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1. Eine revolutionäre Verfassung
ОглавлениеDie Verfassung war das Produkt einer Revolution. Die Revolution von 1918/19 war in erster Linie eine Ablehnung des Krieges, die wiederum eine Ablehnung der politischen Strukturen, die zum Krieg geführt hatten, beinhaltete. Nach der Reichsverfassung von 1871 agierten die im Bundesrat versammelten Staatsregierungen der einzelnen Bundesstaaten, ob von Erbmonarchien oder – wie im Fall von Hamburg, Lübeck und Bremen – von bürgerlichen Eliten gebildet, als kollektiver Herrscher, wobei der preußische König die führende Rolle spielte und als Kaiser fungierte. Sie waren diejenigen, denen die Staatsführung oblag. Jedoch hatten sie sich der Verantwortung entzogen, während des Krieges dem Militär die Steuerung von Gesellschaft und Wirtschaft überlassen und mit Zustimmung des alten Reichstags Arbeiterrechte und -schutz sowie das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit ausgesetzt. Der Frieden bedeutete nicht nur ein Ende des Krieges, sondern auch ein Ende der kriegsbedingten staatlichen Kontrolle der Gesellschaft, ein Ende der Anstrengungen der Generäle Hindenburg und Erich Ludendorff im Generalstab, die Arbeit zu militarisieren, wirtschaftliche Ressourcen zu mobilisieren und beide der Kriegsproduktion einzuverleiben. Obwohl der Reichstag das Ausmaß der vom Generalstab geforderten direkten Macht über die Gesellschaft begrenzte, wurde der militärische Einfluss auf den Alltag während des Krieges zur Tatsache. Die Soldaten und Arbeiter, die Anfang November 1918 die Revolution begannen, waren ganz sicher nicht daran interessiert, die zentrale, militarisierte Kontrolle über die Gesellschaft in der Richtung zu erhöhen, der Lenin schließlich folgen würde (mit Bewunderung für die Errungenschaften von Hindenburg und Ludendorff).6 Es kann daher nicht überraschen, dass die unmittelbaren Forderungen der ersten Soldatenräte von 1918 die Aussetzung kriegsbedingter Verordnungen betrafen, um grundlegende Bürgerrechte durchzusetzen: die Freilassung politischer Gefangener und die Gewährleistung der Rede- und Pressefreiheit. Es ist ebenfalls nicht überraschend, dass der Rat der Volksbeauftragten, ein kollektives Gremium, das in der ersten Phase der Revolution diktatorische Macht ausübte, am 12. November 1918 die Aussetzung des Belagerungszustandes, das Ende des Hilfsdienstgesetzes und die Einführung des Achtstundentages verkündete, nicht aber eine neue, sozialistische Republik.7 Frieden bedeutete einen Bruch mit dem alten Regime und seinen Maßnahmen während des Kriegszustands, nicht jedoch die Forderung nach einer bestimmten Art sozialer Revolution.
Über den Frieden hinaus ging es bei der Revolution offensichtlich auch um größere politische Teilhabe, was bedeutete, den Ausschluss vieler Arbeiter und der Frauen von der Teilnahme an lokalen, bundesstaatlichen und nationalen Wahlen zu beenden. Die Verfassung von 1871, die auf den in den einzelnen Bundesstaaten geltenden Systemen ungleichen Wahlrechts basierte, verlor am 9. November 1918 ihre Gültigkeit. Auf der Ebene der Bundesstaaten endete die Herrschaft der einzelnen Monarchen und damit der Verfassungen, welche die Existenz dieser Monarchen voraussetzten. Ohne seine Landesfürsten hörte der Bundesrat auf zu existieren. Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, der zum (unrechtmäßigen – oder eher revolutionären) Reichskanzler ernannt wurde und nach dem 10. November de facto führendes Mitglied des sechsköpfigen Rates der Volksbeauftragten war, löste den alten Reichstag auf, der vor 1914 auf der Grundlage von Gesetzen gewählt worden war, welche die Vertretung der Arbeiter systematisch reduzierten und Frauen das Wahlrecht verweigerten.8 Die Entscheidung, vorgezogene Wahlen für eine verfassungsgebende Nationalversammlung abzuhalten, wurde vom Rat der Volksbeauftragten einschließlich der Vertreter der USPD und auch vom Reichsrätekongress in seiner Sitzung vom 16. bis 21. Dezember getroffen. Es handelte sich um den Beschluss einer revolutionären Versammlung zur Einbeziehung aller Bürgerinnen und Bürger, nicht nur der Männer der Arbeiterklasse, in den Prozess der Bildung einer neuen Ordnung, eine Entscheidung für Pluralismus und Parteien. Es war, kurz gesagt, eine Entscheidung dafür, „einen entwicklungsfähigen Rahmen für das Experiment der Demokratie“ zu schaffen, der radikal inklusiv war.9
