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3. Währungsstabilisierung, Ausnahmezustand und Diktatur im Herbst und Winter 1923/24
ОглавлениеEnde November 1923 schrieb der Lektor Ludwig Feuchtwanger an seinen Autor Carl Schmitt, dass man mit Blick auf die jüngsten Ereignisse „Tag für Tag Anschauungsunterricht über Allgemeine Staatslehre“ bekomme. Die alten Meister wie Machiavelli, Bodin und Hobbes, die man früher nur in der Historie zu lesen bekommen habe, würden „fatal lebendig“. Trocken antwortete Schmitt, dass das vor allem für Hobbes gelte.56 Zeitgenossen der Inflationszeit kamen immer wieder auf dieses Bild des Kampfes „aller gegen alle“ zurück. Es war verbunden mit dem Ruf nach Diktatoren, „starken Männern“ und einem „starken Staat“. Der Winter 1923/24 war das Exerzierfeld des Ausnahmezustandes. Diktaturdebatten begleiteten Deutschland seit dem Krieg und der Revolution, aber sie nahmen im Spätherbst 1923 Fahrt auf, als das Geld zunehmend seine Funktion als Tauschmittel verlor und es so schien, als ob sich damit auch staatliche Autorität auflöste. Die Zeitungen berichteten über Teuerungsunruhen und Plünderungen im ganzen Reich, an denen sich Frauen, Jugendliche, Arbeitslose, aber auch politische Aktivisten der Linken wie antisemitisch-völkischer Gruppen beteiligten. Sie plünderten Geschäfte und verkauften dabei gelegentlich dem Publikum die beschlagnahmten Waren zu „angemessenen Preisen“. Die pogromartigen Exzesse im Berliner Scheunenviertel Anfang November, die als Proteste von Arbeitslosen begannen und sich dann gegen die jüdische Bevölkerung nicht nur dieses Berliner Kiezes richteten, waren nur die Spitze des Eisbergs. Unverhohlen trat hier der grassierende Antisemitismus zutage.57 Die vielen Toten, die reichsweit bei diesen (meist aber nicht antisemitisch motivierten) Plünderungen auch wegen des Einsatzes von Sicherheitskräften einschließlich des Militärs zu verzeichnen waren, bleiben bis heute ungezählt. Anzeichen von Anarchie konnte man im Westen des Reiches, im preußischen Rheinland und der bayerischen Pfalz beobachten, wo deutsche Separatisten, unterstützt von Frankreich, ihre Aktivitäten verstärkten, öffentliche Gebäude besetzten und „autonome Republiken“ ausriefen. Das mündete in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen, da die selbst erklärten Separatisten auf den Widerstand breiter Schichten der Bevölkerung stießen.58
Standen die Zeichen nicht günstig für einen „deutschen Oktober“ (analog zum russischen Oktober der Bolschewiki 1917), wie Vertreter der KPD und der Kommunistischen Internationale wie Karl Radek meinten?59 Das Chaos der Hyperinflation schien, so auch die Annahme in Moskau, eine revolutionäre Situation zu schaffen. Sowjetisches Geld und Militärexperten halfen beim Aufbau eines paramilitärischen Apparats in Form von Proletarischen Hundertschaften mit bald über 50 000 Mitgliedern. Die KPD forcierte den Aufbau von (Preis-)Kontrollkommissionen, die in Aktionen der Selbsthilfe gegen Wucher, Schleichhändler und unangemessen hohe Preise vorgehen und dabei auch Waren und Nahrungsmittel beschlagnahmen sollten.60 Ziel war der Aufbau einer breiten, proletarischen Einheitsfront, wozu auch der Eintritt der KPD in SPD-geführte Regierungen in Sachsen und Thüringen in der ersten Oktoberhälfte zählte.
