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4. Die Umsetzung liberaler Rechte in einer sozialen Epoche

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Grundrechte spielten in den ersten Entwürfen der Weimarer Verfassung keine große Rolle. Minimale Aussagen über die Gleichheit vor dem Gesetz und die Religionsfreiheit im ersten Entwurf vom 3. Januar 1919 wurden im zweiten Entwurf vom 20. Januar um die Freiheit der Wissenschaft, der Presse, der Versammlungs- und Eigentumsfreiheit sowie auf das Prinzip der persönlichen Freiheit erweitert – alles liberale Grundrechte, die von den demokratischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts ausgingen. Hugo Preuß’ Vernachlässigung der Rechtefrage war in diesem Kontext verständlich. Erstens zählte die Verfassung von 1871, die bereits demokratische Elemente enthielt, die Rechte nicht auf, sondern ließ sie durch die ordentliche Gesetzgebung artikulieren – wie es auch tatsächlich geschah. Zweitens und damit zusammenhängend war der demokratische Gesetzgeber durch das Gesetz gewissermaßen ohnehin die letzte Entscheidungsinstanz über die Grundrechte – eine Position, die von den Gründern der US-Republik geteilt wurde. Drittens gab es in Deutschland keine Tradition der gerichtlichen Überprüfung von Gesetzen auf ihre Konformität mit den Grundrechten, während eine solche gerichtliche Überprüfung zu dieser Zeit in den Vereinigten Staaten nur in begrenztem Umfang existierte (wie der sehr begrenzte Schutz von Minderheiten und insbesondere Afroamerikanern vor staatlichen Gesetzen während des gesamten Jahrhunderts nach dem Bürgerkrieg der Jahre 1861 bis 1865 zeigt). Zudem war Preuß der Ansicht, dass die Entscheidung, sich auf die Grundrechte zu konzentrieren, die Revolution von 1848 untergraben hatte, und wollte nun ein ähnliches Resultat vermeiden.39

Ebenso wie der Prozess der Verfassungsgebung das Verhältnis zwischen Staat und Ländern veränderte, so beeinflusste er auch den Diskurs über die Grundrechte. Im Frühjahr 1919 führte der Sozialreformer Friedrich Naumann (DDP) in den Sitzungen des Verfassungsausschusses eine Art Sozialkatechismus in die Debatte ein. Es ging ihm darum, über die liberalen Individualrechte hinauszugehen und die nationale Gemeinschaft nach dem Krieg zusammenzuführen. Naumanns Intervention muss im internationalen Kontext betrachtet werden. Im Jahr 1917 ging die neue, revolutionäre mexikanische Verfassung sehr detailliert auf die sozialen und gemeinschaftlichen Rechte ein, welche die liberalen Grundrechte ergänzten. 1918 versuchten die sowjetische „Deklaration der Rechte des arbeitenden und ausgebeuteten Volkes“ und die im selben Jahr verabschiedete russische Verfassung die Prinzipien des liberalen Konstitutionalismus vollständig zu ersetzen, indem sie die individuellen Rechte durch Rechte der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter ersetzten. Sozialreformer des späten Kaiserreiches – wie Naumann, aber auch jene auf der Linken und der Rechten – versuchten soziale Maßnahmen einzuführen, die soziale und gemeinschaftliche Normen innerhalb der liberalen Moderne bewahren sollten. Auch ohne Naumanns Einlassungen ist es wahrscheinlich, dass irgendeine Form von sozialen und gemeinschaftlichen Rechten in die Verfassung aufgenommen worden wäre.40

Der zweite große Abschnitt der Verfassung, „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“, wurde im Frühjahr 1919 vom Verfassungsausschuss ausgearbeitet. Delegierte mehrerer Parteien nahmen an dem Entwurfsprozess teil, darunter auch von Parteien des rechten Flügels, welche die Revolution ablehnten. Das Ergebnis war eine Sammlung von 57 Artikeln, die jeweils ein oder mehrere individuelle Rechte enthielten und in fünf Abschnitte gegliedert waren: Rechte der Einzelperson, Gemeinschaftsleben (einschließlich Familie, Jugend und öffentlicher Dienst), Religionsfreiheit und religiöse Organisationen, Bildung und Schulen sowie Wirtschaftsleben. Durch die Einbeziehung sowohl von Rechten als auch von Pflichten versuchte der Abschnitt die Werte und Normen zu beschreiben, die Deutschland zu einer Zeit zusammenhalten sollten, als interne Konflikte und die Herausforderungen einer militärischen Niederlage die Nation belasteten. Kurz gesagt, der Abschnitt sollte dazu beitragen, die Nation zu integrieren, wie es der konservative Jurist Rudolf Smend mit seinem berühmten Begriff ausdrückte.41