Lange bevor die Nationalversammlung zusammentrat, um die neue Verfassung auszuarbeiten, hatte die Revolution von 1918/19 eine klare Entscheidung für eine demokratische Regierung getroffen, die dem alten Regime mit seinen Bundesstaaten, seinen Monarchen, dem Stellenwert des Militärs und seinen ungleichen Repräsentationssystemen eine Absage erteilte. Die Revolution hatte eine Entscheidung für die Rechte der Frauen und der Arbeiter, aber auch für die Rechte aller anderen Mitglieder der Nation sowie für die Selbstbestimmung der deutschen Nation als Ganzes gefällt. Oder, wie es in Artikel 1 der Verfassung heißt: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Die Revolutionsführung handelte in logischer Konsequenz, indem sie sich selbst das Recht vorenthielt, die neue Rechtsordnung im Namen des Volkes zu schaffen, die Verstaatlichung der Grundstoffindustrie per revolutionärem Dekret aufschob und Neuwahlen forderte, damit die Nation sich selbst vertreten könne. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen, Männer und Frauen, stimmte für die Parteien, die eine inklusive demokratische Republik und parlamentarische Demokratie befürworteten: fast 40 Prozent für die Sozialdemokraten, 19,7 Prozent für die katholische Zentrumspartei und 18,5 Prozent für die linksliberale Deutsche Demokratische Partei (DDP), eine überwältigende Mehrheit von 76,1 Prozent. 7,6 Prozent gingen an die linke USPD, sodass die traditionelle Rechte, die das alte Regime hätte stützen können, nur etwas mehr als 15 Prozent der Stimmen erhielt. Diese Prozentsätze bestimmten die Zahl der Delegierten in der Nationalversammlung, die in Weimar tagte – der Heimat des deutschen Klassizismus, wichtiger jedoch: weit entfernt von der anhaltenden Gewalt in Berlin. Frauen durften nun zum ersten Mal wählen. Zwar waren Frauen sowohl bei den Kandidaten als auch bei den Delegierten unterrepräsentiert, dennoch waren 37 der 423 Parlamentsmitglieder Frauen, verteilt auf alle großen Parteien. Aufgabe der Nationalversammlung war es, in der Verfassung festzulegen, wie die deutsche Bevölkerung ihre politische Vertretung gestalten würde.10
Während sie diese Macht formell innehatten, war den Mitgliedern der Nationalversammlung jedoch bewusst, dass viele grundlegende Entscheidungen bereits getroffen waren: für die parlamentarische Demokratie, für Grundrechte, für eine begrenzte Staatsgewalt und für ein stärker dezentralisiertes politisches System beispielsweise. Eine Minderheit des rechten Flügels, darunter die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Deutsche Volkspartei (DVP), erkannte der Revolution und damit der Demokratie selbst die Legitimität ab; auf der extremen Linken wiederum kritisierten die Unabhängigen Sozialisten (USPD), dass die Revolution nicht weit genug gegangen sei. Vertreter der sogenannten Weimarer Koalition (Sozialdemokraten, die Linksliberalen der Deutschen Demokratischen Partei und die Zentrumspartei) erarbeiteten Kompromisspositionen, um ein Dokument zu erstellen, dem eine Mehrheit der Delegierten zustimmen würde. Die Nationalversammlung nahm die Weimarer Verfassung mit 262 zu 75 Stimmen und damit mit überwältigender Mehrheit an. 84 Abgeordnete waren jedoch bei der Abstimmung nicht anwesend. Die Gewalt vom Frühjahr 1919, als die Übergangsregierung die Bewegung der radikalen Räte gewaltsam niederschlug, hatte viele Abgeordnete der Linken der parlamentarischen Versammlung entfremdet.11 Diese etablierte natürlich keine Räteregierung in Deutschland, doch ließ sie Raum für die Beteiligung von Räten (in welcher Form auch immer) im politischen System. Zwar beseitigte sie nicht das Problem des Militarismus und der staatlichen Aggression in Deutschland, aber sie legte fest, dass das Militär unter der Kontrolle der gewählten Volksvertreter stand. Sie versuchte nicht, eine neue Gesellschaftsordnung durchzusetzen, doch bereitete sie zukünftigen Entscheidungen der deutschen Bevölkerung über ihre Gesellschaftsordnung den Weg. Sie war in dem Sinne revolutionär, dass sie klar festschrieb, wie das Volk sich selbst regieren würde, insbesondere im Vergleich zur Verfassung von 1871, die darauf ausgerichtet schien, die Autorität zu verdunkeln und die Volksvertretung zu lähmen. Ihre Vorstellung von der Zukunft enthielt auch eine Art republikanisches Pathos, das Gefühl, dass die jeweilige Entscheidungsfindung vergänglich ist und nie von Dauer sein kann: Das Volk musste sich seine eigene Zukunft auf eine Art und Weise geben, welche die Gründer nicht vorhersehen konnten.12 So bemerkte Hugo Preuß, der deutsch-jüdische Jurist und Demokrat, der an dem gesamten Prozess der Verfassungsgebung maßgeblich beteiligt war: „Die Reichsverfassung der Deutschen Republik vom 11. August 1919 ist der staatsrechtliche Niederschlag der Revolution vom 9. November 1918“.13