Der Kurs der KPD blieb umstritten. Wie eine Delegiertenversammlung linker Gewerkschafter, Kommunisten und Sozialdemokraten in Chemnitz am 21. Oktober in ihrer Mehrheit feststellte, war die wirtschaftliche Not infolge der Hyperinflation keine gute Voraussetzung für einen Generalstreik. Derart isoliert, blies die deutsche KPD-Führung unter Heinrich Brandler die geplanten Aktionen ab. Ein lokaler Aufstand in Hamburg am 23. Oktober endete in einem blutigen Desaster. Die kommunistischen Revolutionsparolen waren Wasser auf die Mühlen derjenigen, die ihrerseits Pläne für eine „nationale Diktatur“ hegten und dabei auf die drohenden Gefahren von Links hinwiesen. An die Wand gemalt wurde der über kurz oder lang ausbrechende Bürgerkrieg, ein Zustand der Anarchie, der nur mittels diktatorischer Machtmittel gelöst werden könne.
Tatsächlich herrschte schon seit dem 26. September, dem Ende des passiven Widerstands, in Deutschland reichsweit der militärische Ausnahmezustand, den der Reichspräsident in Absprache mit der Regierung Stresemann auf der Grundlage des Artikel 48 Absatz 2 der Verfassung erklärt hatte.61 Die Angst vor Unruhen als Protest gegen die Beendigung des passiven Widerstands – einem zweiten Dolchstoß, wie manche meinten – war nur ein Motiv. Entscheidend war das Vorpreschen der bayerischen Regierung, die mit dem bayerischen Ausnahmezustand (mit Verweis auf Art. 48 Abs. 5) der Reichsregierung zuvorkam und diese in Zugzwang brachte. Die Ernennung von Gustav Ritter von Kahr zum bayerischen Generalstaatskommissar zeigte, woher der Wind wehte. Seit März 1920 bayerischer Ministerpräsident, zählte von Kahr zu den Hoffnungsträgern konservativer Kräfte in der Bayerischen Volkspartei. Er pflegte vielfältige Verbindungen zur Reichswehr und den Wehrverbänden, darunter auch denen, die sich um ihre Führer Ludendorff und Hitler scharten und sich 1923 zunehmend zu einer politischen Konkurrenz mauserten. Seit der Niederschlagung der Räterepublik hatte sich der bayerische Ausnahmezustand zum Markenzeichen der Ordnungszelle unter von Kahr entwickelt. Ausnahmezustand hieß zum einen ein scharfes Vorgehen gegen die linken Parteien (einschließlich der SPD) und ihre Mitglieder, eine exzessive Anwendung der Schutzhaft, Versammlungsverbote und Einschränkungen der bürgerlichen Freiheitsrechte der Linken; zum anderen war damit der systematische Ausbau sicherheitsstaatlicher Strukturen von Landespolizei, Reichswehr und den Wehrverbänden verbunden. Unverhohlen kritisierten die Bayern die in ihren Augen nicht tragbare große Koalition mit den Sozialdemokraten, die den Reichsinnenminister stellten. Im November 1923 war Kahr der Initiator der Internierung und Ausweisung von sogenannten Ostjuden aus Bayern.62
Mit dem militärischen Ausnahmezustand ging die vollziehende Gewalt im September 1923 auf den Reichswehrminister Otto Geßler (DDP) über, der seine Befugnisse wiederum an die regionalen Wehrkreisbefehlshaber delegierte. Diese bekamen damit sehr weitreichende Machtmittel gegenüber den staatlichen Regierungen und Verwaltungen an die Hand. Schon vor und mehr noch nach dem gescheiterten Hamburger Aufstand erhöhten Reichswehrminister und Reichskanzler den Druck auf die sächsische Linksregierung des Ministerpräsidenten Erich Zeigner (SPD). Sie forderten ultimativ den Ausschluss der KPD aus der Regierung und drohten mit der Reichsexekution (auf