„Integration“ oder die Schaffung einer organischen, vereinten Nation allein wird der Bedeutung der Grundrechte jedoch nicht gerecht. Die Rechtstradition, gegen die Smend rebellierte, betonte, dass Grundrechte Einzelpersonen und Minderheiten schützten. Der Demokrat Richard Thoma, einer der angesehensten Experten auf dem Gebiet des Polizeirechts, behauptete im Gegensatz zu Smend die Bedeutung selbst scheinbar schwacher Grundrechte. Das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung zum Beispiel schien insofern schwach, als es dem Gesetzgeber erlaubte, Bedingungen festzulegen, unter denen der Staat in die Wohnung eindringen konnte. Doch diese Rechte beschränkten das Vorgehen der Polizei auf das, was der Gesetzgeber ausdrücklich erlaubte. Dieses Schlüsselprinzip der Rechtsstaatlichkeit verbot die Art von unbegrenztem Ermessensspielraum, über den die Exekutivbehörden später im Nationalsozialismus verfügen sollten. Andere Grundrechte, so Thoma, waren zwar zahnlos, forderten den Gesetzgeber aber in Wirklichkeit auf, einen neuen Rechtsrahmen zu schaffen, zum Beispiel neue Arbeitsgesetze. Die wichtigsten Grundrechte konnten nur durch eine Verfassungsänderung eingeschränkt werden. In einigen begrenzten Fällen konnten die Grundrechte sogar das bestehende Recht außer Kraft setzen, wie dies zum Beispiel bei Gesetzen der Fall war, die Frauen von bestimmten Stellen im öffentlichen Dienst ausschlossen.42 Für Thoma und andere waren die Grundrechte nicht auf das Ziel der nationalen Integration reduzierbar.

Der Begriff „Integration“ schien auf einen einheitlichen Katalog nationaler Werte hinzudeuten, aber die in der Verfassung umrissenen Rechte und Pflichten waren alles andere als das, wie Kritiker bemerkten. Die Verfassung enthielt viele Kompromisse. Doch in einer Gesellschaft, die in so vieler Hinsicht gespalten war, konnte es kaum anders sein. Die Verfassung war, wie der katholische Jurist und Historiker Konrad Beyerle später schrieb, ein Vertrag, der einen auf Frieden und Verständigung zwischen den verschiedenen Gruppen der deutschen Gesellschaft abzielenden Staat schuf.43 Artikel 153 etwa garantierte das Privateigentum und beschrieb zugleich die Bedingungen für seine Enteignung; Artikel 119 behauptete, dass die Familie die Grundlage des Gemeinschaftslebens sei, während Artikel 121 verlangte, dass die Gesetzgebung für die körperliche, seelische und soziale Entwicklung außerehelich geborener Kinder die gleichen Bedingungen vorsieht wie für Kinder in Familien mit einem Ehepaar. Eine der bekannteren Kritiken an der Weimarer Verfassung, die sowohl von der Rechten als auch von der Linken vorgebracht wurde, war, dass ihr Rechtssystem aus „dilatorischen Formelkompromissen“ bestehe, wie Carl Schmitt es formulierte, also aus Kompromissen, die sich einer klaren Entscheidung über die Grundwerte oder die Form der Gesellschaft entzogen. Diese Kritik – die, wie das Beispiel von Schmitts Schüler Otto Kirchheimer zeigt, auch von links kommen konnte – implizierte, dass die Verfassung ein Übergangsdokument sei, bis eine vermeintlich tiefergehende und legitimere Entscheidung der Bevölkerung existiere, also eine „echte“ Verfassung: das reale Prinzip der Einheit oder Homogenität der Nation.44 Aber waren diese Grundrechte tatsächlich widersprüchlich? Das Eigentum konnte zum Beispiel als Prinzip garantiert sein, doch eröffnete der Artikel gleichzeitig die Möglichkeit einer Vergesellschaftung nach einem Verfahren, das eine sorgfältige Entscheidungsfindung gewährleisten und dazu beitragen würde, willkürliches Handeln auszuschließen. Der Balanceakt von Artikel 153 zwang den Gesetzgeber mit anderen Worten, Kosten und Nutzen einer Vermögensentscheidung zu bedenken. Die an der Verfassung beteiligten Parteien konnten sich zweifellos über die Bedeutung der Familie einigen (abgesehen von einer Handvoll Radikaler gab es in Deutschland keine politische Bewegung, die auf die Abschaffung der Familie abzielte), während sie gleichzeitig darauf bestanden, den Staat daran zu hindern, der Entwicklung und der Zukunft von unehelich geborenen Kindern zu schaden. Die Gewährleistung sozialer Institutionen schloss die Anerkennung anderer gesellschaftlicher Realitäten nicht aus; Kompromisse waren möglich und nicht lediglich hinhaltend oder formal.

