der Einsicht, wieso im Kontext der modernen Zivilisation gerade die rechtlich gesicherte Eigenständigkeit der religiösen Institutionen gegenüber den politischen und sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Lebens einschließlich der Wissenschaft, die Religion, statt sie einzuschränken, ungefährdet fürs Ganze unseres Lebens wirksam hält.

Hermann Lübbe

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