der Grundlage von Art. 48, Abs. 1 der Verfassung). Als die linke sächsische Koalitionsregierung den Anweisungen nicht nachkam, erfolgte am 28. Oktober die angedrohte Reichsexekution: Ermächtigt durch den Reichspräsidenten enthob der Reichskanzler Stresemann die Mitglieder der sächsischen Regierung sowie der Landes- und Gemeindebehörden ihrer Ämter; am folgenden Tag besetzte die Reichswehr Sachsen und stellte die Polizei unter ihre Führung. Die Proletarischen Hundertschaften wurden verboten und entwaffnet. Ähnliches wiederholte sich nach dem 6. November in Thüringen. Die Regierungsgeschäfte übernahmen zivile Reichskommissare in Zusammenarbeit mit den Vertretern der Reichswehr. Dass es bei einem Intermezzo blieb, war der Intervention des Reichspräsidenten Friedrich Ebert zu verdanken. Schon am 31. Oktober wählte der sächsische Landtag eine neu gebildete sozialdemokratische Regierung, so wie dann später der thüringische Landtag eine bürgerliche Regierung mit Unterstützung der Völkischen wählte. Dabei gab es 1923 viele Stimmen, darunter die des Militärs, die sich eine politische Generalbereinigung wünschten, dazu zählten Regierungsbildungen ohne Sozialdemokraten – auch in Preußen. Im Dezember protestierte die neue sächsische Regierung, es spreche dem „Grundsatz der Demokratie Hohn, wenn es ein General wagen kann, alle sozialdemokratischen Beamten lediglich auf Grund ihrer parteipolitischen Einstellungen als unverlässlich zu kennzeichnen und ihres Dienstes zu entheben.“63
Die Erbitterung der Sozialdemokraten war groß, und am 3. November verließen sie im Groll die Regierung Stresemann. Neben Sachsen blickten sie auf die zurückliegenden Ereignisse in Bayern, wo die Reichsregierung wie die Reichswehr aus Opportunitätsgründen auf Zeit spielten, obwohl hier genauso gute Gründe für eine Reichsexekution vorlagen. In Bayern verweigerte sich die Reichswehr den Befehlen aus Berlin und stellte sich demonstrativ auf die Seite des Staatskommissars von Kahr. Das war eine Form von Hochverrat. Die Reichswehrführung unter von Seeckt stellte nicht erst jetzt klar, dass sie sich im Falle Bayerns einer Reichsexekution wie der in Sachsen verweigern würde. Nach dem Ausscheiden der SPD aus der Reichsregierung und den Vorgängen in Sachsen, Thüringen und Bayern schossen die unterschiedlichsten Diktatur- und Umsturzpläne ins Kraut. Unter den Bedingungen des militärischen Ausnahmezustands waren sie schon über Wochen und Monate hinweg ventiliert worden. Dazu zählten Pläne für ein mit Ausnahmevollmachten ausgestattetes, vom Parlament unabhängiges Direktorium (mit allen Anklängen an das napoleonische Frankreich). Die Exponenten waren politisch agierende Industrielle und Politiker mit Beziehungen zum Bund der Landwirte und dem Alldeutschen Verband, deren Mitglieder enge Kontakte zur DNVP und zur DVP pflegten. Der Reichspräsident war in diese Pläne eingeweiht, zumal die Initiatoren davon ausgingen, dass ein solches Direktorium nur mittels des in der Hand des Reichspräsidenten liegenden Ausnahmerechts gebildet werden konnte. Aber wer die richtigen Männer für diese Posten waren, blieb offen. Stinnes meinte gegenüber dem amerikanischen Botschafter in Berlin schon im September: „So ein Mann muß die Sprache des Volkes reden und selbst bürgerlich sein, und so ein Mann steht bereit“.64 Dabei dachte er wohl weniger an Hitler als vielmehr an von Kahr.