Die Juristen sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten waren sich darüber einig, dass die Verfassung bestimmte grundlegende Institutionen wie Ehe, Familie und Eigentum bewahren und schützen müsse. Selbst der republikanische Jurist Gerhard Anschütz, der vielleicht wichtigste Kommentator des Weimarer Verfassungsrechts und Verfechter einer engen Textauslegung der Gesetze, stimmte dieser breiteren Lesart der Grundrechte als Verteidigung eines minimalen Grundauftrags der Institutionen, einschließlich des Reichstags und der Länder, zu.45 Er und andere Demokraten erkannten jedoch auch das solchen Lesarten immanente Risiko, der Möglichkeit, die Verfassung in wesentliche und unwesentliche Teile aufzuspalten und so eine Auslegung zu erlauben, nach der die tiefere Bedeutung der Verfassung den „reinen“ Verfassungstext übertrumpft. So war etwa die Familie vielleicht die eigentliche, wesentliche Institution, die geschützt werden sollte, und deshalb waren außerehelich geborene Kinder zweitrangig und nicht in gleicher Weise geschützt. Oder vielleicht war das (geteilte) Parlament tatsächlich ein unwesentlicher Teil der Verfassung im Vergleich zum (einheitlichen) Präsidenten, oder das in Artikel 159 artikulierte Recht der Arbeitnehmer, Gewerkschaften zu organisieren, war kein wesentliches Recht. Konrad Beyerle, der an der Ausarbeitung der Grundrechte mitgewirkt hatte, warnte davor, dass die Trennung von wesentlichen Rechten und scheinbar unwesentlichen Rechten dem Versuch gleichkäme, die Grundrechte „in den Augen der Nation zu entwerten“46 und die Vorstellung zu verwerfen, dass sich Menschen unterschiedlicher Ansichten zusammenfinden können, um ein Gemeinwesen zu gründen.

Die Suche nach Werten und Institutionen in den Grundrechten konnte daher antipluralistische und sogar antidemokratische Auswirkungen haben. Konservative Richter konnten zum Beispiel ihre eigenen Werte zur Grundlage ihres Urteils machen, um die repräsentative Demokratie einzuschränken und dem entgegenzuwirken, was viele als „Parlamentsabsolutismus“ bezeichneten, ein Ausdruck, der bereits 1919 ein Schlüsselbegriff gewesen war. Die Debatte über die Auslegung des Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 109) veranschaulicht, was bei diesen Rechtsdebatten auf dem Spiel stand. Die traditionelle Auslegung war dabei von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Rechtsstaatlichkeit und des Rechtsstaates: Gesetze galten formell für alle, die ihnen unterstanden, gleichermaßen. Die Formalität des Gesetzes erlaubte es dem Gesetzgeber, zwischen Gruppen zu unterscheiden, etwa zwischen Männern und Frauen im Familienrecht oder zwischen Hausangestellten und deren Arbeitgebern. Nach der traditionellen Auslegung galt beispielsweise ein Gesetz, das einen Mord definiert, für Herrn und Diener gleichermaßen, oder, in einem weniger wahrscheinlichen Fall, würde ein Gesetz, das die Pflichten eines Hausdieners definiert, ebenso für einen Millionär gelten, der als Hausdiener arbeitete. Das Schlüsselprinzip war, dass die Rechtsstaatlichkeit Unterscheidungen außerhalb der Gesetzesvorschriften selbst ausschloss. Kritiker beharrten jedoch darauf, dass das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz eine tiefere Bedeutung habe: Es erfordere, dass Gesetze mit einer höheren Gerechtigkeit in Einklang stehen müssten. Daher erfordere die Ungleichheit der Bedingungen eine Ungleichbehandlung als Gerechtigkeitsprinzip: So unterscheide sich das Recht für Männer beispielsweise von dem für Frauen, und das aristotelische Prinzip, jedem eine angemessene Gerechtigkeit („Jedem das Seine“) zu gewähren, müsse als Leitsatz der Legislative gelten.

Dieses Argument wurde wichtig, als der Staatsgerichtshof 1925 erwog, Gesetze, welche die Hyperinflationskrise gelöst hatten, aufzuheben, weil sie als ungerecht gegenüber Rentenempfängern angesehen wurden. Es wurde 1925 vom späteren Richter des westdeutschen Bundesverfassungsgerichts Gerhard Leibholz nachdrücklich vorgetragen. Er rechtfertigte die gerichtliche Überprüfung von Rechtsakten, um willkürlichen Entscheidungen vorzubeugen, die bestimmte Gruppen ungerecht behandelten. Auf der einen Seite plädierte Leibholz dafür, dass die Richter die Macht des Gesetzgebers einschränken sollten, wenn dieser drohte, die ursprüngliche, in der Verfassung verankerte Macht des Volkes zu usurpieren. Auf der anderen Seite bemerkten Kritiker jedoch, das Argument untergrabe die Macht des gewählten Parlaments, Entscheidungen auf der Grundlage von Werten zu treffen, und übertrage diese Macht den Richtern, wodurch eine Art säkularer Klerus über die demokratischen Gesetzgeber gestellt werde.47 Wahrscheinlich ist es zutreffend, dass diese Episode antidemokratische Tendenzen unter den Konservativen in der Weimarer Republik offenbarte. Aber wie so viele andere Verfassungsdebatten dieser Zeit warf sie auch eine grundlegende Frage für jede Demokratie auf: Wann untergräbt eine demokratisch geschaffene Gesetzgebung die Regeln und Grundwerte der Demokratie selbst?

Aufbruch und Abgründe

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