In diesen Diktaturplänen spielte von Anfang an der Chef der Reichswehr Hans von Seeckt eine wichtige Rolle. Viele Militärs setzten auf ihn. Dass aus allen diesen Plänen nichts wurde, hat mit seiner Person, aber mehr noch mit den Ereignissen in Bayern zu tun. Seit der Gründung der NSDAP im Februar 1920 war diese kleine Partei zu einer einflussreichen Kraft herangewachsen. Ihr Führer Adolf Hitler galt als Trommler für die nationale Sache. Bei allem Misstrauen standen Regierungsstellen, Polizei und Reichswehr der jungen Bewegung wohlwollend gegenüber. Seit der Ruhrbesetzung und dem passiven Widerstand war Hitler in Bayern eine nicht mehr zu übergehende Kraft und im Herbst kämpften von Kahr, Hitler und seine Verbündeten im völkischen Lager um die Führungsrolle in der nationalen Bewegung. Die Ereignisse spitzten sich am Vorabend des Jahrestags der Novemberrevolution am 9. November 1923 anlässlich einer großen Veranstaltung im Münchener Bürgerbräukeller zu. Mitten in einer pathetischen, mit Invektiven gegen den Marxismus und Berlin gespickten Rede des bayerischen Generalstaatskommissars stürmte der mit einer Pistole bewaffnete Hitler auf die Bühne, unterbrach von Kahr und erklärte – unter Jubel des anwesenden bürgerlichen Publikums – die bayerische und die Reichsregierung für abgesetzt. Hitler stellte die Bildung einer „nationalen Regierung“ in Aussicht. Die so Überrumpelten zogen noch in der gleichen Nacht ihre erzwungene Zusage zurück, und schon am 9. November wurde das Ende des Putsches unter dem Kugelhagel der bayerischen Landespolizei vor der Feldherrnhalle besiegelt.65
Noch in der Nacht des Putsches übertrug Friedrich Ebert von Seeckt (anstelle des Reichswehrministers Geßler) direkt die vollziehende Gewalt: Der General konnte „alle zur Sicherung des Reiches erforderlichen Maßnahmen ergreifen“, wie es in der ersten öffentlichen Bekundung hieß. Damit war das Militär näher an der Macht als je zuvor.66 Hoffnungen auf eine „Diktatur Seeckt“ wurden aber schnell enttäuscht. Denn mit der Übertragung der Macht an von Seeckt noch in der Nacht des Putsches band der Reichspräsident den Militär an seine Person: Seine erste Aufgabe bestand darin, auch in Bayern für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Und wie sich zeigte, bewegte sich der von Ebert beauftragte „Militärdiktator“ im Rahmen der Verfassungsordnung und unter der Führung des Reichspräsidenten. Die von ihm veranlassten Maßnahmen sind dennoch gerade auch mit Blick auf spätere Jahre von Bedeutung. Dazu zählen Parteien- und Zeitungsverbote, die Außerkraftsetzung bürgerlicher Grundrechte und Strafverschärfungen, darunter die militärische Schutzhaft, aber auch Interventionen in das wirtschaftliche Leben.67
Bei allen diesen Ereignissen ging es um die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Die andere Seite der Anwendung des Ausnahmezustands betraf die Behebung der wirtschaftlichen und fiskalischen Notstände auf der Grundlage des Artikels 48. Damit ermächtigte der Reichspräsident die Reichsregierung, weitreichende Beschlüsse auf dem Feld der Wirtschaft auch ohne Konsultierung des Reichstags zu fassen. Dieser hätte ein Veto einlegen können, was aber nicht geschah, auch nicht mit der SPD in der Opposition. In die gleiche Richtung zielten Ermächtigungsgesetze, mit denen der Reichstag seine legislativen Kompetenzen an die Regierungen (und damit indirekt an die Bürokratien) delegierte – und sich selbst vertagte. Wie es im Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923 hieß, sollten damit die Voraussetzungen geschaffen werden, „die Maßnahmen zu treffen“, die die Regierung „im Hinblick auf die Not von Volk und Reich für erforderlich und dringend erachtet“.68 De facto handelte es sich um „ein nacktes Diktaturgesetz“ 69 – in diesem Fall aus der Hand des Reichstages.
Mit dem Artikel 48 zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung, wirtschaftlichen Notverordnungsgesetzen und Ermächtigungsgesetzen regierten Militär, Bürokratie und Reichsregierung über ein halbes Jahr hinweg. In den Ländern gab es ähnliche Arrangements. Erlassen wurde eine Vielzahl von Verordnungen und Gesetzen, von denen die meisten ohne den Ausnahmezustand zweifellos keine Chance gehabt hätten, den Reichstag zu passieren, schon gar nicht in dieser Geschwindigkeit. Die Materie, um die es ging, war außerordentlich kontrovers, weil dabei wichtige Errungenschaften der Revolution wie der Achtstundentag zur Disposition standen, wogegen sich die SPD lange gesträubt hatte.70 Zu diesem Maßnahmenbündel zählt etwa der am 17. Oktober 1923 beschlossene schrittweise Personalabbau von 25 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Damit wurden bis zum 1. April 1924 400 000 Beamte, Angestellte und Arbeiter, darunter überproportional viele Frauen, entlassen. Die Gehälter und Löhne wurden auf 60 Prozent des Vorkriegssatzes reduziert, der Achtstundentag wurde aufgeweicht; zugleich stiegen die Steuern und Abgaben stark an. Reichsbahn und Reichspost erhielten keine Zuschüsse mehr.71 Die Härte der Austeritätspolitik erklärt sich auch dadurch, dass lange nicht sicher war, ob die Währungsreform tatsächlich gelingen würde. Am 15. Februar 1924 lief das letzte, zeitlich befristete Ermächtigungsgesetz aus, sodass wenige Tage später der Reichstag wieder zusammentrat. Als Sozialdemokraten, Kommunisten und Deutschnationale versuchten, die erlassenen Sparbeschlüsse abzuändern, löste der Reichspräsident am 13. März auf Bitten der Reichsregierung kurzerhand den Reichstag auf. Neuwahlen wurden für den 4. Mai anberaumt, was der Regierung eine weitere Atempause verschaffte.
Nach dem Winter 1923/24 war die deutsche Gesellschaft erschöpft. Bilder von riesigen Mengen wertloser Geldbündel, die verfeuert wurden oder Kindern als Spielzeug dienten, setzten sich nicht zuletzt dank ihrer medialen Reproduktion im kollektiven Gedächtnis fest. Die Währungsreform war mit allergrößter materieller Not, zahllosen Geschäftspleiten, hoher Arbeitslosigkeit und extrem niedrigen Einkommen verbunden. Die düstere wirtschaftliche Gesamtsituation besserte sich erst in der zweiten Jahreshälfte 1924, als im Zusammenhang mit der Übereinkunft in der Reparationsfrage, dem Dawes-Abkommen, auch amerikanische Kredite nach Deutschland flossen.
Aus den im Mai abgehaltenen Reichstagswahlen gingen die Deutschnationalen eindeutiger als noch vier Jahre zuvor als Wahlsieger hervor. Als oppositionelle Partei, die sich im Reich an keiner Koalition beteiligt hatte, bündelte sie die Unzufriedenheit bürgerlicher Gruppen nicht weniger als die der Landbevölkerung, aber auch der deutschnationalen Angestellten, Arbeiter und Beamten. Der soziale Protest war im wahrsten Sinne des Wortes deutschnational, unterfüttert mit einem grassierenden Antisemitismus. Die durchweg negativ beurteilten Folgen der Inflation verorteten nicht nur die Deutschnationalen im Kontext der zurückliegenden Revolution 1918/19, demokratischen Republik und Reparationen. Hatten sich der neue Staat ebenso wie mächtige wirtschaftliche Interessen nicht auf Kosten breiter Schichten der Bevölkerung ihrer Schulden entledigt?72 Die DNVP verbiss sich in das Thema Aufwertung, wobei es um einen finanziellen, aus Steuern zu finanzierenden Ausgleich zugunsten von Sparern und Besitzern von privaten und öffentlichen Anleihen ging: Die „Kapitalkleinrentner(innen)“ waren das Symbol dieses sich nun über Jahre hinziehenden moralischen Kampfes um Gerechtigkeit. Das Thema war schon deshalb explosiv, weil sich Richter am Leipziger Reichsgericht des Aufwertungsthemas annahmen, mit der Drohung, in diesem Kampf des „Rechts(empfindens)“ des Volkes gegen die (ungerechten) „Gesetze“ die erlassenen Gesetze nicht anzuerkennen. Das war eine in der deutschen Verfassungstradition unbekannte, nachgerade revolutionäre Anmaßung eines richterlichen Nachprüfungsrechts. Als die DNVP dann als wenig glücklich agierende Regierungspartei von ihren früheren Positionen abrückte, driftete dieser Protest des „Rechts(empfindens) gegen die Gesetze“ in völkische Richtung ab.73
Abb. 2.3: Auf dem Höhepunkt der Hyperinflation wird 1923 wertlos gewordenes Papiergeld vernichtet.
Seit 1924 wurden Bilanzen erstellt, wer zu den Verlierern und wer zu den Gewinnern der Inflation zählte, ein Bild, das, wie wir sahen, auf der Ebene der Statistik durchaus ambivalent ausfiel und viele (Selbst-)Einschätzungen relativierte: Der Mittelstand war nicht „vernichtet“, das gesellschaftliche System sozialer Ungleichheit, das auf dem Zugang zu gesellschaftlicher wie politischer Macht und Status auf der Grundlage von Bildung, Habitus und sozialer Position basierte, wies über alle politischen und sozialen Zäsuren hinweg große Kontinuitäten auf. Bei allen nivellierenden Folgen der Inflation war Deutschland nach wie vor eine Klassengesellschaft. Der Kapitalismus hatte sich entgegen der Erwartungen vieler behauptet, auch wenn sich seine Vertreter bitter über die hohen sozialen Lasten, Steuern und Staatsinterventionen beklagten. Aber das Land war nicht nur politisch, sondern nicht zuletzt infolge der Inflation auch sozial gespalten: zwischen Stadt und Land, Konsumenten und Produzenten, Hausbesitzern und Mietern, Gläubigern und Schuldnern sowie Arbeitern, Bauern und Bürgern. Die Zerrüttung gesellschaftsvertraglicher Beziehungen nahmen schon die Zeitgenossen als Dominanz partikularer Interessen wahr. Das betraf nicht zuletzt auch die bürgerlichen liberalen Parteien, die immer verschiedene Interessengruppen ihrer bürgerlichen Klientel zu integrieren versucht hatten.74
Einigkeit herrschte hinsichtlich der negativen Einschätzung der Inflationsgewinnler und der „Inflationsblüten“, die als Symptom wie als Ursache des Phänomens der Inflation Zielscheibe der Kritik waren. Das zeigt eine ganze Reihe von politischen Finanz- und Wirtschaftsskandalen. In ihnen wurden sehr unterschiedliche Dinge verhandelt: Not und Verschwendung, die vermeintliche Korruption republikanischer Politiker, nicht zuletzt auch die Exzesse eines spekulativen Kapitalismus, wie er sich in der Inflation tatsächlich gezeigt hatte, der nun aber primär als „jüdischer Kapitalismus“ karikiert und attackiert wurde. War dieser Kapitalismus getilgt? Solche Fragen tauchten nach 1930 erneut auf. Antisemitismus und Antikapitalismus, seit jeher verschwistert, entwickelten nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise eine fatale Brisanz. Im Raum stand die Frage, ob die konjunkturelle Scheinblüte die nach wie vor bestehenden strukturellen wirtschaftlichen Probleme verdeckt hatte. Musste die mit der Währungsreform begonnene, möglicherweise aber nicht radikal genug durchgeführte Austeritätspolitik unter den Bedingungen der Weltwirtschaftskrise zu Ende geführt werden?75
Der Enthusiasmus und Aufbruchsgeist der Revolutionszeit war 1924 verflogen. Nüchternheit und ein neuer Realitätssinn machten sich breit. Putsche und Aufstände waren erfolglos geblieben, die Republik hatte sich erfolgreich als politische Herrschaftsform behauptet, und alles sah danach aus, als ob Republikaner fest im Sattel säßen. Politik, Militär und Bürokratie hatten den Ausnahmezustand höchst variantenreich eingeübt, sei es in der Bekämpfung sozialer und politischer Unruhen, wirtschaftlicher und fiskalischer Notstände oder sei es im Republikschutz. Damit waren wichtige, handlungspraktische Präzedenzfälle etabliert worden, die unter den veränderten wirtschaftlichen politischen Bedingungen nach 1930 erneut von Bedeutung wurden und sich am Ende gegen die Republik richteten.
Nicht leicht zu bestimmen sind die mittel- und langfristigen psychologischen Folgewirkungen der Inflation. Dazu zählt die bis in die heutigen Tage mobilisierbare Inflationsangst der Deutschen mit wiederkehrenden Verweisen auf das Jahr 1923. Dazu zählt auch die These des Schriftstellers Elias Canetti, dass ohne die Inflation als „Massenphänomen“ mit ihren schwerwiegenden Entwertungsvorgängen „ein Verbrechen von solchen Ausmaßen“ wie während der NS-Zeit unvorstellbar gewesen sei: „Man hätte sie schwerlich so weit bringen können, wenn sie nicht wenige Jahre zuvor eine Inflation erlebt hätten, bei der die Mark bis auf ein Billionstel ihres Wertes sank. Es ist diese Inflation als Massenphänomen, die von ihnen auf die Juden abgewälzt wurde“.76